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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Zwei philosophische Systeme

nimmt, wenn er füllt, als die buchstäblich harte Wirklichkeit das allergewisseste.
Und dennoch macht ihn die Erfahrung im Laufe der Zeit auch daran irre,
wenn er zur Klasse der Denker oder Grübler gehört. Er bemerkt zunächst, daß
diese harten und festen Dinge, die ihm auf den ersten Blick unveränderlich zu
sein schienen, in beständiger Umwandlung begriffen sind. Von der geheimnis¬
vollen Anziehungskraft eines Samenkorns beherrscht, verwandelt sich die branne
Erde in weiche grüne Blätter und in hartes weißes Holz, der ekelhafte Kot in
duftende Blüten und appetitliche Früchte, und unter Umständen verwandeln
sich alle diese schönen Dinge wieder in Erde zurück. Metalle und Steine
schmelzen im Feuer und verflüchtigen sich bei einem gewissen Hitzegrade sogar
zu lnftartigem Gas, und im Fortschritt unsrer Naturcrlenntnis erfahren wir,
daß unsre ganze Erde ursprünglich ein Gasball gewesen ist, in, auf und an
dem wir nichts von dem, was uns als das Wesentlichste an der Wirklichkeit
erscheint, wahrgenommen haben würden, wenn wir zugleich mit ihm Hütten da
sein können. Gleichzeitig mit der vermeintlichen Körperlichkeit hat sich aber
auch der ganze Chor der Eigenschaften der Körper verflüchtigt. Gehört doch
keine ungewöhnliche Vcrstaudcskraft und kein sehr tiefes Nachdenken dazu, ein¬
zusehen, daß die Farben nicht Eigenschaften der Dinge, sondern nur Bestand¬
teile unsers Bewußtseinsinhalts sind. Nicht schon dieses macht uns an der
ünßern Wirklichkeit der Farbe" irre, daß sich z. B. das schwarze Eisen uuter
der Einwirkung der Luft in eine rotbraune Erde verwandelt, oder daß die
Seifenblase in allen Farben schillert, sondern die Erwägung, daß die Farbe
etwas Gesehenes ist, daß es also keine Farbe geben kann, die niemand sieht,
und daß die Worte rot und blau gar keinen Sinn haben ohne eine mit Augen
ausgerüstete bewußte Seele; würm alle organischem Wesen augenlos, so gude
es keine Farben in der Welt, ebenso wenig, wenn zwar Angen vorhanden
würm, aber kein bewußter Geist, dem sie Farbenwahrnehmnungen vermittelten.
Ganz dasselbe wie vom Vlamen und vom Noten gilt min auch vom wohl¬
klingenden Ton, von den Melodien und Harmonien, vom Süßen und vom
sauern, vom Rosenduft und vom Gestank der Desinfektionsmittel, vom Warmen
und vom Kalten, vom Harten und vom Weichen; alle diese Bestandteile des
Bewußtseins können eben nur in einem Bewußtsein vorkommen und haben
ohne ein solches weder Sinn noch Dasein.

So hat sich denn der denkende Geist von der Stufe des naiven Realis¬
mus auf die des Kritizismus hinaufgearbeitet und die Eigenschaften der Dinge
als bloße Erscheinungen seines eignen Bewußtseins erkannt. Von den Dingen
außer ihm weiß er nun nichts mehr; er weiß weder, was sie sind, noch ob
sie überhaupt sind. Kühne Geister machen nun kurzen Prozeß; sie entscheiden: es
giebt keine Dinge außer mir, es giebt keine Außenwelt; was ich so zu nennen
pflege, das ist ein Erzeugnis meines Ich, meiner Seele, meines Geistes, oder
Mie ich das geheimnisvolle Wesen nennen mag, das ich mir als den Träger


Zwei philosophische Systeme

nimmt, wenn er füllt, als die buchstäblich harte Wirklichkeit das allergewisseste.
Und dennoch macht ihn die Erfahrung im Laufe der Zeit auch daran irre,
wenn er zur Klasse der Denker oder Grübler gehört. Er bemerkt zunächst, daß
diese harten und festen Dinge, die ihm auf den ersten Blick unveränderlich zu
sein schienen, in beständiger Umwandlung begriffen sind. Von der geheimnis¬
vollen Anziehungskraft eines Samenkorns beherrscht, verwandelt sich die branne
Erde in weiche grüne Blätter und in hartes weißes Holz, der ekelhafte Kot in
duftende Blüten und appetitliche Früchte, und unter Umständen verwandeln
sich alle diese schönen Dinge wieder in Erde zurück. Metalle und Steine
schmelzen im Feuer und verflüchtigen sich bei einem gewissen Hitzegrade sogar
zu lnftartigem Gas, und im Fortschritt unsrer Naturcrlenntnis erfahren wir,
daß unsre ganze Erde ursprünglich ein Gasball gewesen ist, in, auf und an
dem wir nichts von dem, was uns als das Wesentlichste an der Wirklichkeit
erscheint, wahrgenommen haben würden, wenn wir zugleich mit ihm Hütten da
sein können. Gleichzeitig mit der vermeintlichen Körperlichkeit hat sich aber
auch der ganze Chor der Eigenschaften der Körper verflüchtigt. Gehört doch
keine ungewöhnliche Vcrstaudcskraft und kein sehr tiefes Nachdenken dazu, ein¬
zusehen, daß die Farben nicht Eigenschaften der Dinge, sondern nur Bestand¬
teile unsers Bewußtseinsinhalts sind. Nicht schon dieses macht uns an der
ünßern Wirklichkeit der Farbe» irre, daß sich z. B. das schwarze Eisen uuter
der Einwirkung der Luft in eine rotbraune Erde verwandelt, oder daß die
Seifenblase in allen Farben schillert, sondern die Erwägung, daß die Farbe
etwas Gesehenes ist, daß es also keine Farbe geben kann, die niemand sieht,
und daß die Worte rot und blau gar keinen Sinn haben ohne eine mit Augen
ausgerüstete bewußte Seele; würm alle organischem Wesen augenlos, so gude
es keine Farben in der Welt, ebenso wenig, wenn zwar Angen vorhanden
würm, aber kein bewußter Geist, dem sie Farbenwahrnehmnungen vermittelten.
Ganz dasselbe wie vom Vlamen und vom Noten gilt min auch vom wohl¬
klingenden Ton, von den Melodien und Harmonien, vom Süßen und vom
sauern, vom Rosenduft und vom Gestank der Desinfektionsmittel, vom Warmen
und vom Kalten, vom Harten und vom Weichen; alle diese Bestandteile des
Bewußtseins können eben nur in einem Bewußtsein vorkommen und haben
ohne ein solches weder Sinn noch Dasein.

So hat sich denn der denkende Geist von der Stufe des naiven Realis¬
mus auf die des Kritizismus hinaufgearbeitet und die Eigenschaften der Dinge
als bloße Erscheinungen seines eignen Bewußtseins erkannt. Von den Dingen
außer ihm weiß er nun nichts mehr; er weiß weder, was sie sind, noch ob
sie überhaupt sind. Kühne Geister machen nun kurzen Prozeß; sie entscheiden: es
giebt keine Dinge außer mir, es giebt keine Außenwelt; was ich so zu nennen
pflege, das ist ein Erzeugnis meines Ich, meiner Seele, meines Geistes, oder
Mie ich das geheimnisvolle Wesen nennen mag, das ich mir als den Träger


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/27>, abgerufen am 26.06.2024.