Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Handelsverträge und die Flottenfrage

Anspruch nehmen kann, mithin das Ausland für die Deckung der not¬
wendigsten Bedürfnisse herangezogen werden muß, indem mau die landwirt¬
schaftliche Mehrarbeit fremder Lander über den eignen Bedarf hinaus durch
industrielle, kommerzielle und wissenschaftliche Mehrarbeit der deutscheu Be¬
völkerung vergütet." Mit Recht weist Böhmert Weiler angesichts des "von
der Studirstube aus konstruirten Etagenbaus" Oldenbergs darauf hin, daß
heutzutage alle Kulturstaaten in vielen Beziehungen wirtschaftlich auf einander
angewiesen und von dem Entwicklungsgange der ganzen Weltwirtschaft abhängig
seien, und daß die Notwendigkeit des gegenseitigen Güteraustauschs und der
Hilfeleistung kein Unglück, sondern ein Segen für die Menschheit sei. Mit
Recht fragt er: "Kann denn die sogenannte Stütze der Landwirtschaft auch
bei schlechten Ernten für ein Land ausreichen? Sind denn nicht auch rein
landwirtschaftliche Gegenden und Länder oft von Hungersnot betroffen und
noch schwerer heimgesucht worden als reine Jndustriegegenden, die sich durch
Allstausch von Fabrikaten leicht aus allen Weltteilen Nahrungsmittel beschaffen
können?" Mit Recht erinnert er daran, "daß ganz ähnliche Befürchtungen
vor Verarmung und Verelendung des Menschengeschlechts infolge der industriellen
Entwicklung und der Bevölkerungszunahme schou vor hundert Jahren geäußert
worden sind, und daß sich gerade im neunzehnten Jahrhundert die Lage der
arbeitenden Klassen durch Erhöhung der Löhne, Sammlung von Ersparnissen,
Sinken des Zinsfußes und eine Unzahl von nützlichen Erfindungen und Fort¬
schritten der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels ganz offenkundig
gebessert hat." "Unsre erst zur Hälfte bewohntes?) und kultivirte Erde -- fügt
er in der Hauptsache wohl mit Recht hinzu -- stellt dem Menschengeschlecht
immer neue Schätze und Früchte des Bodeus und Kräfte der Natur zur Ver¬
fügung. Der drohende Mangel kann mithin immer leichter dnrch Fortschritte
der Kultur und durch gemeinsame Anstrengung und Vorsorge der Menschen
überwunden werden. Wenn wir uns auch hüten müssen, unsre Augen vor
zahlreichen Schattenseiten und Übelständen der industriellen Entwicklung zu
verschließen, so brauchen wir doch vor der Zukunft nicht ängstlich zu zittern.
Die Hanptgefahren der modernen Kultur bestehen nicht in dem uns auf¬
gedrungnen heilsamen Kampfe ums Dasein; sie liegen nicht auf dem wirt¬
schaftlichen, sondern auf dem sittlichen Gebiete." Alles das geht stark gegen
die in den akademisch gebildeten Kreisen herrschenden Anschauungen, aber ein
Geschlecht, das sür die darin enthaltenen Wahrheiten das Verständnis ver¬
loren hat, ist weder in Handelsvertragsfragen, noch in der Flvttenfrage die
richtige Lösung zu finden besonders befähigt, es kann eben auch diese Fragen
nur allzu leicht falsch oder gar nicht verstehen. Wer den isolirten Staat,
die isolirte Nationalwirtschaft verlangt oder doch als unausweichbar gegeben,
als für immer in der Welt zur Herrschaft gelangt betrachtet, der kaun als
Ziel der Handelsvertragspolitik nur die weitere Isolirung, die schärfere
Absperrung vom Verkehr mit dem Auslande im Auge haben und in der


Handelsverträge und die Flottenfrage

Anspruch nehmen kann, mithin das Ausland für die Deckung der not¬
wendigsten Bedürfnisse herangezogen werden muß, indem mau die landwirt¬
schaftliche Mehrarbeit fremder Lander über den eignen Bedarf hinaus durch
industrielle, kommerzielle und wissenschaftliche Mehrarbeit der deutscheu Be¬
völkerung vergütet." Mit Recht weist Böhmert Weiler angesichts des „von
der Studirstube aus konstruirten Etagenbaus" Oldenbergs darauf hin, daß
heutzutage alle Kulturstaaten in vielen Beziehungen wirtschaftlich auf einander
angewiesen und von dem Entwicklungsgange der ganzen Weltwirtschaft abhängig
seien, und daß die Notwendigkeit des gegenseitigen Güteraustauschs und der
Hilfeleistung kein Unglück, sondern ein Segen für die Menschheit sei. Mit
Recht fragt er: „Kann denn die sogenannte Stütze der Landwirtschaft auch
bei schlechten Ernten für ein Land ausreichen? Sind denn nicht auch rein
landwirtschaftliche Gegenden und Länder oft von Hungersnot betroffen und
noch schwerer heimgesucht worden als reine Jndustriegegenden, die sich durch
Allstausch von Fabrikaten leicht aus allen Weltteilen Nahrungsmittel beschaffen
können?" Mit Recht erinnert er daran, „daß ganz ähnliche Befürchtungen
vor Verarmung und Verelendung des Menschengeschlechts infolge der industriellen
Entwicklung und der Bevölkerungszunahme schou vor hundert Jahren geäußert
worden sind, und daß sich gerade im neunzehnten Jahrhundert die Lage der
arbeitenden Klassen durch Erhöhung der Löhne, Sammlung von Ersparnissen,
Sinken des Zinsfußes und eine Unzahl von nützlichen Erfindungen und Fort¬
schritten der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels ganz offenkundig
gebessert hat." „Unsre erst zur Hälfte bewohntes?) und kultivirte Erde — fügt
er in der Hauptsache wohl mit Recht hinzu — stellt dem Menschengeschlecht
immer neue Schätze und Früchte des Bodeus und Kräfte der Natur zur Ver¬
fügung. Der drohende Mangel kann mithin immer leichter dnrch Fortschritte
der Kultur und durch gemeinsame Anstrengung und Vorsorge der Menschen
überwunden werden. Wenn wir uns auch hüten müssen, unsre Augen vor
zahlreichen Schattenseiten und Übelständen der industriellen Entwicklung zu
verschließen, so brauchen wir doch vor der Zukunft nicht ängstlich zu zittern.
Die Hanptgefahren der modernen Kultur bestehen nicht in dem uns auf¬
gedrungnen heilsamen Kampfe ums Dasein; sie liegen nicht auf dem wirt¬
schaftlichen, sondern auf dem sittlichen Gebiete." Alles das geht stark gegen
die in den akademisch gebildeten Kreisen herrschenden Anschauungen, aber ein
Geschlecht, das sür die darin enthaltenen Wahrheiten das Verständnis ver¬
loren hat, ist weder in Handelsvertragsfragen, noch in der Flvttenfrage die
richtige Lösung zu finden besonders befähigt, es kann eben auch diese Fragen
nur allzu leicht falsch oder gar nicht verstehen. Wer den isolirten Staat,
die isolirte Nationalwirtschaft verlangt oder doch als unausweichbar gegeben,
als für immer in der Welt zur Herrschaft gelangt betrachtet, der kaun als
Ziel der Handelsvertragspolitik nur die weitere Isolirung, die schärfere
Absperrung vom Verkehr mit dem Auslande im Auge haben und in der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226507"/>
          <fw type="header" place="top"> Handelsverträge und die Flottenfrage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_666" prev="#ID_665" next="#ID_667"> Anspruch nehmen kann, mithin das Ausland für die Deckung der not¬<lb/>
wendigsten Bedürfnisse herangezogen werden muß, indem mau die landwirt¬<lb/>
schaftliche Mehrarbeit fremder Lander über den eignen Bedarf hinaus durch<lb/>
industrielle, kommerzielle und wissenschaftliche Mehrarbeit der deutscheu Be¬<lb/>
völkerung vergütet." Mit Recht weist Böhmert Weiler angesichts des &#x201E;von<lb/>
der Studirstube aus konstruirten Etagenbaus" Oldenbergs darauf hin, daß<lb/>
heutzutage alle Kulturstaaten in vielen Beziehungen wirtschaftlich auf einander<lb/>
angewiesen und von dem Entwicklungsgange der ganzen Weltwirtschaft abhängig<lb/>
seien, und daß die Notwendigkeit des gegenseitigen Güteraustauschs und der<lb/>
Hilfeleistung kein Unglück, sondern ein Segen für die Menschheit sei. Mit<lb/>
Recht fragt er: &#x201E;Kann denn die sogenannte Stütze der Landwirtschaft auch<lb/>
bei schlechten Ernten für ein Land ausreichen? Sind denn nicht auch rein<lb/>
landwirtschaftliche Gegenden und Länder oft von Hungersnot betroffen und<lb/>
noch schwerer heimgesucht worden als reine Jndustriegegenden, die sich durch<lb/>
Allstausch von Fabrikaten leicht aus allen Weltteilen Nahrungsmittel beschaffen<lb/>
können?" Mit Recht erinnert er daran, &#x201E;daß ganz ähnliche Befürchtungen<lb/>
vor Verarmung und Verelendung des Menschengeschlechts infolge der industriellen<lb/>
Entwicklung und der Bevölkerungszunahme schou vor hundert Jahren geäußert<lb/>
worden sind, und daß sich gerade im neunzehnten Jahrhundert die Lage der<lb/>
arbeitenden Klassen durch Erhöhung der Löhne, Sammlung von Ersparnissen,<lb/>
Sinken des Zinsfußes und eine Unzahl von nützlichen Erfindungen und Fort¬<lb/>
schritten der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels ganz offenkundig<lb/>
gebessert hat." &#x201E;Unsre erst zur Hälfte bewohntes?) und kultivirte Erde &#x2014; fügt<lb/>
er in der Hauptsache wohl mit Recht hinzu &#x2014; stellt dem Menschengeschlecht<lb/>
immer neue Schätze und Früchte des Bodeus und Kräfte der Natur zur Ver¬<lb/>
fügung. Der drohende Mangel kann mithin immer leichter dnrch Fortschritte<lb/>
der Kultur und durch gemeinsame Anstrengung und Vorsorge der Menschen<lb/>
überwunden werden. Wenn wir uns auch hüten müssen, unsre Augen vor<lb/>
zahlreichen Schattenseiten und Übelständen der industriellen Entwicklung zu<lb/>
verschließen, so brauchen wir doch vor der Zukunft nicht ängstlich zu zittern.<lb/>
Die Hanptgefahren der modernen Kultur bestehen nicht in dem uns auf¬<lb/>
gedrungnen heilsamen Kampfe ums Dasein; sie liegen nicht auf dem wirt¬<lb/>
schaftlichen, sondern auf dem sittlichen Gebiete." Alles das geht stark gegen<lb/>
die in den akademisch gebildeten Kreisen herrschenden Anschauungen, aber ein<lb/>
Geschlecht, das sür die darin enthaltenen Wahrheiten das Verständnis ver¬<lb/>
loren hat, ist weder in Handelsvertragsfragen, noch in der Flvttenfrage die<lb/>
richtige Lösung zu finden besonders befähigt, es kann eben auch diese Fragen<lb/>
nur allzu leicht falsch oder gar nicht verstehen. Wer den isolirten Staat,<lb/>
die isolirte Nationalwirtschaft verlangt oder doch als unausweichbar gegeben,<lb/>
als für immer in der Welt zur Herrschaft gelangt betrachtet, der kaun als<lb/>
Ziel der Handelsvertragspolitik nur die weitere Isolirung, die schärfere<lb/>
Absperrung vom Verkehr mit dem Auslande im Auge haben und in der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] Handelsverträge und die Flottenfrage Anspruch nehmen kann, mithin das Ausland für die Deckung der not¬ wendigsten Bedürfnisse herangezogen werden muß, indem mau die landwirt¬ schaftliche Mehrarbeit fremder Lander über den eignen Bedarf hinaus durch industrielle, kommerzielle und wissenschaftliche Mehrarbeit der deutscheu Be¬ völkerung vergütet." Mit Recht weist Böhmert Weiler angesichts des „von der Studirstube aus konstruirten Etagenbaus" Oldenbergs darauf hin, daß heutzutage alle Kulturstaaten in vielen Beziehungen wirtschaftlich auf einander angewiesen und von dem Entwicklungsgange der ganzen Weltwirtschaft abhängig seien, und daß die Notwendigkeit des gegenseitigen Güteraustauschs und der Hilfeleistung kein Unglück, sondern ein Segen für die Menschheit sei. Mit Recht fragt er: „Kann denn die sogenannte Stütze der Landwirtschaft auch bei schlechten Ernten für ein Land ausreichen? Sind denn nicht auch rein landwirtschaftliche Gegenden und Länder oft von Hungersnot betroffen und noch schwerer heimgesucht worden als reine Jndustriegegenden, die sich durch Allstausch von Fabrikaten leicht aus allen Weltteilen Nahrungsmittel beschaffen können?" Mit Recht erinnert er daran, „daß ganz ähnliche Befürchtungen vor Verarmung und Verelendung des Menschengeschlechts infolge der industriellen Entwicklung und der Bevölkerungszunahme schou vor hundert Jahren geäußert worden sind, und daß sich gerade im neunzehnten Jahrhundert die Lage der arbeitenden Klassen durch Erhöhung der Löhne, Sammlung von Ersparnissen, Sinken des Zinsfußes und eine Unzahl von nützlichen Erfindungen und Fort¬ schritten der Landwirtschaft, der Industrie und des Handels ganz offenkundig gebessert hat." „Unsre erst zur Hälfte bewohntes?) und kultivirte Erde — fügt er in der Hauptsache wohl mit Recht hinzu — stellt dem Menschengeschlecht immer neue Schätze und Früchte des Bodeus und Kräfte der Natur zur Ver¬ fügung. Der drohende Mangel kann mithin immer leichter dnrch Fortschritte der Kultur und durch gemeinsame Anstrengung und Vorsorge der Menschen überwunden werden. Wenn wir uns auch hüten müssen, unsre Augen vor zahlreichen Schattenseiten und Übelständen der industriellen Entwicklung zu verschließen, so brauchen wir doch vor der Zukunft nicht ängstlich zu zittern. Die Hanptgefahren der modernen Kultur bestehen nicht in dem uns auf¬ gedrungnen heilsamen Kampfe ums Dasein; sie liegen nicht auf dem wirt¬ schaftlichen, sondern auf dem sittlichen Gebiete." Alles das geht stark gegen die in den akademisch gebildeten Kreisen herrschenden Anschauungen, aber ein Geschlecht, das sür die darin enthaltenen Wahrheiten das Verständnis ver¬ loren hat, ist weder in Handelsvertragsfragen, noch in der Flvttenfrage die richtige Lösung zu finden besonders befähigt, es kann eben auch diese Fragen nur allzu leicht falsch oder gar nicht verstehen. Wer den isolirten Staat, die isolirte Nationalwirtschaft verlangt oder doch als unausweichbar gegeben, als für immer in der Welt zur Herrschaft gelangt betrachtet, der kaun als Ziel der Handelsvertragspolitik nur die weitere Isolirung, die schärfere Absperrung vom Verkehr mit dem Auslande im Auge haben und in der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/277>, abgerufen am 26.06.2024.