Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

geschoß kann eine entsprechend verbreiterte industrielle Etage vertragen. Weiter
als der landwirtschaftliche Unterbau reicht, kann aber die industrielle Etage
natürlich nicht fortgesetzt werden -- es sei denn, daß ihre Bewohnerschaft von
ausländischer Nahrung lebt und ihre Fabrikate gegen diese ausländische Nahrung
eintauscht, also Exportindustrie wird, die für das Ausland arbeitet und vom
Auslande lebt. Das industrielle Stockwerk wächst dann seitlich weiter in die
Lüfte hinaus, über fremden Boden hin, künstlich gestützt auf Pfeiler des aus¬
wärtigen Handels, die auf fremdem Grund und Boden ruhen, von dem es
seine Nahrung bezieht." Die Gefahr, die darin liege, sei die, daß die
wachsende cxportindustrielle Bevölkerung "in einer nicht fernen Zukunft weder
Absatz für ihre Produkte, noch Brot für ihre Existenz" finden werde, und
zwar drohe "eine plötzliche Brotlosigkeit, und ferner unter der Voraussetzung,
daß es noch eine Anzahl Jahrzehnte bis dahin Zeit habe, eine plötzliche Brot¬
losigkeit ungeheurer Massen." Was wir zu thun hätten, um diesen Gefahren
vorzubeugen, das zu sagen hielt Otterberg grundsätzlich die Wissenschaft nicht
für verpflichtet, aber was wir nach seiner Ansicht zu lassen hätten, ist nicht
im Zweifel: über die Landesgrenze hat die Industrie nichts zu liefern.
Böhmert erinnert angesichts dieser Ideen an einen Ausspruch Ad. Wagners
vom Jahre 1894 in Harders Zukunft: "Wird dem deutschen Reiche nach dem
Verlust eines Bismarck noch einmal, und bevor es zu spät ist, ein Staatsmann
geschenkt werden, der Kenntnis und Verständnis, Mut und Tapferkeit und
Autorität genug haben wird, von neuem eine Volkswirtschaftspolitik zu
inauguriren, welche die deutsche Volkswirtschaft aus der falschen Bahn des
exportireudcn Industriestaats, der sein Hauptnahrungsmittel ans dem Auslande
bezieht und sich dadurch so von diesem abhängig macht, wieder ab- und mehr
auf ein nationales Selbstgenügen hinlenkt? Gott gebe es!" In gewissem
Sinne scharf und bestimmt sehen wir hier das Ziel angedeutet, das die Herren
-- und zwar also im Grunde nnr den herrschenden Anschauungen entsprechend --
verfolgt sehen wollen. Aber es ist bei Wagner wie bei Otterberg etwas rein
negatives: das nationale Selbstgenügen, der Verzicht auf den Verkehr über
die Grenze, die Isolierung; und wie es zu erreichen ist, ohne die als Schreck¬
gespenst der Zukunft hingestellte Masfenbrotlosigkeit sofort heraufzubeschwören,
darüber bleibt auch Wagner zunächst die Antwort schuldig, denn die Ein¬
schränkung der Kindererzeugung, auf die er in ehrlicher Konsequenz zuletzt
immer wieder zurückkommen muß, würde doch viel zu langsam wirksam
werden. Mit Recht macht Böhmert dem gegenüber die "offen liegende
Thatsache" geltend, "daß Deutschland in den letzten fünfundzwanzig Jahren
seine Bevölkerung um zwölf Millionen Einwohner vermehrt hat und geradezu
gezwungen war, für diese zunehmende Bevölkerung industrielle Beschäftigung
im Innern zu schaffen und Rohstoffe und Nahrungsmittel von außen zu
beziehen, weil der heimische Boden nur einen kleinen Teil der vermehrten
Bevölkerung durch Mehrproduktion ernähren und für die Landwirtschaft in


geschoß kann eine entsprechend verbreiterte industrielle Etage vertragen. Weiter
als der landwirtschaftliche Unterbau reicht, kann aber die industrielle Etage
natürlich nicht fortgesetzt werden — es sei denn, daß ihre Bewohnerschaft von
ausländischer Nahrung lebt und ihre Fabrikate gegen diese ausländische Nahrung
eintauscht, also Exportindustrie wird, die für das Ausland arbeitet und vom
Auslande lebt. Das industrielle Stockwerk wächst dann seitlich weiter in die
Lüfte hinaus, über fremden Boden hin, künstlich gestützt auf Pfeiler des aus¬
wärtigen Handels, die auf fremdem Grund und Boden ruhen, von dem es
seine Nahrung bezieht." Die Gefahr, die darin liege, sei die, daß die
wachsende cxportindustrielle Bevölkerung „in einer nicht fernen Zukunft weder
Absatz für ihre Produkte, noch Brot für ihre Existenz" finden werde, und
zwar drohe „eine plötzliche Brotlosigkeit, und ferner unter der Voraussetzung,
daß es noch eine Anzahl Jahrzehnte bis dahin Zeit habe, eine plötzliche Brot¬
losigkeit ungeheurer Massen." Was wir zu thun hätten, um diesen Gefahren
vorzubeugen, das zu sagen hielt Otterberg grundsätzlich die Wissenschaft nicht
für verpflichtet, aber was wir nach seiner Ansicht zu lassen hätten, ist nicht
im Zweifel: über die Landesgrenze hat die Industrie nichts zu liefern.
Böhmert erinnert angesichts dieser Ideen an einen Ausspruch Ad. Wagners
vom Jahre 1894 in Harders Zukunft: „Wird dem deutschen Reiche nach dem
Verlust eines Bismarck noch einmal, und bevor es zu spät ist, ein Staatsmann
geschenkt werden, der Kenntnis und Verständnis, Mut und Tapferkeit und
Autorität genug haben wird, von neuem eine Volkswirtschaftspolitik zu
inauguriren, welche die deutsche Volkswirtschaft aus der falschen Bahn des
exportireudcn Industriestaats, der sein Hauptnahrungsmittel ans dem Auslande
bezieht und sich dadurch so von diesem abhängig macht, wieder ab- und mehr
auf ein nationales Selbstgenügen hinlenkt? Gott gebe es!" In gewissem
Sinne scharf und bestimmt sehen wir hier das Ziel angedeutet, das die Herren
— und zwar also im Grunde nnr den herrschenden Anschauungen entsprechend —
verfolgt sehen wollen. Aber es ist bei Wagner wie bei Otterberg etwas rein
negatives: das nationale Selbstgenügen, der Verzicht auf den Verkehr über
die Grenze, die Isolierung; und wie es zu erreichen ist, ohne die als Schreck¬
gespenst der Zukunft hingestellte Masfenbrotlosigkeit sofort heraufzubeschwören,
darüber bleibt auch Wagner zunächst die Antwort schuldig, denn die Ein¬
schränkung der Kindererzeugung, auf die er in ehrlicher Konsequenz zuletzt
immer wieder zurückkommen muß, würde doch viel zu langsam wirksam
werden. Mit Recht macht Böhmert dem gegenüber die „offen liegende
Thatsache" geltend, „daß Deutschland in den letzten fünfundzwanzig Jahren
seine Bevölkerung um zwölf Millionen Einwohner vermehrt hat und geradezu
gezwungen war, für diese zunehmende Bevölkerung industrielle Beschäftigung
im Innern zu schaffen und Rohstoffe und Nahrungsmittel von außen zu
beziehen, weil der heimische Boden nur einen kleinen Teil der vermehrten
Bevölkerung durch Mehrproduktion ernähren und für die Landwirtschaft in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0276" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226506"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_665" prev="#ID_664" next="#ID_666"> geschoß kann eine entsprechend verbreiterte industrielle Etage vertragen. Weiter<lb/>
als der landwirtschaftliche Unterbau reicht, kann aber die industrielle Etage<lb/>
natürlich nicht fortgesetzt werden &#x2014; es sei denn, daß ihre Bewohnerschaft von<lb/>
ausländischer Nahrung lebt und ihre Fabrikate gegen diese ausländische Nahrung<lb/>
eintauscht, also Exportindustrie wird, die für das Ausland arbeitet und vom<lb/>
Auslande lebt. Das industrielle Stockwerk wächst dann seitlich weiter in die<lb/>
Lüfte hinaus, über fremden Boden hin, künstlich gestützt auf Pfeiler des aus¬<lb/>
wärtigen Handels, die auf fremdem Grund und Boden ruhen, von dem es<lb/>
seine Nahrung bezieht." Die Gefahr, die darin liege, sei die, daß die<lb/>
wachsende cxportindustrielle Bevölkerung &#x201E;in einer nicht fernen Zukunft weder<lb/>
Absatz für ihre Produkte, noch Brot für ihre Existenz" finden werde, und<lb/>
zwar drohe &#x201E;eine plötzliche Brotlosigkeit, und ferner unter der Voraussetzung,<lb/>
daß es noch eine Anzahl Jahrzehnte bis dahin Zeit habe, eine plötzliche Brot¬<lb/>
losigkeit ungeheurer Massen." Was wir zu thun hätten, um diesen Gefahren<lb/>
vorzubeugen, das zu sagen hielt Otterberg grundsätzlich die Wissenschaft nicht<lb/>
für verpflichtet, aber was wir nach seiner Ansicht zu lassen hätten, ist nicht<lb/>
im Zweifel: über die Landesgrenze hat die Industrie nichts zu liefern.<lb/>
Böhmert erinnert angesichts dieser Ideen an einen Ausspruch Ad. Wagners<lb/>
vom Jahre 1894 in Harders Zukunft: &#x201E;Wird dem deutschen Reiche nach dem<lb/>
Verlust eines Bismarck noch einmal, und bevor es zu spät ist, ein Staatsmann<lb/>
geschenkt werden, der Kenntnis und Verständnis, Mut und Tapferkeit und<lb/>
Autorität genug haben wird, von neuem eine Volkswirtschaftspolitik zu<lb/>
inauguriren, welche die deutsche Volkswirtschaft aus der falschen Bahn des<lb/>
exportireudcn Industriestaats, der sein Hauptnahrungsmittel ans dem Auslande<lb/>
bezieht und sich dadurch so von diesem abhängig macht, wieder ab- und mehr<lb/>
auf ein nationales Selbstgenügen hinlenkt? Gott gebe es!" In gewissem<lb/>
Sinne scharf und bestimmt sehen wir hier das Ziel angedeutet, das die Herren<lb/>
&#x2014; und zwar also im Grunde nnr den herrschenden Anschauungen entsprechend &#x2014;<lb/>
verfolgt sehen wollen. Aber es ist bei Wagner wie bei Otterberg etwas rein<lb/>
negatives: das nationale Selbstgenügen, der Verzicht auf den Verkehr über<lb/>
die Grenze, die Isolierung; und wie es zu erreichen ist, ohne die als Schreck¬<lb/>
gespenst der Zukunft hingestellte Masfenbrotlosigkeit sofort heraufzubeschwören,<lb/>
darüber bleibt auch Wagner zunächst die Antwort schuldig, denn die Ein¬<lb/>
schränkung der Kindererzeugung, auf die er in ehrlicher Konsequenz zuletzt<lb/>
immer wieder zurückkommen muß, würde doch viel zu langsam wirksam<lb/>
werden. Mit Recht macht Böhmert dem gegenüber die &#x201E;offen liegende<lb/>
Thatsache" geltend, &#x201E;daß Deutschland in den letzten fünfundzwanzig Jahren<lb/>
seine Bevölkerung um zwölf Millionen Einwohner vermehrt hat und geradezu<lb/>
gezwungen war, für diese zunehmende Bevölkerung industrielle Beschäftigung<lb/>
im Innern zu schaffen und Rohstoffe und Nahrungsmittel von außen zu<lb/>
beziehen, weil der heimische Boden nur einen kleinen Teil der vermehrten<lb/>
Bevölkerung durch Mehrproduktion ernähren und für die Landwirtschaft in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0276] geschoß kann eine entsprechend verbreiterte industrielle Etage vertragen. Weiter als der landwirtschaftliche Unterbau reicht, kann aber die industrielle Etage natürlich nicht fortgesetzt werden — es sei denn, daß ihre Bewohnerschaft von ausländischer Nahrung lebt und ihre Fabrikate gegen diese ausländische Nahrung eintauscht, also Exportindustrie wird, die für das Ausland arbeitet und vom Auslande lebt. Das industrielle Stockwerk wächst dann seitlich weiter in die Lüfte hinaus, über fremden Boden hin, künstlich gestützt auf Pfeiler des aus¬ wärtigen Handels, die auf fremdem Grund und Boden ruhen, von dem es seine Nahrung bezieht." Die Gefahr, die darin liege, sei die, daß die wachsende cxportindustrielle Bevölkerung „in einer nicht fernen Zukunft weder Absatz für ihre Produkte, noch Brot für ihre Existenz" finden werde, und zwar drohe „eine plötzliche Brotlosigkeit, und ferner unter der Voraussetzung, daß es noch eine Anzahl Jahrzehnte bis dahin Zeit habe, eine plötzliche Brot¬ losigkeit ungeheurer Massen." Was wir zu thun hätten, um diesen Gefahren vorzubeugen, das zu sagen hielt Otterberg grundsätzlich die Wissenschaft nicht für verpflichtet, aber was wir nach seiner Ansicht zu lassen hätten, ist nicht im Zweifel: über die Landesgrenze hat die Industrie nichts zu liefern. Böhmert erinnert angesichts dieser Ideen an einen Ausspruch Ad. Wagners vom Jahre 1894 in Harders Zukunft: „Wird dem deutschen Reiche nach dem Verlust eines Bismarck noch einmal, und bevor es zu spät ist, ein Staatsmann geschenkt werden, der Kenntnis und Verständnis, Mut und Tapferkeit und Autorität genug haben wird, von neuem eine Volkswirtschaftspolitik zu inauguriren, welche die deutsche Volkswirtschaft aus der falschen Bahn des exportireudcn Industriestaats, der sein Hauptnahrungsmittel ans dem Auslande bezieht und sich dadurch so von diesem abhängig macht, wieder ab- und mehr auf ein nationales Selbstgenügen hinlenkt? Gott gebe es!" In gewissem Sinne scharf und bestimmt sehen wir hier das Ziel angedeutet, das die Herren — und zwar also im Grunde nnr den herrschenden Anschauungen entsprechend — verfolgt sehen wollen. Aber es ist bei Wagner wie bei Otterberg etwas rein negatives: das nationale Selbstgenügen, der Verzicht auf den Verkehr über die Grenze, die Isolierung; und wie es zu erreichen ist, ohne die als Schreck¬ gespenst der Zukunft hingestellte Masfenbrotlosigkeit sofort heraufzubeschwören, darüber bleibt auch Wagner zunächst die Antwort schuldig, denn die Ein¬ schränkung der Kindererzeugung, auf die er in ehrlicher Konsequenz zuletzt immer wieder zurückkommen muß, würde doch viel zu langsam wirksam werden. Mit Recht macht Böhmert dem gegenüber die „offen liegende Thatsache" geltend, „daß Deutschland in den letzten fünfundzwanzig Jahren seine Bevölkerung um zwölf Millionen Einwohner vermehrt hat und geradezu gezwungen war, für diese zunehmende Bevölkerung industrielle Beschäftigung im Innern zu schaffen und Rohstoffe und Nahrungsmittel von außen zu beziehen, weil der heimische Boden nur einen kleinen Teil der vermehrten Bevölkerung durch Mehrproduktion ernähren und für die Landwirtschaft in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/276
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/276>, abgerufen am 26.06.2024.