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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

auch zeitweise zum Stehenbleiben zwingen. Eine hartnäckige Negierung und
eine ebensolche Mehrheit wird schließlich doch mit der Obstruktion fertig werden,
das hat man seinerzeit in England bei der Obstruktion der Iren gesehen. Das
Verfahren schiebt eine unangenehme Maßregel eine Zeit lang hinaus, aber ver¬
hindern kann es sie nicht, und was ist dann damit gewonnen? Dagegen
bringt es dem Staat, sür dessen Wohl zu sorgen jeder Abgeordnete verpflichtet
ist, manchen empfindlichen Schaden durch Verzögerung notwendiger Dinge,
was aber natürlich gegenüber dem Erfolg der Parteitaktik wohl kaum in An¬
rechnung kommt. Ganz so weit, wie es an einigen Orten geschehen ist, haben
es allerdings unsre Taktiker noch nicht gebracht; aber Abstimmungen, die
schließlich doch nicht zu verhindern sind, durch Herausgehen ans dem Saal
zu vereiteln, die Beschlußfähigkeit anzuzweifeln usw., gehört doch auch nicht zu
den staatsfördernden Dingen, wenn sie sich auch "taktisch" glänzend ausnehmen.
Und endlich ist dieses Verfahren unwürdig, wie schon öfter das Lachen der andern
dabei bewiesen hat, es ist eine reine Spielerei. Noch unwürdiger freilich ist
die Ausübung der Obstruktion durch Schreien und Toben, wodurch sich der
Mensch auf den tierischen Standpunkt der körperlichen Gewalt erniedrigt, die
auf keine Gründe hört.

Alle diese Dinge haben im Lauf der Zeit der freisinnigen Partei, die auf
Warnungen nicht hat hören wollen, immer mehr Anhänger im Bürgerstande
entzogen. Zwar versteht sie es von alters her ausgezeichnet, jede ihr unbe¬
queme Volksbewegung abzuleugnen und ihre Meinungen und Maßregeln als
allein volkstümlich hinzustellen. Aber schon mehrmals haben sich diese Be¬
wegungen stärker als sie gezeigt und sie und damit ihre Wirksamkeit schwer
geschädigt. Möge sie endlich mit der Taktik des Vogel Strauß wie überhaupt
mit allen "Taktiken" aufhören und auf die Stimmen der Ruhigen und Ver¬
stündigen unter ihren Anhängern achten, die jetzt vielfach in vollem Abfall
von ihr sind! Wenn sie das thut, wenn sie das hohe Ideal freier Entwicklung
des Volks und Staats wieder mit Ruhe, Ernst und Würde in Ziel, Verfahren
und Mitteln vertritt, dann wird sie auch die ihr gebührende Stellung wieder
einnehmen, anerkannt von der Negierung wie von den Parteien, auch den
feindlichen; denn den würdigen Gegner achtet jeder Kämpfer, dem es selbst
A. R. um das Wohl des Ganzen ernst ist.




Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

auch zeitweise zum Stehenbleiben zwingen. Eine hartnäckige Negierung und
eine ebensolche Mehrheit wird schließlich doch mit der Obstruktion fertig werden,
das hat man seinerzeit in England bei der Obstruktion der Iren gesehen. Das
Verfahren schiebt eine unangenehme Maßregel eine Zeit lang hinaus, aber ver¬
hindern kann es sie nicht, und was ist dann damit gewonnen? Dagegen
bringt es dem Staat, sür dessen Wohl zu sorgen jeder Abgeordnete verpflichtet
ist, manchen empfindlichen Schaden durch Verzögerung notwendiger Dinge,
was aber natürlich gegenüber dem Erfolg der Parteitaktik wohl kaum in An¬
rechnung kommt. Ganz so weit, wie es an einigen Orten geschehen ist, haben
es allerdings unsre Taktiker noch nicht gebracht; aber Abstimmungen, die
schließlich doch nicht zu verhindern sind, durch Herausgehen ans dem Saal
zu vereiteln, die Beschlußfähigkeit anzuzweifeln usw., gehört doch auch nicht zu
den staatsfördernden Dingen, wenn sie sich auch „taktisch" glänzend ausnehmen.
Und endlich ist dieses Verfahren unwürdig, wie schon öfter das Lachen der andern
dabei bewiesen hat, es ist eine reine Spielerei. Noch unwürdiger freilich ist
die Ausübung der Obstruktion durch Schreien und Toben, wodurch sich der
Mensch auf den tierischen Standpunkt der körperlichen Gewalt erniedrigt, die
auf keine Gründe hört.

Alle diese Dinge haben im Lauf der Zeit der freisinnigen Partei, die auf
Warnungen nicht hat hören wollen, immer mehr Anhänger im Bürgerstande
entzogen. Zwar versteht sie es von alters her ausgezeichnet, jede ihr unbe¬
queme Volksbewegung abzuleugnen und ihre Meinungen und Maßregeln als
allein volkstümlich hinzustellen. Aber schon mehrmals haben sich diese Be¬
wegungen stärker als sie gezeigt und sie und damit ihre Wirksamkeit schwer
geschädigt. Möge sie endlich mit der Taktik des Vogel Strauß wie überhaupt
mit allen „Taktiken" aufhören und auf die Stimmen der Ruhigen und Ver¬
stündigen unter ihren Anhängern achten, die jetzt vielfach in vollem Abfall
von ihr sind! Wenn sie das thut, wenn sie das hohe Ideal freier Entwicklung
des Volks und Staats wieder mit Ruhe, Ernst und Würde in Ziel, Verfahren
und Mitteln vertritt, dann wird sie auch die ihr gebührende Stellung wieder
einnehmen, anerkannt von der Negierung wie von den Parteien, auch den
feindlichen; denn den würdigen Gegner achtet jeder Kämpfer, dem es selbst
A. R. um das Wohl des Ganzen ernst ist.




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[0272] Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei auch zeitweise zum Stehenbleiben zwingen. Eine hartnäckige Negierung und eine ebensolche Mehrheit wird schließlich doch mit der Obstruktion fertig werden, das hat man seinerzeit in England bei der Obstruktion der Iren gesehen. Das Verfahren schiebt eine unangenehme Maßregel eine Zeit lang hinaus, aber ver¬ hindern kann es sie nicht, und was ist dann damit gewonnen? Dagegen bringt es dem Staat, sür dessen Wohl zu sorgen jeder Abgeordnete verpflichtet ist, manchen empfindlichen Schaden durch Verzögerung notwendiger Dinge, was aber natürlich gegenüber dem Erfolg der Parteitaktik wohl kaum in An¬ rechnung kommt. Ganz so weit, wie es an einigen Orten geschehen ist, haben es allerdings unsre Taktiker noch nicht gebracht; aber Abstimmungen, die schließlich doch nicht zu verhindern sind, durch Herausgehen ans dem Saal zu vereiteln, die Beschlußfähigkeit anzuzweifeln usw., gehört doch auch nicht zu den staatsfördernden Dingen, wenn sie sich auch „taktisch" glänzend ausnehmen. Und endlich ist dieses Verfahren unwürdig, wie schon öfter das Lachen der andern dabei bewiesen hat, es ist eine reine Spielerei. Noch unwürdiger freilich ist die Ausübung der Obstruktion durch Schreien und Toben, wodurch sich der Mensch auf den tierischen Standpunkt der körperlichen Gewalt erniedrigt, die auf keine Gründe hört. Alle diese Dinge haben im Lauf der Zeit der freisinnigen Partei, die auf Warnungen nicht hat hören wollen, immer mehr Anhänger im Bürgerstande entzogen. Zwar versteht sie es von alters her ausgezeichnet, jede ihr unbe¬ queme Volksbewegung abzuleugnen und ihre Meinungen und Maßregeln als allein volkstümlich hinzustellen. Aber schon mehrmals haben sich diese Be¬ wegungen stärker als sie gezeigt und sie und damit ihre Wirksamkeit schwer geschädigt. Möge sie endlich mit der Taktik des Vogel Strauß wie überhaupt mit allen „Taktiken" aufhören und auf die Stimmen der Ruhigen und Ver¬ stündigen unter ihren Anhängern achten, die jetzt vielfach in vollem Abfall von ihr sind! Wenn sie das thut, wenn sie das hohe Ideal freier Entwicklung des Volks und Staats wieder mit Ruhe, Ernst und Würde in Ziel, Verfahren und Mitteln vertritt, dann wird sie auch die ihr gebührende Stellung wieder einnehmen, anerkannt von der Negierung wie von den Parteien, auch den feindlichen; denn den würdigen Gegner achtet jeder Kämpfer, dem es selbst A. R. um das Wohl des Ganzen ernst ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/272>, abgerufen am 26.06.2024.