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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

man doch die Überzeugung, daß man leicht so einleuchtende Gegengründe gegen
sie anführen könnte, daß sie an der Sinnlosigkeit ihrer Forderungen zu Grunde
gehen müßten, wie die "Freilands"Streber und andre. Und das wäre das beste,
denn Gewaltmaßregeln erwecken zu leicht, wenn sie auch noch so berechtigt sind,
Sympathie sür die Betroffnen und stärken sie dadurch, zumal wenn sie, wie
es leider oft geschieht, von den untergeordneten Organen ungeschickt und ohne
Einsicht ausgeführt werden. Im Grundsatz ist es unzweifelhaft richtig, daß
sich Ideen durch ihre Aussprache und Ausführung als richtig oder falsch er¬
weisen müssen, um entweder zur Herrschaft zu gelangen oder überwunden zu
werden, daß verkehrte Ideen durch die Thorheiten ihrer Verwirklichung am
klarsten lui s.dsuräuin geführt werden. Aber auch angenommen, daß die
"Reformidecn" der Sozialdemokratie auf friedlichem Wege durchgeführt werden
könnten, so konnte man es doch unmöglich auf eine Probe ankommen lassen,
obwohl die am besten die UnHaltbarkeit zeigen würde; die Opfer an allem,
was den Menschen heilig und wert ist, wären zu ungeheuer. Und friedlich
wären sie auch gar nicht durchzuführen; nur mit Gewalt würde sich die große
Mehrzahl alles von den Sozialdemokraten Verurteilte entreißen lassen. Es
bleibt also die Überwindung durch Erörterung, und auf die haben sie ja einen
gerechten Anspruch -- solange sie eben selbst in maßvollen Formen bleiben
und auch andre reden lassen, wie es sich für eine "Reformpartei" gehört, die
allein durch die Gewalt ihrer Gründe siegen will. Aber thun sie denn das?
Über sie nicht ihrerseits die Unterdrückung bis auf den heutigen Tag in
schärfster Form? Geben sie den Arbeitern, die anders gesinnt sind, Freiheit
der Rede und der Abstimmung? Lassen sie einen arbeiten, der nicht streiken
will? Kämpfen sie unter sich und gegen die "Bourgeois" nur mit Gründen?
O nein, sondern -- freilich unverbürgten Gerüchten nach! -- sehr häufig mit
Gelobe, Niederschreien und Bvykott! Und Menschen, die derartig Gewalt üben,
wollen über Gewalt klagen? Nein, da hört, wenn auch nicht das Streben nach
Beseitigung von Übelständen, denn das ist des Staates Pflicht, doch die Dis¬
kussion auf. Das ist keine Reformpartei, mag sie in ihrem gedruckten Pro¬
gramm etwas von gewaltsamer Durchführung stehen haben oder nicht. Ans
den Wortlaut des Programms geben sie ja auch selbst nicht allzuviel, wie
sich bei den Erörterungen über die Gewinnung des Bauernstandes gezeigt hat.
Entweder heucheln sie also, oder sie wissen selbst nicht, was sie wollen. Diese
"Reformpartei" mag die Unterstützung "taktisch" durchgebildeter freisinniger
Volksführer verdienen; freisinnige Bürger und Bauern halten sie weder sür eine
friedliche Reformpartei, noch wollen sie etwas von Freundschaft mit ihr wissen.
Aber freilich, unsre Taktiker wollen sie auch gar nicht ihre Pläne ausführen
lassen, die Sozialdemokraten sollen ihnen nur dazu helfen, bei den Wahlen
gemäßigte oder konservative Kandidaten niederznstimmen und im Reichstag die
Negierung an Stärkung der Staatsgewalt und Beschützung der Landwirtschaft


Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

man doch die Überzeugung, daß man leicht so einleuchtende Gegengründe gegen
sie anführen könnte, daß sie an der Sinnlosigkeit ihrer Forderungen zu Grunde
gehen müßten, wie die „Freilands"Streber und andre. Und das wäre das beste,
denn Gewaltmaßregeln erwecken zu leicht, wenn sie auch noch so berechtigt sind,
Sympathie sür die Betroffnen und stärken sie dadurch, zumal wenn sie, wie
es leider oft geschieht, von den untergeordneten Organen ungeschickt und ohne
Einsicht ausgeführt werden. Im Grundsatz ist es unzweifelhaft richtig, daß
sich Ideen durch ihre Aussprache und Ausführung als richtig oder falsch er¬
weisen müssen, um entweder zur Herrschaft zu gelangen oder überwunden zu
werden, daß verkehrte Ideen durch die Thorheiten ihrer Verwirklichung am
klarsten lui s.dsuräuin geführt werden. Aber auch angenommen, daß die
„Reformidecn" der Sozialdemokratie auf friedlichem Wege durchgeführt werden
könnten, so konnte man es doch unmöglich auf eine Probe ankommen lassen,
obwohl die am besten die UnHaltbarkeit zeigen würde; die Opfer an allem,
was den Menschen heilig und wert ist, wären zu ungeheuer. Und friedlich
wären sie auch gar nicht durchzuführen; nur mit Gewalt würde sich die große
Mehrzahl alles von den Sozialdemokraten Verurteilte entreißen lassen. Es
bleibt also die Überwindung durch Erörterung, und auf die haben sie ja einen
gerechten Anspruch — solange sie eben selbst in maßvollen Formen bleiben
und auch andre reden lassen, wie es sich für eine „Reformpartei" gehört, die
allein durch die Gewalt ihrer Gründe siegen will. Aber thun sie denn das?
Über sie nicht ihrerseits die Unterdrückung bis auf den heutigen Tag in
schärfster Form? Geben sie den Arbeitern, die anders gesinnt sind, Freiheit
der Rede und der Abstimmung? Lassen sie einen arbeiten, der nicht streiken
will? Kämpfen sie unter sich und gegen die „Bourgeois" nur mit Gründen?
O nein, sondern — freilich unverbürgten Gerüchten nach! — sehr häufig mit
Gelobe, Niederschreien und Bvykott! Und Menschen, die derartig Gewalt üben,
wollen über Gewalt klagen? Nein, da hört, wenn auch nicht das Streben nach
Beseitigung von Übelständen, denn das ist des Staates Pflicht, doch die Dis¬
kussion auf. Das ist keine Reformpartei, mag sie in ihrem gedruckten Pro¬
gramm etwas von gewaltsamer Durchführung stehen haben oder nicht. Ans
den Wortlaut des Programms geben sie ja auch selbst nicht allzuviel, wie
sich bei den Erörterungen über die Gewinnung des Bauernstandes gezeigt hat.
Entweder heucheln sie also, oder sie wissen selbst nicht, was sie wollen. Diese
„Reformpartei" mag die Unterstützung „taktisch" durchgebildeter freisinniger
Volksführer verdienen; freisinnige Bürger und Bauern halten sie weder sür eine
friedliche Reformpartei, noch wollen sie etwas von Freundschaft mit ihr wissen.
Aber freilich, unsre Taktiker wollen sie auch gar nicht ihre Pläne ausführen
lassen, die Sozialdemokraten sollen ihnen nur dazu helfen, bei den Wahlen
gemäßigte oder konservative Kandidaten niederznstimmen und im Reichstag die
Negierung an Stärkung der Staatsgewalt und Beschützung der Landwirtschaft


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/268>, abgerufen am 26.06.2024.