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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

kaum auf den Platz gelangt, mußte der betreffende Herr schleunigst "Gesund¬
heitsrücksichten bekommen," um nicht mit dem Kaiser auf das Wohl des Mannes
anstoßen zu müssen, dessen "Niederlage" ihm zu seinem Ehrensitz verholfen
hatte! Das war euer Erfolg! Wie oft dagegen habt ihr es erleben müssen,
daß eure schwarzen Freunde nur gerade so weit mit euch gingen, wie es ihnen
paßte, und so manche wirklich oder angeblich reaktionäre Maßregel durchsetzen
halfen! Was ist also nach allem die Frucht der Freundschaft? Nur die, euch
und mit euch leider auch den Liberalismus im Lande immer unbeliebter zu
machen!

Noch viel weniger verstanden wird aber von den Nichttaktikern unter den
Liberalen das vielgepriesene, mit so vielen Erfolgen gekrönte Bündnis mit den
Sozialdemokraten. Die freisinnige Partei wehrt sich doch mit Entrüstung gegen
den Vorwurf, daß sie die "Vorfrucht der Sozialdemokratie" sei, sie schließt
in sich eine Menge von Leuten, denen nichts ferner liegt als Gütergemein¬
schaft mit der großen Masse und dergleichen, darunter sehr viele, deren einziges
Streben auf Erwerben und Besitzen geht; sie hat allezeit die Macht des Ge¬
dankens über die Gewalt gepriesen, und trotzdem geht sie in unzähligen Fällen
das Wahlbündnis ein, schützt die "Genossen" aus allen Kräften vor strengen
Maßregeln, sucht ihnen aufs gewissenhafteste die Freiheit der Entwicklung zu
wahren, stimmt so ziemlich allen ihren Angriffen gegen das Bestehende bei --
verstehe das, wer kann, oder vielmehr, wer "Taktik" hat! 1893 erklärte Virchow
sogar, wenn er selbst nicht in die Stichwahl käme, den Sozialdemokraten em¬
pfehlen zu müssen! was freilich nur zur Folge hatte, daß die freisinnige Partei
drei Berliner Wahlkreise verlor. Damals und seitdem ist dieselbe Taktik oft
genug verfolgt oder wenigstens von der Parteileitung empfohlen worden, glück¬
licherweise nicht immer mit Erfolg, da tausende von freisinnigen Wählen davon
nichts wissen wollten, daß ein Wolf besser sei als ein strenger Hund. In
mehreren Fällen hat die Taktik allerdings wirklich zur Wahl von Sozial¬
demokraten geführt, was dann von dieser Partei regelmäßig als ein Beweis
ihres Wachstums dargestellt wurde und so ihr Ansehen, ihr Selbstbewußtsein,
ihren Übermut und damit ihre Angriffslust immer mehr steigerte. Freilich
haben sie sich auch manchmal dankbar bewiesen, und ein großer Teil der kleinen
freisinnigen Reichstagspartei befindet sich nur darum im Palais, weil sie den
Meistern des Verneinens als die tüchtigsten Gesellen erschienen sind. Und
solche Leute nennen sich Vertreter des Bürgertums!

Für den Schutz, den die Parlamcntsfreisinnigen den Sozialdemokraten
gewähren, führen sie gewöhnlich als Grund oder vielmehr Entschuldigung an,
daß diese immer mehr von ihren revolutionären Grundsätzen abkamen und sich
zu einer "sozialen Reformpartei" entwickelten. Wären sie das wirklich, so
könnte man sie ja eher gewähren lassen in der Hoffnung, daß sie nur mit
Gründen kämpfen und Gegengründe ruhig anhören werden; denn dann Hütte


Grenzboten IV 1897 33
Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

kaum auf den Platz gelangt, mußte der betreffende Herr schleunigst „Gesund¬
heitsrücksichten bekommen," um nicht mit dem Kaiser auf das Wohl des Mannes
anstoßen zu müssen, dessen „Niederlage" ihm zu seinem Ehrensitz verholfen
hatte! Das war euer Erfolg! Wie oft dagegen habt ihr es erleben müssen,
daß eure schwarzen Freunde nur gerade so weit mit euch gingen, wie es ihnen
paßte, und so manche wirklich oder angeblich reaktionäre Maßregel durchsetzen
halfen! Was ist also nach allem die Frucht der Freundschaft? Nur die, euch
und mit euch leider auch den Liberalismus im Lande immer unbeliebter zu
machen!

Noch viel weniger verstanden wird aber von den Nichttaktikern unter den
Liberalen das vielgepriesene, mit so vielen Erfolgen gekrönte Bündnis mit den
Sozialdemokraten. Die freisinnige Partei wehrt sich doch mit Entrüstung gegen
den Vorwurf, daß sie die „Vorfrucht der Sozialdemokratie" sei, sie schließt
in sich eine Menge von Leuten, denen nichts ferner liegt als Gütergemein¬
schaft mit der großen Masse und dergleichen, darunter sehr viele, deren einziges
Streben auf Erwerben und Besitzen geht; sie hat allezeit die Macht des Ge¬
dankens über die Gewalt gepriesen, und trotzdem geht sie in unzähligen Fällen
das Wahlbündnis ein, schützt die „Genossen" aus allen Kräften vor strengen
Maßregeln, sucht ihnen aufs gewissenhafteste die Freiheit der Entwicklung zu
wahren, stimmt so ziemlich allen ihren Angriffen gegen das Bestehende bei —
verstehe das, wer kann, oder vielmehr, wer „Taktik" hat! 1893 erklärte Virchow
sogar, wenn er selbst nicht in die Stichwahl käme, den Sozialdemokraten em¬
pfehlen zu müssen! was freilich nur zur Folge hatte, daß die freisinnige Partei
drei Berliner Wahlkreise verlor. Damals und seitdem ist dieselbe Taktik oft
genug verfolgt oder wenigstens von der Parteileitung empfohlen worden, glück¬
licherweise nicht immer mit Erfolg, da tausende von freisinnigen Wählen davon
nichts wissen wollten, daß ein Wolf besser sei als ein strenger Hund. In
mehreren Fällen hat die Taktik allerdings wirklich zur Wahl von Sozial¬
demokraten geführt, was dann von dieser Partei regelmäßig als ein Beweis
ihres Wachstums dargestellt wurde und so ihr Ansehen, ihr Selbstbewußtsein,
ihren Übermut und damit ihre Angriffslust immer mehr steigerte. Freilich
haben sie sich auch manchmal dankbar bewiesen, und ein großer Teil der kleinen
freisinnigen Reichstagspartei befindet sich nur darum im Palais, weil sie den
Meistern des Verneinens als die tüchtigsten Gesellen erschienen sind. Und
solche Leute nennen sich Vertreter des Bürgertums!

Für den Schutz, den die Parlamcntsfreisinnigen den Sozialdemokraten
gewähren, führen sie gewöhnlich als Grund oder vielmehr Entschuldigung an,
daß diese immer mehr von ihren revolutionären Grundsätzen abkamen und sich
zu einer „sozialen Reformpartei" entwickelten. Wären sie das wirklich, so
könnte man sie ja eher gewähren lassen in der Hoffnung, daß sie nur mit
Gründen kämpfen und Gegengründe ruhig anhören werden; denn dann Hütte


Grenzboten IV 1897 33
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[0267] Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei kaum auf den Platz gelangt, mußte der betreffende Herr schleunigst „Gesund¬ heitsrücksichten bekommen," um nicht mit dem Kaiser auf das Wohl des Mannes anstoßen zu müssen, dessen „Niederlage" ihm zu seinem Ehrensitz verholfen hatte! Das war euer Erfolg! Wie oft dagegen habt ihr es erleben müssen, daß eure schwarzen Freunde nur gerade so weit mit euch gingen, wie es ihnen paßte, und so manche wirklich oder angeblich reaktionäre Maßregel durchsetzen halfen! Was ist also nach allem die Frucht der Freundschaft? Nur die, euch und mit euch leider auch den Liberalismus im Lande immer unbeliebter zu machen! Noch viel weniger verstanden wird aber von den Nichttaktikern unter den Liberalen das vielgepriesene, mit so vielen Erfolgen gekrönte Bündnis mit den Sozialdemokraten. Die freisinnige Partei wehrt sich doch mit Entrüstung gegen den Vorwurf, daß sie die „Vorfrucht der Sozialdemokratie" sei, sie schließt in sich eine Menge von Leuten, denen nichts ferner liegt als Gütergemein¬ schaft mit der großen Masse und dergleichen, darunter sehr viele, deren einziges Streben auf Erwerben und Besitzen geht; sie hat allezeit die Macht des Ge¬ dankens über die Gewalt gepriesen, und trotzdem geht sie in unzähligen Fällen das Wahlbündnis ein, schützt die „Genossen" aus allen Kräften vor strengen Maßregeln, sucht ihnen aufs gewissenhafteste die Freiheit der Entwicklung zu wahren, stimmt so ziemlich allen ihren Angriffen gegen das Bestehende bei — verstehe das, wer kann, oder vielmehr, wer „Taktik" hat! 1893 erklärte Virchow sogar, wenn er selbst nicht in die Stichwahl käme, den Sozialdemokraten em¬ pfehlen zu müssen! was freilich nur zur Folge hatte, daß die freisinnige Partei drei Berliner Wahlkreise verlor. Damals und seitdem ist dieselbe Taktik oft genug verfolgt oder wenigstens von der Parteileitung empfohlen worden, glück¬ licherweise nicht immer mit Erfolg, da tausende von freisinnigen Wählen davon nichts wissen wollten, daß ein Wolf besser sei als ein strenger Hund. In mehreren Fällen hat die Taktik allerdings wirklich zur Wahl von Sozial¬ demokraten geführt, was dann von dieser Partei regelmäßig als ein Beweis ihres Wachstums dargestellt wurde und so ihr Ansehen, ihr Selbstbewußtsein, ihren Übermut und damit ihre Angriffslust immer mehr steigerte. Freilich haben sie sich auch manchmal dankbar bewiesen, und ein großer Teil der kleinen freisinnigen Reichstagspartei befindet sich nur darum im Palais, weil sie den Meistern des Verneinens als die tüchtigsten Gesellen erschienen sind. Und solche Leute nennen sich Vertreter des Bürgertums! Für den Schutz, den die Parlamcntsfreisinnigen den Sozialdemokraten gewähren, führen sie gewöhnlich als Grund oder vielmehr Entschuldigung an, daß diese immer mehr von ihren revolutionären Grundsätzen abkamen und sich zu einer „sozialen Reformpartei" entwickelten. Wären sie das wirklich, so könnte man sie ja eher gewähren lassen in der Hoffnung, daß sie nur mit Gründen kämpfen und Gegengründe ruhig anhören werden; denn dann Hütte Grenzboten IV 1897 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/267>, abgerufen am 26.06.2024.