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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

Ist es nicht seltsam, daß man eine Maßregel gegen einen anerkannten
Übelstand darum zu vereiteln sucht, weil sie sich eben nur gegen diesen Übel¬
stand richtet? Soll eine ganze Familie kurirt werden, weil ein einzelner krank
ist? Eine entschieden schädliche Gruppe aber soll darum nicht bekämpft werden,
weil sie auch zu den Staatsbürgern gehört, oder wie die Gründe lauten! Sozia¬
listen, Anarchisten, Jesuiten, Polen, Frcmzösliuge -- eine Zusammenstellung,
bei der einem begeisterten Freunde des deutschen Reichs doch das Herz im
Leibe lachen muß! Diese braven Leute müssen nur jn bis aufs letzte Pünktchen
alle Freiheiten genießen, die es giebt, lieber noch ein paar mehr, als andern
erlaubt ist, damit uns nur ja nicht Unduldsamkeit vorgeworfen werden könne!
Man sollte freilich meinen: entweder ist ihre Schädlichkeit nicht bewiesen, dann
behalten sie ihre Rechte, oder sie ist bewiesen, dann werden sie ihnen soweit
eingeschränkt, daß sie kein Unheil stiften können. Aber nein, eingeschränkt dürfen
sie erst werden, wenn sie wirklich ordentlichen Schaden angerichtet haben, daß
es deutlich zu fühlen ist für die, die nicht sehen können, das ist freiheitlich!
Nach derselben Taktik dürfte auch ein Seeräuberschiff nicht eher weggenommen
werden, als bis ihm gerichtlich nachgewiesen ist, daß gerade diese Mannschaft
sich gegen die Strafgesetze vergangen hat. Das Prinzip also über alles! Nur ja
keine Vorbeugung! Und will man soweit nicht gehen, wozu dann der thörichte
Kampf gegen Ausnahmebestimmungen für Reichsschädlinge? Gewiß, das Reich
geht nicht zu Grunde, wenn auch alle die Maulwürfe unter ihm wühlen und
bohren, dazu ist sein Fundament, die Vaterlandsliebe in allen deutschen Gauen,
viel zu stark. Aber sie bringen doch manche Risse hervor, bringen manchen
Teil zum Einstürzen, machen manchen Raum unbewohnbar -- und das sollen
wir alles ruhig mit ansehen? Und warum? Weil so ein Wühler doch auch
ein lebendiges Geschöpf ist! Nun denn, ihr Herren von der Theorie, so laßt
gefälligst eure verehrten Privatbaulichkeiten nach Belieben untergraben und
umstürzen -- was ja auch schon reichlich geschehen ist! --, aber verlangt
nicht von uns, auch von uns andern Freisinnigen nicht, daß wir gleichfalls
stillhalten sollen, die Spaten in der Hand!

Noch weit bedenklicher und dem Ansehen des Freisinns im Lande noch
weit schädlicher sind seine Bündnisse. Erkennt ihr Führer es denn wirklich
an, daß der Zweck die Mittel heiligt, welcher Art sie auch immer sein mögen?
Um einen freisinnigen Abgeordneten durchzubringen, der in Wirklichkeit auch
nicht entfernt die Mehrheit im Wahlkreise für sich hat, nehmt ihr z. B. in
unzähligen Fällen die Hilfe der Ultramontanen an, das heißt der Partei, die
wie dem Liberalismus einzig und allein beim Kampfe gegen die Regierung,
und auch da keineswegs immer, wie ihr wohl wißt, übereinstimmt, in ihren
positiven Zielen aber das gerade Gegenteil des Liberalismus ist, da sie keine
Selbständigkeit des Einzelnen, keine freie Bewährung der Kraft, keine geistige
Entwicklung duldet, ja ihrer ganzen Grundlage nach nicht dulden kann, sondern


Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

Ist es nicht seltsam, daß man eine Maßregel gegen einen anerkannten
Übelstand darum zu vereiteln sucht, weil sie sich eben nur gegen diesen Übel¬
stand richtet? Soll eine ganze Familie kurirt werden, weil ein einzelner krank
ist? Eine entschieden schädliche Gruppe aber soll darum nicht bekämpft werden,
weil sie auch zu den Staatsbürgern gehört, oder wie die Gründe lauten! Sozia¬
listen, Anarchisten, Jesuiten, Polen, Frcmzösliuge — eine Zusammenstellung,
bei der einem begeisterten Freunde des deutschen Reichs doch das Herz im
Leibe lachen muß! Diese braven Leute müssen nur jn bis aufs letzte Pünktchen
alle Freiheiten genießen, die es giebt, lieber noch ein paar mehr, als andern
erlaubt ist, damit uns nur ja nicht Unduldsamkeit vorgeworfen werden könne!
Man sollte freilich meinen: entweder ist ihre Schädlichkeit nicht bewiesen, dann
behalten sie ihre Rechte, oder sie ist bewiesen, dann werden sie ihnen soweit
eingeschränkt, daß sie kein Unheil stiften können. Aber nein, eingeschränkt dürfen
sie erst werden, wenn sie wirklich ordentlichen Schaden angerichtet haben, daß
es deutlich zu fühlen ist für die, die nicht sehen können, das ist freiheitlich!
Nach derselben Taktik dürfte auch ein Seeräuberschiff nicht eher weggenommen
werden, als bis ihm gerichtlich nachgewiesen ist, daß gerade diese Mannschaft
sich gegen die Strafgesetze vergangen hat. Das Prinzip also über alles! Nur ja
keine Vorbeugung! Und will man soweit nicht gehen, wozu dann der thörichte
Kampf gegen Ausnahmebestimmungen für Reichsschädlinge? Gewiß, das Reich
geht nicht zu Grunde, wenn auch alle die Maulwürfe unter ihm wühlen und
bohren, dazu ist sein Fundament, die Vaterlandsliebe in allen deutschen Gauen,
viel zu stark. Aber sie bringen doch manche Risse hervor, bringen manchen
Teil zum Einstürzen, machen manchen Raum unbewohnbar — und das sollen
wir alles ruhig mit ansehen? Und warum? Weil so ein Wühler doch auch
ein lebendiges Geschöpf ist! Nun denn, ihr Herren von der Theorie, so laßt
gefälligst eure verehrten Privatbaulichkeiten nach Belieben untergraben und
umstürzen — was ja auch schon reichlich geschehen ist! —, aber verlangt
nicht von uns, auch von uns andern Freisinnigen nicht, daß wir gleichfalls
stillhalten sollen, die Spaten in der Hand!

Noch weit bedenklicher und dem Ansehen des Freisinns im Lande noch
weit schädlicher sind seine Bündnisse. Erkennt ihr Führer es denn wirklich
an, daß der Zweck die Mittel heiligt, welcher Art sie auch immer sein mögen?
Um einen freisinnigen Abgeordneten durchzubringen, der in Wirklichkeit auch
nicht entfernt die Mehrheit im Wahlkreise für sich hat, nehmt ihr z. B. in
unzähligen Fällen die Hilfe der Ultramontanen an, das heißt der Partei, die
wie dem Liberalismus einzig und allein beim Kampfe gegen die Regierung,
und auch da keineswegs immer, wie ihr wohl wißt, übereinstimmt, in ihren
positiven Zielen aber das gerade Gegenteil des Liberalismus ist, da sie keine
Selbständigkeit des Einzelnen, keine freie Bewährung der Kraft, keine geistige
Entwicklung duldet, ja ihrer ganzen Grundlage nach nicht dulden kann, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/265>, abgerufen am 26.06.2024.