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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

Das Streben, dem Volke möglichst großen Anteil an der Lenkung seiner
Geschicke zu verschaffen, hat sich leider im Widerspruch gegen die absolutistischen
Neigungen früherer Regierungen entwickeln müssen, und es ist daher ver¬
ständlich, wenn sich damals unter den Liberalen ein Mißtrauen gegen die
Regierung überhaupt ausbildete, eine stete Neigung, der Macht der Staats-
lenker mit der Macht des Parlaments entgegenzutreten, sie schon als solche
für Unterdrücker der Bürgerschaft und Feinde jedes freiern und höhern Strebens
zu halten, dagegen die Opposition für die wahre Blüte des Geistes nach jeder
Richtung hin, und somit jeden Angriff gegen die Regierung für einen Kampf
der Freiheit gegen die Knechtschaft, des Gnrcn gegen das Böse; eine Anschauung,
die alles Ernstes zu dem berühmten Satze führte: "Ich kenne die Absichten
der Negierung nicht, aber ich mißbillige sie." Es hat ja Zeiten gegeben, wo
solche Theorien nicht ganz ohne Berechtigung waren, und auch noch in der
"Konfliktszeit" der sechziger Jahre hat ihnen die Regierung durch allzu große
Schroffheit und Unterdrückungsmaßregeln persönlicher Art Vorschub geleistet.
Aber jene Zeiten sind doch vorüber. So manche einst nur ersehnte Ideale
der Liberalen sind längst verwirklicht, wie gleiches Wahlrecht, Preßfreiheit,
Gewerbefreiheit. Das Prinzip der liberalen Partei kann also hente unmöglich
noch sein: Kampf gegen die Negierung! Und doch sollte man das glauben,
wenn man das Auftreten unsrer freisinnigen Führer im Parlament und draußen
betrachtet, die es immer noch als den Hauptruhm der Volksvertretung dar¬
stellen, der Regierung eine Niederlage bereitet zu haben; gerade wie in so
manchen Sladtvcrordnetenversammlungen viele Bürgcrvertreter der Ansicht
sind, nur zu dem Zweck gewählt zu sein, um dem Magistrat "ordentlich auf
die Finger zu sehen" und ihn recht oft durch Ablehnungen zu demütigen.
Einer solche" Anschauungsweise, die die Eierschalen des konstitutionellen Lebens
noch nicht abgestreift hat, können sich ruhig denkende Menschen nicht anschließen,
die nicht Frende am Konflikt, sondern an wirklichen Fortschritten haben. Sie
werden der Regierung widerstehen, wo sie den leitenden Grundsätzen vernünf¬
tiger Entwicklung nicht genügend Rechnung zu tragen scheint, und wo sie nicht
hindern können, da werden sie wenigstens zu mildern suchen; aber wo es sich
nicht um solche Fragen handelt, oder wo die Regierung, wenn auch vielleicht
nicht ganz, doch im wesentlichen mit ihnen in Einklang ist, werden sie sie
eifrig und freudig unterstützen, unbekümmert darum, ob man sie in gewissen
Kreisen "Streber," "Byzantiner," "Wadenstrümpfler" und dergleichen, schilt.
Damit glauben sie der Sache der Freiheit besser zu dienen, als die stürmischen
Redner mit ihrem "alles oder nichts," mit ihrem "voll und ganz" und "unent¬
wegt," das sich für Übungen in Nhetvrenschnlen, aber nicht für ernstliche
Arbeit eignet. Weite Kreise der liberalen Bürgerschaft lehnen jenes Prinzip
"Kampf gegen die Negierung!" entschieden ab und verweigern ihre Stimmen
einem Manne, der ihnen nur Ablehnungen als Erfolg seiner Thätigkeit verheißt.


Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

Das Streben, dem Volke möglichst großen Anteil an der Lenkung seiner
Geschicke zu verschaffen, hat sich leider im Widerspruch gegen die absolutistischen
Neigungen früherer Regierungen entwickeln müssen, und es ist daher ver¬
ständlich, wenn sich damals unter den Liberalen ein Mißtrauen gegen die
Regierung überhaupt ausbildete, eine stete Neigung, der Macht der Staats-
lenker mit der Macht des Parlaments entgegenzutreten, sie schon als solche
für Unterdrücker der Bürgerschaft und Feinde jedes freiern und höhern Strebens
zu halten, dagegen die Opposition für die wahre Blüte des Geistes nach jeder
Richtung hin, und somit jeden Angriff gegen die Regierung für einen Kampf
der Freiheit gegen die Knechtschaft, des Gnrcn gegen das Böse; eine Anschauung,
die alles Ernstes zu dem berühmten Satze führte: „Ich kenne die Absichten
der Negierung nicht, aber ich mißbillige sie." Es hat ja Zeiten gegeben, wo
solche Theorien nicht ganz ohne Berechtigung waren, und auch noch in der
„Konfliktszeit" der sechziger Jahre hat ihnen die Regierung durch allzu große
Schroffheit und Unterdrückungsmaßregeln persönlicher Art Vorschub geleistet.
Aber jene Zeiten sind doch vorüber. So manche einst nur ersehnte Ideale
der Liberalen sind längst verwirklicht, wie gleiches Wahlrecht, Preßfreiheit,
Gewerbefreiheit. Das Prinzip der liberalen Partei kann also hente unmöglich
noch sein: Kampf gegen die Negierung! Und doch sollte man das glauben,
wenn man das Auftreten unsrer freisinnigen Führer im Parlament und draußen
betrachtet, die es immer noch als den Hauptruhm der Volksvertretung dar¬
stellen, der Regierung eine Niederlage bereitet zu haben; gerade wie in so
manchen Sladtvcrordnetenversammlungen viele Bürgcrvertreter der Ansicht
sind, nur zu dem Zweck gewählt zu sein, um dem Magistrat „ordentlich auf
die Finger zu sehen" und ihn recht oft durch Ablehnungen zu demütigen.
Einer solche» Anschauungsweise, die die Eierschalen des konstitutionellen Lebens
noch nicht abgestreift hat, können sich ruhig denkende Menschen nicht anschließen,
die nicht Frende am Konflikt, sondern an wirklichen Fortschritten haben. Sie
werden der Regierung widerstehen, wo sie den leitenden Grundsätzen vernünf¬
tiger Entwicklung nicht genügend Rechnung zu tragen scheint, und wo sie nicht
hindern können, da werden sie wenigstens zu mildern suchen; aber wo es sich
nicht um solche Fragen handelt, oder wo die Regierung, wenn auch vielleicht
nicht ganz, doch im wesentlichen mit ihnen in Einklang ist, werden sie sie
eifrig und freudig unterstützen, unbekümmert darum, ob man sie in gewissen
Kreisen „Streber," „Byzantiner," „Wadenstrümpfler" und dergleichen, schilt.
Damit glauben sie der Sache der Freiheit besser zu dienen, als die stürmischen
Redner mit ihrem „alles oder nichts," mit ihrem „voll und ganz" und „unent¬
wegt," das sich für Übungen in Nhetvrenschnlen, aber nicht für ernstliche
Arbeit eignet. Weite Kreise der liberalen Bürgerschaft lehnen jenes Prinzip
„Kampf gegen die Negierung!" entschieden ab und verweigern ihre Stimmen
einem Manne, der ihnen nur Ablehnungen als Erfolg seiner Thätigkeit verheißt.


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[0262] Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei Das Streben, dem Volke möglichst großen Anteil an der Lenkung seiner Geschicke zu verschaffen, hat sich leider im Widerspruch gegen die absolutistischen Neigungen früherer Regierungen entwickeln müssen, und es ist daher ver¬ ständlich, wenn sich damals unter den Liberalen ein Mißtrauen gegen die Regierung überhaupt ausbildete, eine stete Neigung, der Macht der Staats- lenker mit der Macht des Parlaments entgegenzutreten, sie schon als solche für Unterdrücker der Bürgerschaft und Feinde jedes freiern und höhern Strebens zu halten, dagegen die Opposition für die wahre Blüte des Geistes nach jeder Richtung hin, und somit jeden Angriff gegen die Regierung für einen Kampf der Freiheit gegen die Knechtschaft, des Gnrcn gegen das Böse; eine Anschauung, die alles Ernstes zu dem berühmten Satze führte: „Ich kenne die Absichten der Negierung nicht, aber ich mißbillige sie." Es hat ja Zeiten gegeben, wo solche Theorien nicht ganz ohne Berechtigung waren, und auch noch in der „Konfliktszeit" der sechziger Jahre hat ihnen die Regierung durch allzu große Schroffheit und Unterdrückungsmaßregeln persönlicher Art Vorschub geleistet. Aber jene Zeiten sind doch vorüber. So manche einst nur ersehnte Ideale der Liberalen sind längst verwirklicht, wie gleiches Wahlrecht, Preßfreiheit, Gewerbefreiheit. Das Prinzip der liberalen Partei kann also hente unmöglich noch sein: Kampf gegen die Negierung! Und doch sollte man das glauben, wenn man das Auftreten unsrer freisinnigen Führer im Parlament und draußen betrachtet, die es immer noch als den Hauptruhm der Volksvertretung dar¬ stellen, der Regierung eine Niederlage bereitet zu haben; gerade wie in so manchen Sladtvcrordnetenversammlungen viele Bürgcrvertreter der Ansicht sind, nur zu dem Zweck gewählt zu sein, um dem Magistrat „ordentlich auf die Finger zu sehen" und ihn recht oft durch Ablehnungen zu demütigen. Einer solche» Anschauungsweise, die die Eierschalen des konstitutionellen Lebens noch nicht abgestreift hat, können sich ruhig denkende Menschen nicht anschließen, die nicht Frende am Konflikt, sondern an wirklichen Fortschritten haben. Sie werden der Regierung widerstehen, wo sie den leitenden Grundsätzen vernünf¬ tiger Entwicklung nicht genügend Rechnung zu tragen scheint, und wo sie nicht hindern können, da werden sie wenigstens zu mildern suchen; aber wo es sich nicht um solche Fragen handelt, oder wo die Regierung, wenn auch vielleicht nicht ganz, doch im wesentlichen mit ihnen in Einklang ist, werden sie sie eifrig und freudig unterstützen, unbekümmert darum, ob man sie in gewissen Kreisen „Streber," „Byzantiner," „Wadenstrümpfler" und dergleichen, schilt. Damit glauben sie der Sache der Freiheit besser zu dienen, als die stürmischen Redner mit ihrem „alles oder nichts," mit ihrem „voll und ganz" und „unent¬ wegt," das sich für Übungen in Nhetvrenschnlen, aber nicht für ernstliche Arbeit eignet. Weite Kreise der liberalen Bürgerschaft lehnen jenes Prinzip „Kampf gegen die Negierung!" entschieden ab und verweigern ihre Stimmen einem Manne, der ihnen nur Ablehnungen als Erfolg seiner Thätigkeit verheißt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/262>, abgerufen am 26.06.2024.