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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

und Redefreiheit das des bürgerlichen Friedens; dem des alldurchdringenden
Einflusses der Volksvertretung das der Ordnung aller Dinge durch Sachver¬
ständige; dem der weitesten Ausdehnung des Wahlrechts das der geistigen
Reise als Bedingung für staatliche Thätigkeit; dem Ideal der reinen Volks¬
gerichte das Ideal der strengen Gesetzmäßigkeit; dem des Volksheers das der
möglichst guten Vorbereitung für den Kriegsfall usw. Jedes einzelne vou
ihnen hat viel Verlockendes; es ist kein Wunder, daß sie so zahlreiche An¬
hänger haben, und in der Theorie kann man ja jedem seine eignen Ansichten
über Staatsbcglückuug lassen. Aber nicht zu dulden ist, wenn er in rücksichts¬
loser Durchführung seines eignen Ideals das entgegenstehende, ebenso be¬
rechtigte einfach beiseite schiebt; ein solches Verfahren in praktischer Aus¬
führung kaun einen Staat nur unglücklich machen, wie die Geschichte der letzten
hundert Jahre mehrfach gezeigt hat, und muß schließlich an seiner eignen Ein¬
seitigkeit scheitern. Das gilt sowohl für die Fanatiker der Ausdehnung, wie
für die der Beschränkung. Unterdrückte Ideale sind die gefährlichsten Feinde
jeder dauernden Herrschaft, des Volks wie der Monarchen. Blindheit zeigt
es, über die Staatslenker, die auch der andern Art von Idealen etwas Rück¬
sicht widmen, zu schelten oder zu spotten, Blindheit, die gewöhnlich ans der
Seite der Verantwortungslosigkeit ist, und die, solange sie bei Worten bleibt,
wiederum Spott, wenn sie sich zu Thaten fortreißen läßt, die schärfste Zurück¬
weisung verdient, mag sie nun am Kneipcnstammtisch oder in der Studierstube,
am grünen Tisch im lnftabgeschlossenen Bnreauzimmer, auf der Ackerscholle,
auf dem Podium des Baugerüstes, im durchqnalmten Versammlungssaal oder
sonst wo auftreten. Alle diese Orte gewähren viel zu engen Überblick, das
Wohl des ganzen Staats zu erkennen. Nur wer, sein Ideal im Herzen,
hinausgeht und alle Verhältnisse und Bedürfnisse leidenschaftlos untersucht,
auf sie sein Ideal anwendet und den andern Idealen anfngt. alle unnützen
Kanten abschleifend, der allein bringt etwas zu stände, was Dauer verspricht,
und das muß doch Ziel und Ende aller Politik sein. Aber das thun leider
unsre Freisinnigen lange, lange nicht genug, am allerwenigsten die "Männ¬
lichen"; aber auch die andre Linie hat darin noch sehr viel zu lernen. Daher
aber thun sie sich selbst, dem Staat, der der freisinnigen Ideale nicht entbehren
kann, und dem Ansehen dieser Ideale im Volke großen Schaden. Nicht so
sehr die wirkliche oder angebliche Reaktion entzieht der freisinnigen Partei die
Bedeutung und die Wahlstimmen im Lande, wie die Thorheiten ihrer eignen
Führer und Vertreter.

Diese Unzufriedenheit, die ein großer Teil des freisinnigen Bürgertums,
und darunter gerade die Gebildetsten und Nachdenklichsten, mit der gegen¬
wärtigen freisinnigen Partei, besonders der "Volkspartei," empfindet, betrifft
teilweise die Ideale selbst, wie sie sich in den Fortsetzern der alten Fortschritts¬
partei entwickelt haben, ganz besonders aber die "Parteitaktik."


Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

und Redefreiheit das des bürgerlichen Friedens; dem des alldurchdringenden
Einflusses der Volksvertretung das der Ordnung aller Dinge durch Sachver¬
ständige; dem der weitesten Ausdehnung des Wahlrechts das der geistigen
Reise als Bedingung für staatliche Thätigkeit; dem Ideal der reinen Volks¬
gerichte das Ideal der strengen Gesetzmäßigkeit; dem des Volksheers das der
möglichst guten Vorbereitung für den Kriegsfall usw. Jedes einzelne vou
ihnen hat viel Verlockendes; es ist kein Wunder, daß sie so zahlreiche An¬
hänger haben, und in der Theorie kann man ja jedem seine eignen Ansichten
über Staatsbcglückuug lassen. Aber nicht zu dulden ist, wenn er in rücksichts¬
loser Durchführung seines eignen Ideals das entgegenstehende, ebenso be¬
rechtigte einfach beiseite schiebt; ein solches Verfahren in praktischer Aus¬
führung kaun einen Staat nur unglücklich machen, wie die Geschichte der letzten
hundert Jahre mehrfach gezeigt hat, und muß schließlich an seiner eignen Ein¬
seitigkeit scheitern. Das gilt sowohl für die Fanatiker der Ausdehnung, wie
für die der Beschränkung. Unterdrückte Ideale sind die gefährlichsten Feinde
jeder dauernden Herrschaft, des Volks wie der Monarchen. Blindheit zeigt
es, über die Staatslenker, die auch der andern Art von Idealen etwas Rück¬
sicht widmen, zu schelten oder zu spotten, Blindheit, die gewöhnlich ans der
Seite der Verantwortungslosigkeit ist, und die, solange sie bei Worten bleibt,
wiederum Spott, wenn sie sich zu Thaten fortreißen läßt, die schärfste Zurück¬
weisung verdient, mag sie nun am Kneipcnstammtisch oder in der Studierstube,
am grünen Tisch im lnftabgeschlossenen Bnreauzimmer, auf der Ackerscholle,
auf dem Podium des Baugerüstes, im durchqnalmten Versammlungssaal oder
sonst wo auftreten. Alle diese Orte gewähren viel zu engen Überblick, das
Wohl des ganzen Staats zu erkennen. Nur wer, sein Ideal im Herzen,
hinausgeht und alle Verhältnisse und Bedürfnisse leidenschaftlos untersucht,
auf sie sein Ideal anwendet und den andern Idealen anfngt. alle unnützen
Kanten abschleifend, der allein bringt etwas zu stände, was Dauer verspricht,
und das muß doch Ziel und Ende aller Politik sein. Aber das thun leider
unsre Freisinnigen lange, lange nicht genug, am allerwenigsten die „Männ¬
lichen"; aber auch die andre Linie hat darin noch sehr viel zu lernen. Daher
aber thun sie sich selbst, dem Staat, der der freisinnigen Ideale nicht entbehren
kann, und dem Ansehen dieser Ideale im Volke großen Schaden. Nicht so
sehr die wirkliche oder angebliche Reaktion entzieht der freisinnigen Partei die
Bedeutung und die Wahlstimmen im Lande, wie die Thorheiten ihrer eignen
Führer und Vertreter.

Diese Unzufriedenheit, die ein großer Teil des freisinnigen Bürgertums,
und darunter gerade die Gebildetsten und Nachdenklichsten, mit der gegen¬
wärtigen freisinnigen Partei, besonders der „Volkspartei," empfindet, betrifft
teilweise die Ideale selbst, wie sie sich in den Fortsetzern der alten Fortschritts¬
partei entwickelt haben, ganz besonders aber die „Parteitaktik."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/261>, abgerufen am 26.06.2024.