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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

gegen das ihn unterdrückende Staatsganze hinein. Viel richtiger ist es, ihn
zu benutzen, ihn zu belehren, wo er irre zu gehen scheint, und ihm würdige
Ziele zum Wohle der Allgemeinheit zu stellen, dabei aber ihm möglichst wenig
Schranken zu setzen, und auch die mit Milde und Ausklärung, nicht mit Ge¬
walt. So wird sich eine fruchtbare, für alle Teile des Vaterlands förderliche
Arbeit entwickeln, in der jeder Teil nicht nur zu seinem Wohl, sondern auch
zu dem Wohl aller andern arbeitet, und das mit Freudigkeit.

Solche Anschauungen haben sich auch in mir von klein auf in meiner
Vaterstadt Danzig ausgebildet, und obwohl ich seitdem durch manche Gaue
des Vaterlands umhergetrieben worden bin, das Ideal des Fortschritts der
Menschheit durch möglichst ungehemmte Entwicklung aller Kräfte, aber in den
Bahnen vernünftiger Gesetze, ist in mir nur immer klarer geworden, ob ich
auch Bekannte von mancherlei Parteien gehabt, reden gehört und rin ihnen
geredet und Zeitungen von verschiednen Farben gelesen habe. In anders¬
gesinnter Umgebung habe ich schweigen gelernt, wo Reden nichts nützte oder
gar schadete. Darum ließ sich doch innere Selbständigkeit und Unabhängigkeit
bewahren. Das eingeborne Streben nach möglichster Unabhängigkeit verstärkte
sich mit den Jahren, selbst in abhängiger Stellung; keinem schuldig zu sein
und sich von niemand beeinflussen zu lassen als von Gewissen und Über¬
zeugung, das wird mir lebenslang das Ideal der persönlichen Stellung
bleiben.

Man wird mir also wohl nicht bestreiten, daß ich auf freisinnigen An¬
schauungsgrunde stehe; und es wird mir, wenn ich jetzt meine Gedanken über
das ausspreche, was sich heutiges Tages im öffentlichen Leben freisinnig nennt,
wohl niemand den Vorwurf machen, daß ich aus Parteifeindschaft ein un¬
günstiges Urteil aussprüche, wo sich mir ein solches aufdrängt.

Unsre heutigen Freisinnigen haben sich in die zwei Gruppen der "Volks¬
partei" und der "Vereinigung" geteilt. Daß die letztere aus der Gesamtpartei
auftrat, ist entschieden zu billigen. Sie allein trägt den Keim einer regierungs¬
fähigen großen liberalen Partei in sich, da sie es nicht allein auf die "Ideale"
abgesehen hat, sondern auch auf Erreichung wünschenswerter Zwecke bedacht
ist, indem sie der Regierungsgewalt gegenüber eine verträglichere Haltung ein¬
nimmt als die "männliche Linie"; bei ihr ist nicht nur vom "freisinnig,"
sondern auch vom "deutsch" etwas zu merken. Freilich hat sie so manche
idealistische Rauheiten mit der andern Hälfte gemein, was erst neuerdings
sehr merklich geworden ist. Und wie wenig sich mit noch so schönen frei¬
sinnigen "Prinzipien" ein gegebner Staat regieren läßt, zeigen z. V. die
französischen Radikalen, die, sobald sie bei der Umdrehung der Windmühle
nach oben kommen, für die Zeit ihres Regiments sehr viel von ihren Idealen
weglassen. Und noch weniger ist dergleichen in Deutschland möglich. Idealen
stehen immer andre Ideale im Wege: dem der unbeschränkten Versammlungs-


Gedanken eines Freisinnigen über die freisinnige Partei

gegen das ihn unterdrückende Staatsganze hinein. Viel richtiger ist es, ihn
zu benutzen, ihn zu belehren, wo er irre zu gehen scheint, und ihm würdige
Ziele zum Wohle der Allgemeinheit zu stellen, dabei aber ihm möglichst wenig
Schranken zu setzen, und auch die mit Milde und Ausklärung, nicht mit Ge¬
walt. So wird sich eine fruchtbare, für alle Teile des Vaterlands förderliche
Arbeit entwickeln, in der jeder Teil nicht nur zu seinem Wohl, sondern auch
zu dem Wohl aller andern arbeitet, und das mit Freudigkeit.

Solche Anschauungen haben sich auch in mir von klein auf in meiner
Vaterstadt Danzig ausgebildet, und obwohl ich seitdem durch manche Gaue
des Vaterlands umhergetrieben worden bin, das Ideal des Fortschritts der
Menschheit durch möglichst ungehemmte Entwicklung aller Kräfte, aber in den
Bahnen vernünftiger Gesetze, ist in mir nur immer klarer geworden, ob ich
auch Bekannte von mancherlei Parteien gehabt, reden gehört und rin ihnen
geredet und Zeitungen von verschiednen Farben gelesen habe. In anders¬
gesinnter Umgebung habe ich schweigen gelernt, wo Reden nichts nützte oder
gar schadete. Darum ließ sich doch innere Selbständigkeit und Unabhängigkeit
bewahren. Das eingeborne Streben nach möglichster Unabhängigkeit verstärkte
sich mit den Jahren, selbst in abhängiger Stellung; keinem schuldig zu sein
und sich von niemand beeinflussen zu lassen als von Gewissen und Über¬
zeugung, das wird mir lebenslang das Ideal der persönlichen Stellung
bleiben.

Man wird mir also wohl nicht bestreiten, daß ich auf freisinnigen An¬
schauungsgrunde stehe; und es wird mir, wenn ich jetzt meine Gedanken über
das ausspreche, was sich heutiges Tages im öffentlichen Leben freisinnig nennt,
wohl niemand den Vorwurf machen, daß ich aus Parteifeindschaft ein un¬
günstiges Urteil aussprüche, wo sich mir ein solches aufdrängt.

Unsre heutigen Freisinnigen haben sich in die zwei Gruppen der „Volks¬
partei" und der „Vereinigung" geteilt. Daß die letztere aus der Gesamtpartei
auftrat, ist entschieden zu billigen. Sie allein trägt den Keim einer regierungs¬
fähigen großen liberalen Partei in sich, da sie es nicht allein auf die „Ideale"
abgesehen hat, sondern auch auf Erreichung wünschenswerter Zwecke bedacht
ist, indem sie der Regierungsgewalt gegenüber eine verträglichere Haltung ein¬
nimmt als die „männliche Linie"; bei ihr ist nicht nur vom „freisinnig,"
sondern auch vom „deutsch" etwas zu merken. Freilich hat sie so manche
idealistische Rauheiten mit der andern Hälfte gemein, was erst neuerdings
sehr merklich geworden ist. Und wie wenig sich mit noch so schönen frei¬
sinnigen „Prinzipien" ein gegebner Staat regieren läßt, zeigen z. V. die
französischen Radikalen, die, sobald sie bei der Umdrehung der Windmühle
nach oben kommen, für die Zeit ihres Regiments sehr viel von ihren Idealen
weglassen. Und noch weniger ist dergleichen in Deutschland möglich. Idealen
stehen immer andre Ideale im Wege: dem der unbeschränkten Versammlungs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/260>, abgerufen am 26.06.2024.