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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Altbairische Wanderungen

der Zugehörigkeit zum Reich. Man darf kühn behaupten, daß diese von Jahr
zu Jahr starker geworden ist und immer noch zunehmen wird, wahrend sich
allerdings die nationale Begeisterung der Jahre nach 1870 nicht so fortgepflanzt
hat, wie man einst hoffen mochte. Der Kulturkampf, die innerpolitischeu Fehler
der nationalliberalen Partei, die früher in Vaiern fast die alleinige Trägerin
dieser Begeisterung war, die wirtschaftliche Entwicklung mit ihren Enttäuschungen
für Bauern und Bürger, das Steigen der Steuerkasten, das "Wapperlgesetz"
und so manches andre hat ernüchternd gewirkt. In die Lücken der alten
ncitionalliberaleu Führer ist kein gleichwertiger Ersatz eingerückt. Doch das ist
eine Erscheinung, die nicht auf Vaiern beschränkt ist. Viel zu viel Wert legt
man in Norddeutschland dem Siglschen "Vaterland" und ähnlichen Organen bei,
die einem Preußenhaß Ausdruck geben, der nur bei einigen extremen Politikern
besteht. Diese in Baiern selbst größtenteils übel berüchtigten Leute vergrößern
die stille Abneigung, der preußisches Wesen in ganz Süddeutschland begegnet,
die aber vielmehr Gemüts- als Verstandessache ist. Der Verstand erkennt die
Verdienste an, die sich Preußen um Deutschland, einschließlich Baierns erworben
hat, das Gemüt fühlt sich zurückgestoßen von so mancher Charaktereigenschaft
der Norddeutschen und besonders der nordostdeutschen; gerade mehr äußerliche
Fehler, wie Eitelkeit, Geschwätzigkeit, Prahlerei, Überhebung stoßen am meisten
ab. Tüchtige Preußen und das Tüchtige an den Preußen haben die ernst¬
haften Leute in Baiern jederzeit anerkannt. Kann man es aber einem Stamme
von so ausgeprägter Eigenart verdenken, wenn er sich gegen die Schmälerung
seines Rechts, nach seiner Art zu leben, mit allen Mitteln wehrt? Die Nord¬
deutschen, die jetzt alljährlich so zahlreich ins Land kommen, sollten doch etwas
um sich schauen, damit sie begreifen lernen, daß keinem deutschen Stamm die
Gleichmacherei so von Natur aus zuwider sein muß wie dem bairischen, und
daß es vielmehr im Interesse Gesamtdeutschlands liegt, eine gesunde Eigenart
zu Pflegen, wo sie noch ist, als unorganische Aufpfropfnngen aufzuzwingen.
Das Beispiel Badens, das seinen zu raschen Anschluß an Preußen mit einer
latenten immerfort wachsenden Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit in allen
Schichten des Volkes erkauft hat, sollte zur Warnung dienen. Natürlich denke
ich bei diesen Bemerkungen nicht in erster Linie an die paar Reservatrechte,
sondern an die allgemeine Achtung des Rechts auf eignes Leben unter eignen
Bedingungen.

Von den vielbesprvchnen Reservatrechten möchte ich nur die Post er¬
wähnen; die ist typisch für die Stellung des Volkes zu diesen Dingen. Die
herrische Post bedient ihr Publikum billiger als die Rcichspost und ist darauf
bedacht, wie besonders das vortreffliche Lcmdpostweseu zeigt, keine begründete
Anforderung unbefriedigt zu lassen. Die Post kann sogar als die öffentliche
Einrichtung Baierns bezeichnet werden, die am wenigsten zu Ausstellungen
Anlaß giebt. Sollten nun auch einmal unsre Postmnrken statt der Löwen den


Altbairische Wanderungen

der Zugehörigkeit zum Reich. Man darf kühn behaupten, daß diese von Jahr
zu Jahr starker geworden ist und immer noch zunehmen wird, wahrend sich
allerdings die nationale Begeisterung der Jahre nach 1870 nicht so fortgepflanzt
hat, wie man einst hoffen mochte. Der Kulturkampf, die innerpolitischeu Fehler
der nationalliberalen Partei, die früher in Vaiern fast die alleinige Trägerin
dieser Begeisterung war, die wirtschaftliche Entwicklung mit ihren Enttäuschungen
für Bauern und Bürger, das Steigen der Steuerkasten, das „Wapperlgesetz"
und so manches andre hat ernüchternd gewirkt. In die Lücken der alten
ncitionalliberaleu Führer ist kein gleichwertiger Ersatz eingerückt. Doch das ist
eine Erscheinung, die nicht auf Vaiern beschränkt ist. Viel zu viel Wert legt
man in Norddeutschland dem Siglschen „Vaterland" und ähnlichen Organen bei,
die einem Preußenhaß Ausdruck geben, der nur bei einigen extremen Politikern
besteht. Diese in Baiern selbst größtenteils übel berüchtigten Leute vergrößern
die stille Abneigung, der preußisches Wesen in ganz Süddeutschland begegnet,
die aber vielmehr Gemüts- als Verstandessache ist. Der Verstand erkennt die
Verdienste an, die sich Preußen um Deutschland, einschließlich Baierns erworben
hat, das Gemüt fühlt sich zurückgestoßen von so mancher Charaktereigenschaft
der Norddeutschen und besonders der nordostdeutschen; gerade mehr äußerliche
Fehler, wie Eitelkeit, Geschwätzigkeit, Prahlerei, Überhebung stoßen am meisten
ab. Tüchtige Preußen und das Tüchtige an den Preußen haben die ernst¬
haften Leute in Baiern jederzeit anerkannt. Kann man es aber einem Stamme
von so ausgeprägter Eigenart verdenken, wenn er sich gegen die Schmälerung
seines Rechts, nach seiner Art zu leben, mit allen Mitteln wehrt? Die Nord¬
deutschen, die jetzt alljährlich so zahlreich ins Land kommen, sollten doch etwas
um sich schauen, damit sie begreifen lernen, daß keinem deutschen Stamm die
Gleichmacherei so von Natur aus zuwider sein muß wie dem bairischen, und
daß es vielmehr im Interesse Gesamtdeutschlands liegt, eine gesunde Eigenart
zu Pflegen, wo sie noch ist, als unorganische Aufpfropfnngen aufzuzwingen.
Das Beispiel Badens, das seinen zu raschen Anschluß an Preußen mit einer
latenten immerfort wachsenden Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit in allen
Schichten des Volkes erkauft hat, sollte zur Warnung dienen. Natürlich denke
ich bei diesen Bemerkungen nicht in erster Linie an die paar Reservatrechte,
sondern an die allgemeine Achtung des Rechts auf eignes Leben unter eignen
Bedingungen.

Von den vielbesprvchnen Reservatrechten möchte ich nur die Post er¬
wähnen; die ist typisch für die Stellung des Volkes zu diesen Dingen. Die
herrische Post bedient ihr Publikum billiger als die Rcichspost und ist darauf
bedacht, wie besonders das vortreffliche Lcmdpostweseu zeigt, keine begründete
Anforderung unbefriedigt zu lassen. Die Post kann sogar als die öffentliche
Einrichtung Baierns bezeichnet werden, die am wenigsten zu Ausstellungen
Anlaß giebt. Sollten nun auch einmal unsre Postmnrken statt der Löwen den


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[0245] Altbairische Wanderungen der Zugehörigkeit zum Reich. Man darf kühn behaupten, daß diese von Jahr zu Jahr starker geworden ist und immer noch zunehmen wird, wahrend sich allerdings die nationale Begeisterung der Jahre nach 1870 nicht so fortgepflanzt hat, wie man einst hoffen mochte. Der Kulturkampf, die innerpolitischeu Fehler der nationalliberalen Partei, die früher in Vaiern fast die alleinige Trägerin dieser Begeisterung war, die wirtschaftliche Entwicklung mit ihren Enttäuschungen für Bauern und Bürger, das Steigen der Steuerkasten, das „Wapperlgesetz" und so manches andre hat ernüchternd gewirkt. In die Lücken der alten ncitionalliberaleu Führer ist kein gleichwertiger Ersatz eingerückt. Doch das ist eine Erscheinung, die nicht auf Vaiern beschränkt ist. Viel zu viel Wert legt man in Norddeutschland dem Siglschen „Vaterland" und ähnlichen Organen bei, die einem Preußenhaß Ausdruck geben, der nur bei einigen extremen Politikern besteht. Diese in Baiern selbst größtenteils übel berüchtigten Leute vergrößern die stille Abneigung, der preußisches Wesen in ganz Süddeutschland begegnet, die aber vielmehr Gemüts- als Verstandessache ist. Der Verstand erkennt die Verdienste an, die sich Preußen um Deutschland, einschließlich Baierns erworben hat, das Gemüt fühlt sich zurückgestoßen von so mancher Charaktereigenschaft der Norddeutschen und besonders der nordostdeutschen; gerade mehr äußerliche Fehler, wie Eitelkeit, Geschwätzigkeit, Prahlerei, Überhebung stoßen am meisten ab. Tüchtige Preußen und das Tüchtige an den Preußen haben die ernst¬ haften Leute in Baiern jederzeit anerkannt. Kann man es aber einem Stamme von so ausgeprägter Eigenart verdenken, wenn er sich gegen die Schmälerung seines Rechts, nach seiner Art zu leben, mit allen Mitteln wehrt? Die Nord¬ deutschen, die jetzt alljährlich so zahlreich ins Land kommen, sollten doch etwas um sich schauen, damit sie begreifen lernen, daß keinem deutschen Stamm die Gleichmacherei so von Natur aus zuwider sein muß wie dem bairischen, und daß es vielmehr im Interesse Gesamtdeutschlands liegt, eine gesunde Eigenart zu Pflegen, wo sie noch ist, als unorganische Aufpfropfnngen aufzuzwingen. Das Beispiel Badens, das seinen zu raschen Anschluß an Preußen mit einer latenten immerfort wachsenden Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit in allen Schichten des Volkes erkauft hat, sollte zur Warnung dienen. Natürlich denke ich bei diesen Bemerkungen nicht in erster Linie an die paar Reservatrechte, sondern an die allgemeine Achtung des Rechts auf eignes Leben unter eignen Bedingungen. Von den vielbesprvchnen Reservatrechten möchte ich nur die Post er¬ wähnen; die ist typisch für die Stellung des Volkes zu diesen Dingen. Die herrische Post bedient ihr Publikum billiger als die Rcichspost und ist darauf bedacht, wie besonders das vortreffliche Lcmdpostweseu zeigt, keine begründete Anforderung unbefriedigt zu lassen. Die Post kann sogar als die öffentliche Einrichtung Baierns bezeichnet werden, die am wenigsten zu Ausstellungen Anlaß giebt. Sollten nun auch einmal unsre Postmnrken statt der Löwen den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/245>, abgerufen am 29.06.2024.