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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Alibcnrische Wanderungen

ausnahmslos in Vaiern wohl. Es ist eine wichtige politische Thatsache, daß
das vor allem von den Schwaben und Franken gilt, die darauf angewiesen
sind, mit den Baiern unter einem Szepter zu leben. Ob der heitre Unter-
franke oder Pfälzer als Negiernngsdirektor oder als "Schmidt" (Gendarm)
zu deu schwerfälligen Altbaiern versetzt wird, er ist in kurzer Zeit daheim und
vergißt im Bierlcmd seine sonnigen Weingehänge. Bedenkt man die bunte
Verschiedenheit der politischen Fetzen, aus denen das bairische Königreich durch
Napoleons Gncideu zusammengeflickt wurde, so ist die Annäherung der drei
Hauptstämme überraschend gelungen. München hat dazu sein redliches Teil bei¬
getragen. Welcher Franke oder Schwabe ist nicht einmal in München gewesen
und hat die Überzeugung mitgenommen, daß der bairische Unterthan mit einer
so glänzenden, jeder Art und Stufe von Geuußliebe entgegenkommenden Haupt¬
stadt wohl zufrieden sein könne?


5

Das Hervortreten Baierns bedenkt für das ganze westliche Süddeutsch¬
land eine Verschiebung der seit Jahrhunderten gewordnen Verhältnisse. Wer
hätte die Erhebung des "weit hinten" liegenden München zur Hauptstadt
Süddeutschlands vor einem halben Jahrhundert für möglich gehalten? Seitdem
Augsburg und Ulm mit dem scheidenden sechzehnten Jahrhundert ihre große
Handelsstellung eingebüßt hatten, hatte sich das Land östlich von der Alb und
der Reguitz immer mehr nach Osten zu geneigt, dem Lauf seines großen, damals
sür den Verkehr ganz anders maßgebenden Stromes folgend, während der
Westen von der großen atlantischen und westeuropäische" Entwicklung rheiu-
wärts und niederlandwärts gezogen wurde. Wien und Frankfurt wollten die
Hauptstädte Süddeutschlands sein, aber beide waren zu exzentrisch gelegen, um
das sein zu können, was dann München in so hervorragendem Maße geworden
ist. München ist zunächst an die Stelle sowohl Regensburgs als Augsburgs
getreten und hat anch nicht wenig von dem übernommen, was einst Nürnberg
gehabt hat, nämlich Bedeutung in Kunst und Kunstgewerbe. Man kann
München nicht die geistige Hauptstadt Süddeutschlands nennen; eine solche zu
entwickeln ist ja unter deutscheu Verhältnissen glücklicherweise überhaupt nicht
möglich. Da würde sich vor allen Stuttgart schön bedanken! Aber allerdings
übt München nicht bloß durch politische Mittel und als Verkehrspuukt seine
Anziehung ans. In seiner Bedeutung sind geistige Elemente, die man sich
aus dem Gesamtleben Deutschlands nicht mehr hercmsdcnken kann. Zu dem,
was dem Antlitz des heutigen Deutschlands geistigen Ausdruck verleiht, trägt
außer Berlin München das meiste bei. Welcher Gegensatz zu der Zeit, wo
Baiern am geistigen Leben West- und Norddeutschlands kaum Anteil nahm!

Man liebt es, das geistige Leben und Schaffen Münchens als eine zarte
Pflanze darzustelle", für deren Gedeihen durch Ludwig I. und Maximilian


Alibcnrische Wanderungen

ausnahmslos in Vaiern wohl. Es ist eine wichtige politische Thatsache, daß
das vor allem von den Schwaben und Franken gilt, die darauf angewiesen
sind, mit den Baiern unter einem Szepter zu leben. Ob der heitre Unter-
franke oder Pfälzer als Negiernngsdirektor oder als „Schmidt" (Gendarm)
zu deu schwerfälligen Altbaiern versetzt wird, er ist in kurzer Zeit daheim und
vergißt im Bierlcmd seine sonnigen Weingehänge. Bedenkt man die bunte
Verschiedenheit der politischen Fetzen, aus denen das bairische Königreich durch
Napoleons Gncideu zusammengeflickt wurde, so ist die Annäherung der drei
Hauptstämme überraschend gelungen. München hat dazu sein redliches Teil bei¬
getragen. Welcher Franke oder Schwabe ist nicht einmal in München gewesen
und hat die Überzeugung mitgenommen, daß der bairische Unterthan mit einer
so glänzenden, jeder Art und Stufe von Geuußliebe entgegenkommenden Haupt¬
stadt wohl zufrieden sein könne?


5

Das Hervortreten Baierns bedenkt für das ganze westliche Süddeutsch¬
land eine Verschiebung der seit Jahrhunderten gewordnen Verhältnisse. Wer
hätte die Erhebung des „weit hinten" liegenden München zur Hauptstadt
Süddeutschlands vor einem halben Jahrhundert für möglich gehalten? Seitdem
Augsburg und Ulm mit dem scheidenden sechzehnten Jahrhundert ihre große
Handelsstellung eingebüßt hatten, hatte sich das Land östlich von der Alb und
der Reguitz immer mehr nach Osten zu geneigt, dem Lauf seines großen, damals
sür den Verkehr ganz anders maßgebenden Stromes folgend, während der
Westen von der großen atlantischen und westeuropäische» Entwicklung rheiu-
wärts und niederlandwärts gezogen wurde. Wien und Frankfurt wollten die
Hauptstädte Süddeutschlands sein, aber beide waren zu exzentrisch gelegen, um
das sein zu können, was dann München in so hervorragendem Maße geworden
ist. München ist zunächst an die Stelle sowohl Regensburgs als Augsburgs
getreten und hat anch nicht wenig von dem übernommen, was einst Nürnberg
gehabt hat, nämlich Bedeutung in Kunst und Kunstgewerbe. Man kann
München nicht die geistige Hauptstadt Süddeutschlands nennen; eine solche zu
entwickeln ist ja unter deutscheu Verhältnissen glücklicherweise überhaupt nicht
möglich. Da würde sich vor allen Stuttgart schön bedanken! Aber allerdings
übt München nicht bloß durch politische Mittel und als Verkehrspuukt seine
Anziehung ans. In seiner Bedeutung sind geistige Elemente, die man sich
aus dem Gesamtleben Deutschlands nicht mehr hercmsdcnken kann. Zu dem,
was dem Antlitz des heutigen Deutschlands geistigen Ausdruck verleiht, trägt
außer Berlin München das meiste bei. Welcher Gegensatz zu der Zeit, wo
Baiern am geistigen Leben West- und Norddeutschlands kaum Anteil nahm!

Man liebt es, das geistige Leben und Schaffen Münchens als eine zarte
Pflanze darzustelle», für deren Gedeihen durch Ludwig I. und Maximilian


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[0197] Alibcnrische Wanderungen ausnahmslos in Vaiern wohl. Es ist eine wichtige politische Thatsache, daß das vor allem von den Schwaben und Franken gilt, die darauf angewiesen sind, mit den Baiern unter einem Szepter zu leben. Ob der heitre Unter- franke oder Pfälzer als Negiernngsdirektor oder als „Schmidt" (Gendarm) zu deu schwerfälligen Altbaiern versetzt wird, er ist in kurzer Zeit daheim und vergißt im Bierlcmd seine sonnigen Weingehänge. Bedenkt man die bunte Verschiedenheit der politischen Fetzen, aus denen das bairische Königreich durch Napoleons Gncideu zusammengeflickt wurde, so ist die Annäherung der drei Hauptstämme überraschend gelungen. München hat dazu sein redliches Teil bei¬ getragen. Welcher Franke oder Schwabe ist nicht einmal in München gewesen und hat die Überzeugung mitgenommen, daß der bairische Unterthan mit einer so glänzenden, jeder Art und Stufe von Geuußliebe entgegenkommenden Haupt¬ stadt wohl zufrieden sein könne? 5 Das Hervortreten Baierns bedenkt für das ganze westliche Süddeutsch¬ land eine Verschiebung der seit Jahrhunderten gewordnen Verhältnisse. Wer hätte die Erhebung des „weit hinten" liegenden München zur Hauptstadt Süddeutschlands vor einem halben Jahrhundert für möglich gehalten? Seitdem Augsburg und Ulm mit dem scheidenden sechzehnten Jahrhundert ihre große Handelsstellung eingebüßt hatten, hatte sich das Land östlich von der Alb und der Reguitz immer mehr nach Osten zu geneigt, dem Lauf seines großen, damals sür den Verkehr ganz anders maßgebenden Stromes folgend, während der Westen von der großen atlantischen und westeuropäische» Entwicklung rheiu- wärts und niederlandwärts gezogen wurde. Wien und Frankfurt wollten die Hauptstädte Süddeutschlands sein, aber beide waren zu exzentrisch gelegen, um das sein zu können, was dann München in so hervorragendem Maße geworden ist. München ist zunächst an die Stelle sowohl Regensburgs als Augsburgs getreten und hat anch nicht wenig von dem übernommen, was einst Nürnberg gehabt hat, nämlich Bedeutung in Kunst und Kunstgewerbe. Man kann München nicht die geistige Hauptstadt Süddeutschlands nennen; eine solche zu entwickeln ist ja unter deutscheu Verhältnissen glücklicherweise überhaupt nicht möglich. Da würde sich vor allen Stuttgart schön bedanken! Aber allerdings übt München nicht bloß durch politische Mittel und als Verkehrspuukt seine Anziehung ans. In seiner Bedeutung sind geistige Elemente, die man sich aus dem Gesamtleben Deutschlands nicht mehr hercmsdcnken kann. Zu dem, was dem Antlitz des heutigen Deutschlands geistigen Ausdruck verleiht, trägt außer Berlin München das meiste bei. Welcher Gegensatz zu der Zeit, wo Baiern am geistigen Leben West- und Norddeutschlands kaum Anteil nahm! Man liebt es, das geistige Leben und Schaffen Münchens als eine zarte Pflanze darzustelle», für deren Gedeihen durch Ludwig I. und Maximilian

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/197>, abgerufen am 29.06.2024.