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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Line Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelms I.

Dennoch war er keineswegs gesonnen, sich in beschaulicher Muße auf sein
Altenteil zurückzuziehen oder sich gar zum bloßen Schaustück der neuen Reichsver-
fassung Herabdrücken zu lassen. Bis zum letzten Atemzuge hielt er die Fäden
des Regiments straff in der Hand -- die Frage, ob Stellvertretung oder
Regentschaft des Kronprinzen nach dem Nobilingschen Attentat 1878, beweist
deutlich, daß er seine Rechte zu Lebzeiten mit keinem zu teilen gewillt war.
Durch fleißige, unermüdliche Arbeit suchte er sich aber auch die Ehren seiner
Stellung täglich aufs neue zu verdienen. Es ist rührend, zu sehen, wie er
sich noch im höchsten Alter einen Kursus über Encyklopädie der Rechtswissen¬
schaft vortragen läßt, um einen Anhalt für die Entscheidung über die neuen
Justizgesetze zu gewinnen. "Er hat dann die Entwürfe, die man ihm vorlegte,
eigenhändig durchgearbeitet; man fand nach seinem Tode zahlreiche, engbe-
schriebne Bogen mit Auszügen daraus." Die Pflichttreue im großen wie im
kleinen, dieser so hervorstechende Zug seines Charakters verbot ihm, müde zu
werden, so lange es Tag war. Wer möchte wohl ermessen, welchen Einfluß
sie auf seine erstaunliche körperliche und geistige Rüstigkeit ausgeübt hat! So
begleitete er mit lebhafter persönlicher Teilnahme die Schicksale der Nation,
die Wandlungen der Politik. Seelische Kämpfe blieben ihm auch jetzt nicht
erspart: das Septennat, die Zivilehe, die Anknüpfung des Bündnisses mit
Österreich, das seine Spitze gegen Rußland zu richten schien, und manches
andre, besonders aus der Zeit der liberale" Ära, dies alles machte ihm Be¬
denken. Sogar körperliche Schmerzen mußte er, der Gütige und Milde, dem zur
Verkörperung despotischen Wesens alles fehlte, nach dem Attentat Nobilings
für sein Volk leiden. Aber das waren nur einzelne dunkle Wolken an dem
Abendhimmel seines Lebens. Im ganzen überwog doch der Glanz, die Wärme,
die innere Harmonie, worin sein reiches Tagewerk ausklang.

Wesentlich trug dazu der große allgemeine Umschwung der Politik bei,
den Bismarck seit 1879 allmählich vorbereitete und dann in den achtziger
Jahren mit ungeschwüchter Geistes- und Willenskraft durchsetzte. Zum letzten-
male mutete er seinem Herrn die Aufnahme neuer Ideen zu. Als der soziale
Herrscher der beiden kaiserlichen Botschaften von 1881 und 1883 sollte er der
Monarchie, dem Staate, der Gesellschaft neue Bahnen in eine kampfdrohende und
vorläufig noch dunkle Zukunft weisen. Aber diese neue, vom weltgeschichtlichen
Standpunkte aus betrachtet entschieden wichtigste Wendung, die Wilhelm über¬
haupt mitgemacht hat, wurde ihm persönlich am leichtesten. "Wie der Zollreform,
so schloß er sich der Sozialreform mit freudiger Seele und vollster Hingebung
an. Sie sagte seinem christlichen und seinem patriarchalisch-preußischen Gefühle
zu; schon in den Zeiten, da Gedanken dieser Art nicht im Vordergrunde standen,
als junger Prinz, als Prinz von Preußen, als König während des Konflikts,
hatte er gelegentlich die sozialen Pflichten seiner Krone warm betont. So
ließ er sich durch den Schwung der neuen Aufgaben, den Schwung der


Line Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelms I.

Dennoch war er keineswegs gesonnen, sich in beschaulicher Muße auf sein
Altenteil zurückzuziehen oder sich gar zum bloßen Schaustück der neuen Reichsver-
fassung Herabdrücken zu lassen. Bis zum letzten Atemzuge hielt er die Fäden
des Regiments straff in der Hand — die Frage, ob Stellvertretung oder
Regentschaft des Kronprinzen nach dem Nobilingschen Attentat 1878, beweist
deutlich, daß er seine Rechte zu Lebzeiten mit keinem zu teilen gewillt war.
Durch fleißige, unermüdliche Arbeit suchte er sich aber auch die Ehren seiner
Stellung täglich aufs neue zu verdienen. Es ist rührend, zu sehen, wie er
sich noch im höchsten Alter einen Kursus über Encyklopädie der Rechtswissen¬
schaft vortragen läßt, um einen Anhalt für die Entscheidung über die neuen
Justizgesetze zu gewinnen. „Er hat dann die Entwürfe, die man ihm vorlegte,
eigenhändig durchgearbeitet; man fand nach seinem Tode zahlreiche, engbe-
schriebne Bogen mit Auszügen daraus." Die Pflichttreue im großen wie im
kleinen, dieser so hervorstechende Zug seines Charakters verbot ihm, müde zu
werden, so lange es Tag war. Wer möchte wohl ermessen, welchen Einfluß
sie auf seine erstaunliche körperliche und geistige Rüstigkeit ausgeübt hat! So
begleitete er mit lebhafter persönlicher Teilnahme die Schicksale der Nation,
die Wandlungen der Politik. Seelische Kämpfe blieben ihm auch jetzt nicht
erspart: das Septennat, die Zivilehe, die Anknüpfung des Bündnisses mit
Österreich, das seine Spitze gegen Rußland zu richten schien, und manches
andre, besonders aus der Zeit der liberale» Ära, dies alles machte ihm Be¬
denken. Sogar körperliche Schmerzen mußte er, der Gütige und Milde, dem zur
Verkörperung despotischen Wesens alles fehlte, nach dem Attentat Nobilings
für sein Volk leiden. Aber das waren nur einzelne dunkle Wolken an dem
Abendhimmel seines Lebens. Im ganzen überwog doch der Glanz, die Wärme,
die innere Harmonie, worin sein reiches Tagewerk ausklang.

Wesentlich trug dazu der große allgemeine Umschwung der Politik bei,
den Bismarck seit 1879 allmählich vorbereitete und dann in den achtziger
Jahren mit ungeschwüchter Geistes- und Willenskraft durchsetzte. Zum letzten-
male mutete er seinem Herrn die Aufnahme neuer Ideen zu. Als der soziale
Herrscher der beiden kaiserlichen Botschaften von 1881 und 1883 sollte er der
Monarchie, dem Staate, der Gesellschaft neue Bahnen in eine kampfdrohende und
vorläufig noch dunkle Zukunft weisen. Aber diese neue, vom weltgeschichtlichen
Standpunkte aus betrachtet entschieden wichtigste Wendung, die Wilhelm über¬
haupt mitgemacht hat, wurde ihm persönlich am leichtesten. „Wie der Zollreform,
so schloß er sich der Sozialreform mit freudiger Seele und vollster Hingebung
an. Sie sagte seinem christlichen und seinem patriarchalisch-preußischen Gefühle
zu; schon in den Zeiten, da Gedanken dieser Art nicht im Vordergrunde standen,
als junger Prinz, als Prinz von Preußen, als König während des Konflikts,
hatte er gelegentlich die sozialen Pflichten seiner Krone warm betont. So
ließ er sich durch den Schwung der neuen Aufgaben, den Schwung der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/189>, abgerufen am 29.06.2024.