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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Line Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelms I.

der dänischen und österreichischen Frage, in der Auffassung der Jndemnitäts-
vorlage und in noch vielen andern Punkten von größerer und geringerer Be¬
deutung wich er anfangs von den Anschauungen seines Ministerpräsidenten ab,
und es war mitunter sehr schwierig, die Kluft zwischen beiden zu überbrücken.
Am schwersten fiel es wohl dem König, Bismarck auf dem Wege der liberalen
Gesetzgebung zu folgen, die 1867 begonnen wurde, und am allerschwersten wurde
ihm der Abschied von seinem geliebten alten Preußen, den die Krönung des
deutschen Einheitswerkes von ihm -- allerdings mehr äußerlich als that¬
sächlich -- zu erheischen schien. Kein Tag in seinem neunzigjährigen Leben
offenbart uns eine so tragische Erschütterung seines Innern, als jener 17. Januar
des Jahres 1871. Während sich daheim im Vaterlande Millionen patriotisch
glühender Herzen anschickten, ihm den langersehnten Kaisergruß entgegen¬
zujubeln, saß er, der erwachende Barbarossa, im Siegerkranz eines märchen¬
haften Kriegsglücks in der Präfektur zu Versailles vor den Thoren der in den
letzten Zuckungen des Widerstands liegenden Hauptstadt des Erbfeinds und
fühlte sich "so moros, daß er drauf und dran war, zurückzutreten und seinem
Sohne alles zu überlassen." "Wir verstehen ihn -- so erläutert Marcks diese
Stimmung --, wenn wir aus seines getreuesten Dieners, des Kriegsministers
Munde eine ganz ähnliche Klage wie aus dem seinigen vernehmen. Ihr eigner
Sieg schien die innere Welt dieser Sieger zu zertrümmern. Und sie über¬
wanden sich beide, in die neue Welt überzutreten, die nicht die ihre sei. Es
war wieder der Segen dieser zähen Treue, daß sie erwies, wie stark und
sittlich lebensvoll das Alte war; weil es nicht leichthin sich selber darangab,
eben darum blieb es in dem jetzt gegründeten, ehrlich von ihm ergriffnen
neuen Reiche eine triebkrüftige und leistungsfähige eigne Macht."

Diese Worte führen von selbst dazu, auch die Kehrseite der Medaille ins
Ange zu fassen. In den vielfachen Meinungsverschiedenheiten mit Bismarck
erscheint der König im allgemeinen als der nachgebende, schwächere Teil. Aber
es würde ganz falsch sein, in ihm etwa nur einen gelegentlichen Hemmschuh
Vismarckischer Genialität zu sehen. Marcks wägt die Vorzüge des Königs
mit demselben Gewicht ab wie die seines Ratgebers. Wilhelm ist ohne Bis¬
marck nicht denkbar -- ganz gewiß, aber Bismarck ebenso wenig ohne Wilhelm.
Welcher Hohenzoller seit den Tagen des Großen Kurfürsten würde einen solchen
Titanen in so unvergleichlicher Weise dauernd neben sich ertragen haben?
Keiner, Friedrich II. freilich nur deshalb nicht, weil er den Genius in der
eignen Brust trug. Aber auch Wilhelm I. würde es nicht vermocht haben,
wenn er nicht eine mächtige Ader geistiger Verwandtschaft mit Bismarck gehabt
hätte: den Trieb für Preußens Größe und Macht, und wenn nicht schließlich
bei allen Differenzen die sachliche Notwendigkeit den Ausschlag gegeben Hütte,
deren Erkenntnis sich der Herrscher nicht verschließen konnte. So ertrug er
den genialen Staatsmann an seiner Seite: willig, neidlos, ohne sich und seiner


Grenzboten IV 1897 23
Line Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelms I.

der dänischen und österreichischen Frage, in der Auffassung der Jndemnitäts-
vorlage und in noch vielen andern Punkten von größerer und geringerer Be¬
deutung wich er anfangs von den Anschauungen seines Ministerpräsidenten ab,
und es war mitunter sehr schwierig, die Kluft zwischen beiden zu überbrücken.
Am schwersten fiel es wohl dem König, Bismarck auf dem Wege der liberalen
Gesetzgebung zu folgen, die 1867 begonnen wurde, und am allerschwersten wurde
ihm der Abschied von seinem geliebten alten Preußen, den die Krönung des
deutschen Einheitswerkes von ihm — allerdings mehr äußerlich als that¬
sächlich — zu erheischen schien. Kein Tag in seinem neunzigjährigen Leben
offenbart uns eine so tragische Erschütterung seines Innern, als jener 17. Januar
des Jahres 1871. Während sich daheim im Vaterlande Millionen patriotisch
glühender Herzen anschickten, ihm den langersehnten Kaisergruß entgegen¬
zujubeln, saß er, der erwachende Barbarossa, im Siegerkranz eines märchen¬
haften Kriegsglücks in der Präfektur zu Versailles vor den Thoren der in den
letzten Zuckungen des Widerstands liegenden Hauptstadt des Erbfeinds und
fühlte sich „so moros, daß er drauf und dran war, zurückzutreten und seinem
Sohne alles zu überlassen." „Wir verstehen ihn — so erläutert Marcks diese
Stimmung —, wenn wir aus seines getreuesten Dieners, des Kriegsministers
Munde eine ganz ähnliche Klage wie aus dem seinigen vernehmen. Ihr eigner
Sieg schien die innere Welt dieser Sieger zu zertrümmern. Und sie über¬
wanden sich beide, in die neue Welt überzutreten, die nicht die ihre sei. Es
war wieder der Segen dieser zähen Treue, daß sie erwies, wie stark und
sittlich lebensvoll das Alte war; weil es nicht leichthin sich selber darangab,
eben darum blieb es in dem jetzt gegründeten, ehrlich von ihm ergriffnen
neuen Reiche eine triebkrüftige und leistungsfähige eigne Macht."

Diese Worte führen von selbst dazu, auch die Kehrseite der Medaille ins
Ange zu fassen. In den vielfachen Meinungsverschiedenheiten mit Bismarck
erscheint der König im allgemeinen als der nachgebende, schwächere Teil. Aber
es würde ganz falsch sein, in ihm etwa nur einen gelegentlichen Hemmschuh
Vismarckischer Genialität zu sehen. Marcks wägt die Vorzüge des Königs
mit demselben Gewicht ab wie die seines Ratgebers. Wilhelm ist ohne Bis¬
marck nicht denkbar — ganz gewiß, aber Bismarck ebenso wenig ohne Wilhelm.
Welcher Hohenzoller seit den Tagen des Großen Kurfürsten würde einen solchen
Titanen in so unvergleichlicher Weise dauernd neben sich ertragen haben?
Keiner, Friedrich II. freilich nur deshalb nicht, weil er den Genius in der
eignen Brust trug. Aber auch Wilhelm I. würde es nicht vermocht haben,
wenn er nicht eine mächtige Ader geistiger Verwandtschaft mit Bismarck gehabt
hätte: den Trieb für Preußens Größe und Macht, und wenn nicht schließlich
bei allen Differenzen die sachliche Notwendigkeit den Ausschlag gegeben Hütte,
deren Erkenntnis sich der Herrscher nicht verschließen konnte. So ertrug er
den genialen Staatsmann an seiner Seite: willig, neidlos, ohne sich und seiner


Grenzboten IV 1897 23
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/187>, abgerufen am 29.06.2024.