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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Line Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelms I.

treten auf dem Felde der innern Politik. Das Ministerium der neuen Ära,
seine erste selbständige politische Schöpfung entsprach in seinen Leistungen
weder den Erwartungen seines Schöpfers noch den überschwänglichen Hoff¬
nungen, mit denen es von der liberalen öffentlichen Meinung begrüßt worden
war. Und nun gar erst die Militärreorganisation! Wir begreifen, daß viel¬
leicht kein Stachel während seines ganzen langen Lebens sich so tief in seine
Seele eingedrückt hat, wie der Widerstand gegen diese "seine erste große eigne
Leistung im innern Staatsleben," die zugleich seine bedeutendste und verdienst¬
vollste bleiben sollte. Hier kannte er kein Zandern, kein Ausweichen, noch gar
ein Zurück. Mit der Reorganisation der Armee stand und fiel er, und -- er
war nahe, bedenklich nahe daran, wirklich zu fallen. Der furchtbare Konflikt
zwischen der Unmöglichkeit, sich mit der Mehrheit des liberalen Abgeordneten¬
hauses zu verständigen, und der Unmöglichkeit, das Aufgeben der Reorganisation
vor sich, seinem Staate und der Geschichte zu verantworten, zerrieb seine
moralischen und Willenskräfte in einer Weise, daß es mit seiner Energie und
Staatskunst zu Ende war. Bekanntlich trug er im September 1862 seine
Abdankungsurkuude fertig in der Tasche. Nur noch ein leiser Druck von
irgend einer gegnerischen Seite, und sein politisches Dasein hätte mit einem
schrillen Mißklang geendet. Es wäre vielleicht die größte Tragik in der
preußischen Geschichte gewesen.

Da stellte der Genius seines Hauses und seines Staates ihm den ge¬
waltigen Helden zur Seite, der ihm nicht nur den Ausweg ans den Nöten
des Augenblicks, sondern zugleich die Bahn zur Unsterblichkeit wies.

Die Berufung Bismnrcks zum Leiter der preußischen Politik stellt dem
Biographen seines königlichen Herrn eine neue reizvolle, aber auch schwierige Auf¬
gabe. Aber Marcks hat auch sie glänzend gelöst. Was er über das Verhältnis
der beiden Männer zu einander sagt, gehört unstreitig zu dem besten in der
an vortrefflichen Ausführungen so reichen Arbeit. "In die Kreise der neuen
Ära -- so zeichnet er den Beginn ihres gemeinschaftlichen Wirkens -- paßte
Bismarck nicht hinein; auch nicht in die Kreise des Regenten und Königs,
wie sie damals waren. Weshalb aber eigentlich nicht? Man kann nicht
sagen, daß damals die Ziele des Gesandten und des Herrschers soweit aus¬
einandergegangen wären. In allen Beziehungen ^der innern und aus¬
wärtigen Politik^ war den beiden Männern eins gemeinsam, gerade das
spezifische in ihnen: die ausschließlich preußische Gesinnung. Nicht diese Ziele,
auch nicht wichtige Einzelheiten des politischen Programms waren es, die sie
trennten, sondern die Energie in der Verfolgung der Ziele. Dem Preußischen,
Deutschen, Europäischen gegenüber -- überall war doch ein Gradunterschied
zwischen Wilhelm und Bismarck vorhanden; überall wollte der Zweite etwas
mehr, war er freier, rücksichtsloser, kühner. Und dieser Gradunterschied war
entscheidend. Erst wenn der Strom dieses preußischen Willens, der durch sie


Line Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelms I.

treten auf dem Felde der innern Politik. Das Ministerium der neuen Ära,
seine erste selbständige politische Schöpfung entsprach in seinen Leistungen
weder den Erwartungen seines Schöpfers noch den überschwänglichen Hoff¬
nungen, mit denen es von der liberalen öffentlichen Meinung begrüßt worden
war. Und nun gar erst die Militärreorganisation! Wir begreifen, daß viel¬
leicht kein Stachel während seines ganzen langen Lebens sich so tief in seine
Seele eingedrückt hat, wie der Widerstand gegen diese „seine erste große eigne
Leistung im innern Staatsleben," die zugleich seine bedeutendste und verdienst¬
vollste bleiben sollte. Hier kannte er kein Zandern, kein Ausweichen, noch gar
ein Zurück. Mit der Reorganisation der Armee stand und fiel er, und — er
war nahe, bedenklich nahe daran, wirklich zu fallen. Der furchtbare Konflikt
zwischen der Unmöglichkeit, sich mit der Mehrheit des liberalen Abgeordneten¬
hauses zu verständigen, und der Unmöglichkeit, das Aufgeben der Reorganisation
vor sich, seinem Staate und der Geschichte zu verantworten, zerrieb seine
moralischen und Willenskräfte in einer Weise, daß es mit seiner Energie und
Staatskunst zu Ende war. Bekanntlich trug er im September 1862 seine
Abdankungsurkuude fertig in der Tasche. Nur noch ein leiser Druck von
irgend einer gegnerischen Seite, und sein politisches Dasein hätte mit einem
schrillen Mißklang geendet. Es wäre vielleicht die größte Tragik in der
preußischen Geschichte gewesen.

Da stellte der Genius seines Hauses und seines Staates ihm den ge¬
waltigen Helden zur Seite, der ihm nicht nur den Ausweg ans den Nöten
des Augenblicks, sondern zugleich die Bahn zur Unsterblichkeit wies.

Die Berufung Bismnrcks zum Leiter der preußischen Politik stellt dem
Biographen seines königlichen Herrn eine neue reizvolle, aber auch schwierige Auf¬
gabe. Aber Marcks hat auch sie glänzend gelöst. Was er über das Verhältnis
der beiden Männer zu einander sagt, gehört unstreitig zu dem besten in der
an vortrefflichen Ausführungen so reichen Arbeit. „In die Kreise der neuen
Ära — so zeichnet er den Beginn ihres gemeinschaftlichen Wirkens — paßte
Bismarck nicht hinein; auch nicht in die Kreise des Regenten und Königs,
wie sie damals waren. Weshalb aber eigentlich nicht? Man kann nicht
sagen, daß damals die Ziele des Gesandten und des Herrschers soweit aus¬
einandergegangen wären. In allen Beziehungen ^der innern und aus¬
wärtigen Politik^ war den beiden Männern eins gemeinsam, gerade das
spezifische in ihnen: die ausschließlich preußische Gesinnung. Nicht diese Ziele,
auch nicht wichtige Einzelheiten des politischen Programms waren es, die sie
trennten, sondern die Energie in der Verfolgung der Ziele. Dem Preußischen,
Deutschen, Europäischen gegenüber — überall war doch ein Gradunterschied
zwischen Wilhelm und Bismarck vorhanden; überall wollte der Zweite etwas
mehr, war er freier, rücksichtsloser, kühner. Und dieser Gradunterschied war
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/185>, abgerufen am 28.09.2024.