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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Line Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelms I.

weil sein Wesen aus allen Abweichungen, immer so bald wieder zur Mitte
zurückkehrt. Größe und Begrenztheit seiner Art hatten sich in diesen sechzig
Jahren deutlich ausgezeichnet und bewährt: er war keine starke Natur, die sich
selber gewaltig die Bahnen bricht, weder von niederwerfender Wucht, noch von
leidenschaftlich-selbstbewußter Zähigkeit. Bisher hatte er den Anforderungen
seines Lebens allen genügt. Er brauchte Rat und nahm die Einflüsse willig
in sich auf, war gegen die Seinen, die Gemahlin, die Vertrauten von anhäng¬
licher und dankbarer Treue. Daß er sich bis dahin von einem Hütte leiten
lassen, wird man nicht sagen können: er trug das Maß in sich, nach dem
sein Wesen und sein Handeln sich immer wieder regelte. So hatte er bisher
all seine Kämpfe gewissenhaft und ernsthaft, selbständig durchgestritten. So
vorbereitet, männlich, praktisch, klar, weiterfahren fand ihn die Stunde, die
jetzt die Leitung seines Staates in seine Hände legte. Wie würde das
höchste menschliche Amt von diesem fürstlichen Manne ausgefüllt werden, wie
würde die neue, größere Pflicht auf sein Inneres zurückwirken? Vielleicht
wird seine Gestalt den Spätern, denen sie weniger selbstverständlich ist, schärfer
und eigner als uns vor das Auge treten; vielleicht wird sich ihnen auch das
Schauspiel noch ergreifender darstellen, wie diese konservative, gleichmäßige
Natur nun unmittelbar und entscheidungsvoll mit den Aufgaben und Ge¬
sinnungen einer wirren Zeit zusammentrifft, die der Zukunft anch so viel
fremder und deshalb so viel charakteristischer erscheinen wird als uns. Das
erkennen wir schon heute: unendlich schwereres als bisher stand vor ihm,
Gegensätze, die sich im Kampfe enthüllen und mit einander messen, neue Er¬
fahrungen, die sich ihm selber ergeben mußten. Stärken und Schwächen
seines Wesens sollten sich erst in ihnen ganz entfalten und ganz auswirken."

Die Jahre von 1857 bis 1362 sind für die Beurteilung der staats¬
männischen Fähigkeiten Wilhelms I. in gewissem Sinne die wichtigsten und
lehrreichsten überhaupt. "Damals hat Wilhelm I. versucht, die Fragen der
Zeit selber zu lösen: er ist damit nicht durchgedrungen, aber er hat dennoch
in diesen fünf Jahren sein Eigenstes gethan, und auch sachlich sind es die
Zeiten der Grundlegung für alles Künftige." Auf dem Gebiete der aus¬
wärtigen Politik trat die deutsche Frage immer schärfer in den Vordergrund.
"Wer Deutschland regieren will, muß es sich erobern," hatte der Prinz von
Preußen 1849 geschrieben. Jetzt, wo ihm das Schwert in die Hand gelegt
war, zaudert er aber, es aus der Scheide zu ziehen, obwohl der Augenblick
beim Ausbruch des französisch-österreichischen Krieges von 1859 manchem
Kühnern sehr günstig schien. Marcks trifft wohl das richtige, wenn er unter
den Gründen dieses Zauderns besonders das Gefühl der Verantwortung betont,
das jetzt mit ganz andrer Wucht auf der Seele des Herrschers lastete als zehn
Jahre früher.

Noch weit unglücklicher erschien in den Augen der Welt sein erstes Auf-


Line Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelms I.

weil sein Wesen aus allen Abweichungen, immer so bald wieder zur Mitte
zurückkehrt. Größe und Begrenztheit seiner Art hatten sich in diesen sechzig
Jahren deutlich ausgezeichnet und bewährt: er war keine starke Natur, die sich
selber gewaltig die Bahnen bricht, weder von niederwerfender Wucht, noch von
leidenschaftlich-selbstbewußter Zähigkeit. Bisher hatte er den Anforderungen
seines Lebens allen genügt. Er brauchte Rat und nahm die Einflüsse willig
in sich auf, war gegen die Seinen, die Gemahlin, die Vertrauten von anhäng¬
licher und dankbarer Treue. Daß er sich bis dahin von einem Hütte leiten
lassen, wird man nicht sagen können: er trug das Maß in sich, nach dem
sein Wesen und sein Handeln sich immer wieder regelte. So hatte er bisher
all seine Kämpfe gewissenhaft und ernsthaft, selbständig durchgestritten. So
vorbereitet, männlich, praktisch, klar, weiterfahren fand ihn die Stunde, die
jetzt die Leitung seines Staates in seine Hände legte. Wie würde das
höchste menschliche Amt von diesem fürstlichen Manne ausgefüllt werden, wie
würde die neue, größere Pflicht auf sein Inneres zurückwirken? Vielleicht
wird seine Gestalt den Spätern, denen sie weniger selbstverständlich ist, schärfer
und eigner als uns vor das Auge treten; vielleicht wird sich ihnen auch das
Schauspiel noch ergreifender darstellen, wie diese konservative, gleichmäßige
Natur nun unmittelbar und entscheidungsvoll mit den Aufgaben und Ge¬
sinnungen einer wirren Zeit zusammentrifft, die der Zukunft anch so viel
fremder und deshalb so viel charakteristischer erscheinen wird als uns. Das
erkennen wir schon heute: unendlich schwereres als bisher stand vor ihm,
Gegensätze, die sich im Kampfe enthüllen und mit einander messen, neue Er¬
fahrungen, die sich ihm selber ergeben mußten. Stärken und Schwächen
seines Wesens sollten sich erst in ihnen ganz entfalten und ganz auswirken."

Die Jahre von 1857 bis 1362 sind für die Beurteilung der staats¬
männischen Fähigkeiten Wilhelms I. in gewissem Sinne die wichtigsten und
lehrreichsten überhaupt. „Damals hat Wilhelm I. versucht, die Fragen der
Zeit selber zu lösen: er ist damit nicht durchgedrungen, aber er hat dennoch
in diesen fünf Jahren sein Eigenstes gethan, und auch sachlich sind es die
Zeiten der Grundlegung für alles Künftige." Auf dem Gebiete der aus¬
wärtigen Politik trat die deutsche Frage immer schärfer in den Vordergrund.
„Wer Deutschland regieren will, muß es sich erobern," hatte der Prinz von
Preußen 1849 geschrieben. Jetzt, wo ihm das Schwert in die Hand gelegt
war, zaudert er aber, es aus der Scheide zu ziehen, obwohl der Augenblick
beim Ausbruch des französisch-österreichischen Krieges von 1859 manchem
Kühnern sehr günstig schien. Marcks trifft wohl das richtige, wenn er unter
den Gründen dieses Zauderns besonders das Gefühl der Verantwortung betont,
das jetzt mit ganz andrer Wucht auf der Seele des Herrschers lastete als zehn
Jahre früher.

Noch weit unglücklicher erschien in den Augen der Welt sein erstes Auf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/184>, abgerufen am 29.06.2024.