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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Vererbung

dem Herrn Meyer die schöne krumme Nase seines Urgroßvaters ins Gesicht
bauen, während die Eltern und Großeltern gerade Nasen gehabt haben, die
sie bauen, obwohl sie nie in ihrem Leben eine Nase gesehen haben, sintemal
sie niemals aus ihrer dunkeln Behausung heraus ans Tageslicht gekommen
sind; man denke sich Determinanten, die Gehirnzellen mit der Fähigkeit aus¬
statten, Töne wahrzunehmen, Tonintervalle abzuschätzen, Gedanken zu hegen,
Wortbilder festzuhalten und für ihre Wiedergabe zu sorgen; man denke sich
Determinanten, die das Gehirn einer Bienenkönigin so ausrüsten, daß sie
einmal in ihrem kurzen Leben einen Hochzeitsflug unternimmt, die ganze übrige
Lebenszeit aber im Stocke zubringt; man stelle sich endlich vor, daß die aus
Millionen solcher Herrgötter zusammengesetzte Vererbungssubstanz bei ein und
demselben männlichen Wesen in Millionen von Spermatozoen vorhanden ist,
die alle wesentlich dasselbe enthalten, sodaß es ziemlich gleichgiltig ist, welches
von ihnen zur Entwicklung gelangt -- man stelle sich das alles vor und
sage dann, ob es irgend eine alte Mythologie an Kühnheit der Phantastik
mit dieser neuen aufnehmen kann! H 69 bis 70 schreibt Weismann: "Die Ver¬
erbung der Einzelligen wird darauf beruhen, daß in ihrem Kern alle die ver-
schiednen Biophorenarten enthalten sind, welche zum Aufbau ihres Körpers
gehören, in latentem Zustand und in einem bestimmten Zahlenverhältnis, höchst
wahrscheinlich auch in einer bestimmten Architektonik, und daß diese Kern-
biophoren periodisch oder nach Bedürfnis in den Zellkörper austreten, sich
dort vermehren und nach den in ihnen waltenden Kräften anordnen. Diese
Anordnung selbst bleibt ein Problem, dessen Schwierigkeit nirgends schärfer
hervortritt als gerade bei den höhern Einzelligen. Wie es möglich ist, daß
der Kern immer nur gerade diejenigen Arten von Biophoren austreten läßt,
die den Ersatz der bei der Teilung ^des Muttertiers in zwei Tochtertiere^ Ver¬
lornen Organe bedingen, wie es kommt, daß diese Kernbiophoren sich gerade
nach der Stelle des fehlenden Mundfeldes oder des fehlenden Hinterendes hin¬
begeben usw., das sind vorläufig ^blosz vorläufig?^ unlösbare Fragen usw."
Wir dächten doch, das genannte Problem wäre lange noch nicht das schwierigste,
und dieses Problem träte bei der Bildung eines ganzen Menschenleibes aus
dem Id eines Spermatozoons noch bedeutend schärfer hervor als bei einem
einzelligen Infusorium. Und worin besteht denn der "reale Boden," den
Weismanns Theorie vor Darwin voraus hat? In der Beobachtung der Vor¬
gänge bei der Befruchtung des Eies eines Eingeweidewurms und der Eier
einiger andern niedern Tiere! Und was ist das höchste und das äußerste an
Erkenntnis, das, wenn wir Weismann alle seine Folgerungen zugeben, aus
diesen Beobachtungen gewonnen werden kann? Erstens, daß die Substanz,
die den Bau des Embryo und dessen Ausgestaltung zum vollkommnen Ver¬
treter seiner Gattung leitet, nicht im Körper der Erzeuger des Embryos ge¬
bildet, sondern von deren Ahnen übernommen wird; zweitens, daß zu dieser


Vererbung

dem Herrn Meyer die schöne krumme Nase seines Urgroßvaters ins Gesicht
bauen, während die Eltern und Großeltern gerade Nasen gehabt haben, die
sie bauen, obwohl sie nie in ihrem Leben eine Nase gesehen haben, sintemal
sie niemals aus ihrer dunkeln Behausung heraus ans Tageslicht gekommen
sind; man denke sich Determinanten, die Gehirnzellen mit der Fähigkeit aus¬
statten, Töne wahrzunehmen, Tonintervalle abzuschätzen, Gedanken zu hegen,
Wortbilder festzuhalten und für ihre Wiedergabe zu sorgen; man denke sich
Determinanten, die das Gehirn einer Bienenkönigin so ausrüsten, daß sie
einmal in ihrem kurzen Leben einen Hochzeitsflug unternimmt, die ganze übrige
Lebenszeit aber im Stocke zubringt; man stelle sich endlich vor, daß die aus
Millionen solcher Herrgötter zusammengesetzte Vererbungssubstanz bei ein und
demselben männlichen Wesen in Millionen von Spermatozoen vorhanden ist,
die alle wesentlich dasselbe enthalten, sodaß es ziemlich gleichgiltig ist, welches
von ihnen zur Entwicklung gelangt — man stelle sich das alles vor und
sage dann, ob es irgend eine alte Mythologie an Kühnheit der Phantastik
mit dieser neuen aufnehmen kann! H 69 bis 70 schreibt Weismann: „Die Ver¬
erbung der Einzelligen wird darauf beruhen, daß in ihrem Kern alle die ver-
schiednen Biophorenarten enthalten sind, welche zum Aufbau ihres Körpers
gehören, in latentem Zustand und in einem bestimmten Zahlenverhältnis, höchst
wahrscheinlich auch in einer bestimmten Architektonik, und daß diese Kern-
biophoren periodisch oder nach Bedürfnis in den Zellkörper austreten, sich
dort vermehren und nach den in ihnen waltenden Kräften anordnen. Diese
Anordnung selbst bleibt ein Problem, dessen Schwierigkeit nirgends schärfer
hervortritt als gerade bei den höhern Einzelligen. Wie es möglich ist, daß
der Kern immer nur gerade diejenigen Arten von Biophoren austreten läßt,
die den Ersatz der bei der Teilung ^des Muttertiers in zwei Tochtertiere^ Ver¬
lornen Organe bedingen, wie es kommt, daß diese Kernbiophoren sich gerade
nach der Stelle des fehlenden Mundfeldes oder des fehlenden Hinterendes hin¬
begeben usw., das sind vorläufig ^blosz vorläufig?^ unlösbare Fragen usw."
Wir dächten doch, das genannte Problem wäre lange noch nicht das schwierigste,
und dieses Problem träte bei der Bildung eines ganzen Menschenleibes aus
dem Id eines Spermatozoons noch bedeutend schärfer hervor als bei einem
einzelligen Infusorium. Und worin besteht denn der „reale Boden," den
Weismanns Theorie vor Darwin voraus hat? In der Beobachtung der Vor¬
gänge bei der Befruchtung des Eies eines Eingeweidewurms und der Eier
einiger andern niedern Tiere! Und was ist das höchste und das äußerste an
Erkenntnis, das, wenn wir Weismann alle seine Folgerungen zugeben, aus
diesen Beobachtungen gewonnen werden kann? Erstens, daß die Substanz,
die den Bau des Embryo und dessen Ausgestaltung zum vollkommnen Ver¬
treter seiner Gattung leitet, nicht im Körper der Erzeuger des Embryos ge¬
bildet, sondern von deren Ahnen übernommen wird; zweitens, daß zu dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/70>, abgerufen am 03.07.2024.