Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Der dramatische Konflikt aristotelische" Systems und Begründung eines neuen" gegeben hat, gleichfalls So sehen wir denn heute die Theoretiker des Dramas in zwei feindliche Der dramatische Konflikt aristotelische» Systems und Begründung eines neuen" gegeben hat, gleichfalls So sehen wir denn heute die Theoretiker des Dramas in zwei feindliche <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0623" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226209"/> <fw type="header" place="top"> Der dramatische Konflikt</fw><lb/> <p xml:id="ID_1570" prev="#ID_1569"> aristotelische» Systems und Begründung eines neuen" gegeben hat, gleichfalls<lb/> zu dem Schlüsse, daß im Drama die Charaktere das Wesentliche seien, die<lb/> Handlung uur Mittel zum Zweck. Er beruft sich auf keinen seiner Vorgänger,<lb/> und wir können ihm daraus keinen Vorwurf machen. Er Hütte, auch wenn<lb/> er sie nicht gekannt hat. notwendig zu demselben Endergebnis kommen müssen.<lb/> Unsre heutige Litteratur steht, vielleicht noch entschiedner als die des vorigen<lb/> Jahrhunderts. in dem Zeichen des Jndividualismus. Von Rousseau und<lb/> Hamann ziehen sich geheime Fäden bis zu Nietzsche. Wir sehen heute das¬<lb/> selbe Kraftbewußtsein, dasselbe Streben nach Herausarbeitung des individuellen,<lb/> dasselbe Suchen und Sehnen nach einzig beanlagten Menschen, die sich ihre<lb/> moralischen und ästhetischen Gesetze selbst schaffen, mag man sie nun „Genies" oder<lb/> ..Übermenschen" nennen. Wie damals Friedrich der Große durch seine eigen¬<lb/> artige Persönlichkeit nicht geringe Anregung zur Ausbildung der Jndividua-<lb/> litätslehre gegeben hatte, so können wir heute aus Bismarck hinweisen und<lb/> haben in Wilhelm II. den ausgesprochnen Individualisten auf dem Throne.<lb/> Diese Erwägungen werfen sofort das richtige Licht auf die Stellung der so¬<lb/> genannten „Moderne" zu den Theorien der Vergangenheit. Nicht auf Otto<lb/> Ludwig, sondern auf die Stürmer und Dränger werden wir zurückgreifen<lb/> müssen, um die Darlegungen Gartclmanns — und Gartelmanu spricht hier<lb/> sür viele — litterargeschichtlich zu würdige». Während Otto Ludwig durch<lb/> Shakespeare zu demselben von Aristoteles abweichenden Sandpunkt gelangte wie<lb/> Lenz und sein Anhang, haben die „Modernen" dieses Ziel durch die indivi¬<lb/> dualistische Philosophie erreicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1571" next="#ID_1572"> So sehen wir denn heute die Theoretiker des Dramas in zwei feindliche<lb/> Lager geteilt, denn die „Handlung" findet auch heute noch, besonders bei den<lb/> Franzosen, ihre Verteidiger. Handlung oder Charakter! heißt die Losung. Dem<lb/> unparteiischen Schiedsrichter wird es schwer sollen, sich für einen der beiden<lb/> Teile zu entscheiden, denn wir stehen hier vor einem der vielen Fälle, wo beide<lb/> Parteien zugleich Recht und Unrecht haben. Während man dort das Haupt¬<lb/> gewicht zu einseitig auf die Handlung legt, wird hier zu einseitig der Charakter<lb/> betont. Den besten Beweis dasür liefert Gartelmann selbst, der in seiner<lb/> Abstraktion des Charakters von dem Begriffe der Handlung so weit geht, das<lb/> Gesetz von der Einheit der Handlung rundweg zu leugnen. Nun ist aber doch<lb/> der Begriff des Charakters mit dem der Handlung aufs engste verknüpft und<lb/> von ihm gar nicht zu trennen. Worauf sollte man sonst den „Charakter" eines<lb/> Menschen erkennen, als aus seinem Handeln, oder doch aus seinen Entschlüssen<lb/> zum Handeln? Das Hereinziehen des Charakterbegriffes führt aber, folge¬<lb/> richtig durchgeführt, zu einer festern Bestimmung dessen, was man „drama¬<lb/> tische" Handlung nenut. Nicht jede 5)andlung schlechthin braucht schon eine<lb/> dramatische Handlung zu sein. Wenn die Charaktere thatsächlich das Wesent¬<lb/> liche des Dramas bilden, dann wird für dieses auch uur eine Handlung zu¬<lb/> lässig sein, in der der Charakter zur Geltung kommen kaun. Wir können den<lb/> Charakter eines Menschen nicht ans Situationen beurteilen, in denen er nur<lb/> ni einem Sinne und nicht anders handeln kann. Erst dann wird die Eigenart<lb/> eines Menschen hervortreten, wenn er vor zwei oder mehr Möglichkeiten gestellt<lb/> ist und sich dann sür eine von diesen entscheidet, gleichviel ob er sein Ziel<lb/> ' cebung ein Hindernis<lb/> en in außergewöhn-<lb/> bctreffende Person</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0623]
Der dramatische Konflikt
aristotelische» Systems und Begründung eines neuen" gegeben hat, gleichfalls
zu dem Schlüsse, daß im Drama die Charaktere das Wesentliche seien, die
Handlung uur Mittel zum Zweck. Er beruft sich auf keinen seiner Vorgänger,
und wir können ihm daraus keinen Vorwurf machen. Er Hütte, auch wenn
er sie nicht gekannt hat. notwendig zu demselben Endergebnis kommen müssen.
Unsre heutige Litteratur steht, vielleicht noch entschiedner als die des vorigen
Jahrhunderts. in dem Zeichen des Jndividualismus. Von Rousseau und
Hamann ziehen sich geheime Fäden bis zu Nietzsche. Wir sehen heute das¬
selbe Kraftbewußtsein, dasselbe Streben nach Herausarbeitung des individuellen,
dasselbe Suchen und Sehnen nach einzig beanlagten Menschen, die sich ihre
moralischen und ästhetischen Gesetze selbst schaffen, mag man sie nun „Genies" oder
..Übermenschen" nennen. Wie damals Friedrich der Große durch seine eigen¬
artige Persönlichkeit nicht geringe Anregung zur Ausbildung der Jndividua-
litätslehre gegeben hatte, so können wir heute aus Bismarck hinweisen und
haben in Wilhelm II. den ausgesprochnen Individualisten auf dem Throne.
Diese Erwägungen werfen sofort das richtige Licht auf die Stellung der so¬
genannten „Moderne" zu den Theorien der Vergangenheit. Nicht auf Otto
Ludwig, sondern auf die Stürmer und Dränger werden wir zurückgreifen
müssen, um die Darlegungen Gartclmanns — und Gartelmanu spricht hier
sür viele — litterargeschichtlich zu würdige». Während Otto Ludwig durch
Shakespeare zu demselben von Aristoteles abweichenden Sandpunkt gelangte wie
Lenz und sein Anhang, haben die „Modernen" dieses Ziel durch die indivi¬
dualistische Philosophie erreicht.
So sehen wir denn heute die Theoretiker des Dramas in zwei feindliche
Lager geteilt, denn die „Handlung" findet auch heute noch, besonders bei den
Franzosen, ihre Verteidiger. Handlung oder Charakter! heißt die Losung. Dem
unparteiischen Schiedsrichter wird es schwer sollen, sich für einen der beiden
Teile zu entscheiden, denn wir stehen hier vor einem der vielen Fälle, wo beide
Parteien zugleich Recht und Unrecht haben. Während man dort das Haupt¬
gewicht zu einseitig auf die Handlung legt, wird hier zu einseitig der Charakter
betont. Den besten Beweis dasür liefert Gartelmann selbst, der in seiner
Abstraktion des Charakters von dem Begriffe der Handlung so weit geht, das
Gesetz von der Einheit der Handlung rundweg zu leugnen. Nun ist aber doch
der Begriff des Charakters mit dem der Handlung aufs engste verknüpft und
von ihm gar nicht zu trennen. Worauf sollte man sonst den „Charakter" eines
Menschen erkennen, als aus seinem Handeln, oder doch aus seinen Entschlüssen
zum Handeln? Das Hereinziehen des Charakterbegriffes führt aber, folge¬
richtig durchgeführt, zu einer festern Bestimmung dessen, was man „drama¬
tische" Handlung nenut. Nicht jede 5)andlung schlechthin braucht schon eine
dramatische Handlung zu sein. Wenn die Charaktere thatsächlich das Wesent¬
liche des Dramas bilden, dann wird für dieses auch uur eine Handlung zu¬
lässig sein, in der der Charakter zur Geltung kommen kaun. Wir können den
Charakter eines Menschen nicht ans Situationen beurteilen, in denen er nur
ni einem Sinne und nicht anders handeln kann. Erst dann wird die Eigenart
eines Menschen hervortreten, wenn er vor zwei oder mehr Möglichkeiten gestellt
ist und sich dann sür eine von diesen entscheidet, gleichviel ob er sein Ziel
' cebung ein Hindernis
en in außergewöhn-
bctreffende Person
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