Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Der dramatische Konflikt Personen aber nur als Trägern der Handlung Berechtigung einräumte. Sie Aber der Sturm ging bald vorüber. Die haltlosen Geister gingen unter, Niemand hat dies schärfer erkannt und bitterer empfunden, als jener Unsre "Modernen" berühren sich nun gerade in diesem wichtigen Punkte Der dramatische Konflikt Personen aber nur als Trägern der Handlung Berechtigung einräumte. Sie Aber der Sturm ging bald vorüber. Die haltlosen Geister gingen unter, Niemand hat dies schärfer erkannt und bitterer empfunden, als jener Unsre „Modernen" berühren sich nun gerade in diesem wichtigen Punkte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0622" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226208"/> <fw type="header" place="top"> Der dramatische Konflikt</fw><lb/> <p xml:id="ID_1566" prev="#ID_1565"> Personen aber nur als Trägern der Handlung Berechtigung einräumte. Sie<lb/> mußte mit Notwendigkeit eine Umkehrung der Werte vornehmen, und so weist<lb/> Lenz darauf hin, daß in der Tragödie — die Komödie wird davon aus¬<lb/> geschlossen — nicht die Handlung, sondern die Person als die Schöpferin der<lb/> Handlung das wichtigste sei, und daß die Aufgabe des dramatischen Dichters<lb/> darin bestehe, Charaktere zu bilden, „die sich ihre Begebenheiten erschaffen,<lb/> die selbständig und unveränderlich die ganze große Maschine selbst drehen."</p><lb/> <p xml:id="ID_1567"> Aber der Sturm ging bald vorüber. Die haltlosen Geister gingen unter,<lb/> und was einen guten Kern in sich hatte, schwenkte ab. Es wurde wieder der<lb/> Antike Thür und Thor geöffnet. Der Verfasser des „Götz" dichtete die<lb/> „Iphigenie," und Schiller, der doch mit seinen Jugendschöpfungeu mitten in der<lb/> revolutionären Strömung gestanden hatte, zollte nun, nach andrer Richtung<lb/> gehend, dem Stagiriten seinen Tribut. Erklärte er doch ganz unumwunden,<lb/> Aristoteles habe den Nagel auf deu Kopf getroffen, weil er bei der Tragödie<lb/> das Hauptgewicht „in die Verknüpfung der Begebenheiten" lege. (An Goethe,<lb/> 5. Mai 1797.)</p><lb/> <p xml:id="ID_1568"> Niemand hat dies schärfer erkannt und bitterer empfunden, als jener<lb/> Einsame, der, wie die Stürmer und Dränger, Shakespeare sein Glaubens¬<lb/> bekenntnis abgerungen hatte: Otto Ludwig. Seine Abneigung gegen Schiller<lb/> scheint vor allem ihren Grund in der, entgegengesetzten Auffassung beider von<lb/> dem Wesen des Dramas zu haben. Überall, wo sich Ludwig über Schiller<lb/> ausspricht, tritt dieser grundsätzliche Gegensatz hervor. War es ihm am<lb/> „Julius Cäsar" aufgefallen, daß es Shakespeare mehr um die Personen zu<lb/> thun sei als um die Situation, so kann er sichs nicht versagen, zu bemerken,<lb/> daß uns Schiller ein einförmiges Ideal von Brutus gegeben, dessen Stellung<lb/> zu Cäsar dagegen aufs genaueste in schimmernden Tiraden entwickelt haben<lb/> würde. Wieder handelt es sich also um das Verhältnis zwischen Charakter<lb/> und Situation, wie bei Lenz. Noch deutlicher als dieser spricht es Otto<lb/> Ludwig aus: „Wenn anders Aristoteles Erklärung des Zweckes der Tragödie,<lb/> durch Mitleid und Furcht diese und dergleichen Leidenschaften zu reinigen, die<lb/> richtige ist, so sind auch die Charaktere, das heißt die Menschen, die Haupt¬<lb/> sache darin, nicht die Handlung; denn Mitleid und Furcht knüpfen sich an die<lb/> Menschen, nicht an die Handlung. Die Handlung an sich kann nur Spannung<lb/> der Neugierde oder Philanthropie erregen. Die Handlung ist nur Mittel mit,<lb/> den Menschen interessant zu machen." Also nicht die Zusammensetzung der<lb/> Begebenheiten, wie bei Schiller, sondern die Charaktere sind das Wesen des<lb/> Dramas, die Handlung bloß Mittel zum Zweck. Das bekommt Schiller<lb/> immer und immer wieder zu hören. „Bei Shakespeare liegt die Dialektik in<lb/> dem Helden, bei Schiller in der Situation. Bei ihm kollidiren die Gesichts¬<lb/> punkte, nicht die Charaktere; jene sind die eigentlichen Helden, die Personen<lb/> nur die Träger derselben." „Shakespeare stellt das Für und Wider in das<lb/> Innere eines und desselben Helden; Schiller legt es in das Äußere." „Die<lb/> Charaktere müssen sich sbei Schillers den Situationen bequemen." Es ist<lb/> überflüssig, uoch weitere derartige Äußerungen anzuführen; ein aufmerksamer<lb/> Leser der „Shakespearestudieu" findet sie offen und versteckt fast auf jeder<lb/> Seite.</p><lb/> <p xml:id="ID_1569" next="#ID_1570"> Unsre „Modernen" berühren sich nun gerade in diesem wichtigen Punkte<lb/> auffallend mit Otto Ludwig. So kommt z. B. Gartelmann, der seiner<lb/> „Dramatik" (Berlin, 18»2) den etwas anspruchsvollen Untertitel „Kritik des</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0622]
Der dramatische Konflikt
Personen aber nur als Trägern der Handlung Berechtigung einräumte. Sie
mußte mit Notwendigkeit eine Umkehrung der Werte vornehmen, und so weist
Lenz darauf hin, daß in der Tragödie — die Komödie wird davon aus¬
geschlossen — nicht die Handlung, sondern die Person als die Schöpferin der
Handlung das wichtigste sei, und daß die Aufgabe des dramatischen Dichters
darin bestehe, Charaktere zu bilden, „die sich ihre Begebenheiten erschaffen,
die selbständig und unveränderlich die ganze große Maschine selbst drehen."
Aber der Sturm ging bald vorüber. Die haltlosen Geister gingen unter,
und was einen guten Kern in sich hatte, schwenkte ab. Es wurde wieder der
Antike Thür und Thor geöffnet. Der Verfasser des „Götz" dichtete die
„Iphigenie," und Schiller, der doch mit seinen Jugendschöpfungeu mitten in der
revolutionären Strömung gestanden hatte, zollte nun, nach andrer Richtung
gehend, dem Stagiriten seinen Tribut. Erklärte er doch ganz unumwunden,
Aristoteles habe den Nagel auf deu Kopf getroffen, weil er bei der Tragödie
das Hauptgewicht „in die Verknüpfung der Begebenheiten" lege. (An Goethe,
5. Mai 1797.)
Niemand hat dies schärfer erkannt und bitterer empfunden, als jener
Einsame, der, wie die Stürmer und Dränger, Shakespeare sein Glaubens¬
bekenntnis abgerungen hatte: Otto Ludwig. Seine Abneigung gegen Schiller
scheint vor allem ihren Grund in der, entgegengesetzten Auffassung beider von
dem Wesen des Dramas zu haben. Überall, wo sich Ludwig über Schiller
ausspricht, tritt dieser grundsätzliche Gegensatz hervor. War es ihm am
„Julius Cäsar" aufgefallen, daß es Shakespeare mehr um die Personen zu
thun sei als um die Situation, so kann er sichs nicht versagen, zu bemerken,
daß uns Schiller ein einförmiges Ideal von Brutus gegeben, dessen Stellung
zu Cäsar dagegen aufs genaueste in schimmernden Tiraden entwickelt haben
würde. Wieder handelt es sich also um das Verhältnis zwischen Charakter
und Situation, wie bei Lenz. Noch deutlicher als dieser spricht es Otto
Ludwig aus: „Wenn anders Aristoteles Erklärung des Zweckes der Tragödie,
durch Mitleid und Furcht diese und dergleichen Leidenschaften zu reinigen, die
richtige ist, so sind auch die Charaktere, das heißt die Menschen, die Haupt¬
sache darin, nicht die Handlung; denn Mitleid und Furcht knüpfen sich an die
Menschen, nicht an die Handlung. Die Handlung an sich kann nur Spannung
der Neugierde oder Philanthropie erregen. Die Handlung ist nur Mittel mit,
den Menschen interessant zu machen." Also nicht die Zusammensetzung der
Begebenheiten, wie bei Schiller, sondern die Charaktere sind das Wesen des
Dramas, die Handlung bloß Mittel zum Zweck. Das bekommt Schiller
immer und immer wieder zu hören. „Bei Shakespeare liegt die Dialektik in
dem Helden, bei Schiller in der Situation. Bei ihm kollidiren die Gesichts¬
punkte, nicht die Charaktere; jene sind die eigentlichen Helden, die Personen
nur die Träger derselben." „Shakespeare stellt das Für und Wider in das
Innere eines und desselben Helden; Schiller legt es in das Äußere." „Die
Charaktere müssen sich sbei Schillers den Situationen bequemen." Es ist
überflüssig, uoch weitere derartige Äußerungen anzuführen; ein aufmerksamer
Leser der „Shakespearestudieu" findet sie offen und versteckt fast auf jeder
Seite.
Unsre „Modernen" berühren sich nun gerade in diesem wichtigen Punkte
auffallend mit Otto Ludwig. So kommt z. B. Gartelmann, der seiner
„Dramatik" (Berlin, 18»2) den etwas anspruchsvollen Untertitel „Kritik des
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