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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die älteste Besiedlung Deutschlands

einzelnen Gewannen machte natürlich den Flnrzwcmg in der Bewirtschaftung un¬
vermeidlich, also die Gleichmäßigkeit der jährlich wechselnden Bewirtschaftung
(Sommersaat, Wintersaat, Bräche in der Dreifelderwirtschaft), da besondre Wege
zu den einzelnen Hufenanteilen gar nicht vorhanden sein konnten, der Bauer
also zur Bestellung und Ernte über die Grundstücke seiner Nachbarn hinwegfahren
mußte. Als Musterbeispiel für eine uralte Anlage dieser Art führt Meitzen das
heutige Maden bei Fritzlar in Hessen vor, die Gerichtsstätte des Heffengcmes,
das bereits im Jahre 15 n. Chr. von Tacitus (^un. I, 56) unter dem Namen
Mattium als Hauptort der Chadem erwähnt wird. Dessen Flur zeigt um ein
echtes "Haufendorf" 40 ziemlich unregelmäßige Gewanne in je 16 gleich großen
Hufenanteilen zu durchschnittlich ZI Ar, also etwas über einen Morgen. Ähnlich
ist die Flur von Geismar gestaltet, eines beinahe ebenso alten Ortes. Diese
feste Besiedlung des altgermanischen "Volkslandes" bestand sicher schon am An¬
fange unsrer Zeitrechnung und erscheint zur Zeit des Taeitus, also gegen Ende
des ersten christlichen Jahrhunderts, in ganz bestimmten, klaren Zügen. Da¬
gegen waren zu Cäsars Zeit (58 v. Chr.) selbst die Westgermanen, mit denen
Cäsar zusammenstieß, noch halb nomadisch, und die Ostgermanen hielten in ihren
weiten Weidecbuen noch viel länger um diesen Zuständen sest.

Es entstehen nun zwei wichtige Fragen. Erstens: wie haben die Ger¬
manen in dieser halbnomadischen Zeit gewirtschaftet? Zweitens: wann und
wie hat sich der Übergang zur festen Besiedlung, also von der überwiegenden
Viehzucht zum regelmäßigen Ackerbau vollzogen? Um die erste Frage zu lösen,
zieht Meitzen die mittelasiatischen Nomadenstämme heran. Indem er die Vor¬
stellung abweist, als ob es in deren Steppen und Wüsten irgendwie herren¬
loses Land gäbe, und betont, daß im Gegenteil die Weidereviere der einzelnen
Stämme und Horden nach natürlichen, leicht festzuhaltenden Merkmalen fest
abgegrenzt seien, weist er nach, daß in jenen zum Teil sehr dürren Steppen auf
einer Geviertmeile (etwa fünfzig Quadratkilometer) nur 1800 Stück Vieh ernährt
werden können. Da der Mensch von Fleisch allein nicht leben kann (außer von
den sehr fetthaltigen Tieren der Polarzone), sondern der Pflanzenkost bedarf,
so müssen sich die Nomaden das unentbehrliche Getreide entweder durch Raub-
züge in die ackerbauenden Nachbarländer oder dnrch eignen Ackerbau auf zeit¬
weise abgegrenzten Stücken verschaffen, den ihre Knechte, Leute aus unter-
worfnen Stämmen oder Gefangne von den benachbarten Kulturvölkern, für
ihre nomadisirenden Herren besorgen. Denn dem Nomaden gilt allein das
freie Leben auf dem Rücken seines Rosses inmitten seiner Viehherden für würdig
des freien Mannes. Wendet man nun das auf die urgermanischen Verhält¬
nisse an, so ergiebt sich zunächst, daß die Ertragsfähigkeit der nordeuropäischen
Weideländer, wo nach der Eiszeit zunächst ein reichlicher Graswuchs neben
dem Waldwachs aufgekommen war (ungefähr wie heute in Island), weit
günstiger war als heute in Zentralasien, wenn auch natürlich nicht entfernt


Die älteste Besiedlung Deutschlands

einzelnen Gewannen machte natürlich den Flnrzwcmg in der Bewirtschaftung un¬
vermeidlich, also die Gleichmäßigkeit der jährlich wechselnden Bewirtschaftung
(Sommersaat, Wintersaat, Bräche in der Dreifelderwirtschaft), da besondre Wege
zu den einzelnen Hufenanteilen gar nicht vorhanden sein konnten, der Bauer
also zur Bestellung und Ernte über die Grundstücke seiner Nachbarn hinwegfahren
mußte. Als Musterbeispiel für eine uralte Anlage dieser Art führt Meitzen das
heutige Maden bei Fritzlar in Hessen vor, die Gerichtsstätte des Heffengcmes,
das bereits im Jahre 15 n. Chr. von Tacitus (^un. I, 56) unter dem Namen
Mattium als Hauptort der Chadem erwähnt wird. Dessen Flur zeigt um ein
echtes „Haufendorf" 40 ziemlich unregelmäßige Gewanne in je 16 gleich großen
Hufenanteilen zu durchschnittlich ZI Ar, also etwas über einen Morgen. Ähnlich
ist die Flur von Geismar gestaltet, eines beinahe ebenso alten Ortes. Diese
feste Besiedlung des altgermanischen „Volkslandes" bestand sicher schon am An¬
fange unsrer Zeitrechnung und erscheint zur Zeit des Taeitus, also gegen Ende
des ersten christlichen Jahrhunderts, in ganz bestimmten, klaren Zügen. Da¬
gegen waren zu Cäsars Zeit (58 v. Chr.) selbst die Westgermanen, mit denen
Cäsar zusammenstieß, noch halb nomadisch, und die Ostgermanen hielten in ihren
weiten Weidecbuen noch viel länger um diesen Zuständen sest.

Es entstehen nun zwei wichtige Fragen. Erstens: wie haben die Ger¬
manen in dieser halbnomadischen Zeit gewirtschaftet? Zweitens: wann und
wie hat sich der Übergang zur festen Besiedlung, also von der überwiegenden
Viehzucht zum regelmäßigen Ackerbau vollzogen? Um die erste Frage zu lösen,
zieht Meitzen die mittelasiatischen Nomadenstämme heran. Indem er die Vor¬
stellung abweist, als ob es in deren Steppen und Wüsten irgendwie herren¬
loses Land gäbe, und betont, daß im Gegenteil die Weidereviere der einzelnen
Stämme und Horden nach natürlichen, leicht festzuhaltenden Merkmalen fest
abgegrenzt seien, weist er nach, daß in jenen zum Teil sehr dürren Steppen auf
einer Geviertmeile (etwa fünfzig Quadratkilometer) nur 1800 Stück Vieh ernährt
werden können. Da der Mensch von Fleisch allein nicht leben kann (außer von
den sehr fetthaltigen Tieren der Polarzone), sondern der Pflanzenkost bedarf,
so müssen sich die Nomaden das unentbehrliche Getreide entweder durch Raub-
züge in die ackerbauenden Nachbarländer oder dnrch eignen Ackerbau auf zeit¬
weise abgegrenzten Stücken verschaffen, den ihre Knechte, Leute aus unter-
worfnen Stämmen oder Gefangne von den benachbarten Kulturvölkern, für
ihre nomadisirenden Herren besorgen. Denn dem Nomaden gilt allein das
freie Leben auf dem Rücken seines Rosses inmitten seiner Viehherden für würdig
des freien Mannes. Wendet man nun das auf die urgermanischen Verhält¬
nisse an, so ergiebt sich zunächst, daß die Ertragsfähigkeit der nordeuropäischen
Weideländer, wo nach der Eiszeit zunächst ein reichlicher Graswuchs neben
dem Waldwachs aufgekommen war (ungefähr wie heute in Island), weit
günstiger war als heute in Zentralasien, wenn auch natürlich nicht entfernt


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[0616] Die älteste Besiedlung Deutschlands einzelnen Gewannen machte natürlich den Flnrzwcmg in der Bewirtschaftung un¬ vermeidlich, also die Gleichmäßigkeit der jährlich wechselnden Bewirtschaftung (Sommersaat, Wintersaat, Bräche in der Dreifelderwirtschaft), da besondre Wege zu den einzelnen Hufenanteilen gar nicht vorhanden sein konnten, der Bauer also zur Bestellung und Ernte über die Grundstücke seiner Nachbarn hinwegfahren mußte. Als Musterbeispiel für eine uralte Anlage dieser Art führt Meitzen das heutige Maden bei Fritzlar in Hessen vor, die Gerichtsstätte des Heffengcmes, das bereits im Jahre 15 n. Chr. von Tacitus (^un. I, 56) unter dem Namen Mattium als Hauptort der Chadem erwähnt wird. Dessen Flur zeigt um ein echtes „Haufendorf" 40 ziemlich unregelmäßige Gewanne in je 16 gleich großen Hufenanteilen zu durchschnittlich ZI Ar, also etwas über einen Morgen. Ähnlich ist die Flur von Geismar gestaltet, eines beinahe ebenso alten Ortes. Diese feste Besiedlung des altgermanischen „Volkslandes" bestand sicher schon am An¬ fange unsrer Zeitrechnung und erscheint zur Zeit des Taeitus, also gegen Ende des ersten christlichen Jahrhunderts, in ganz bestimmten, klaren Zügen. Da¬ gegen waren zu Cäsars Zeit (58 v. Chr.) selbst die Westgermanen, mit denen Cäsar zusammenstieß, noch halb nomadisch, und die Ostgermanen hielten in ihren weiten Weidecbuen noch viel länger um diesen Zuständen sest. Es entstehen nun zwei wichtige Fragen. Erstens: wie haben die Ger¬ manen in dieser halbnomadischen Zeit gewirtschaftet? Zweitens: wann und wie hat sich der Übergang zur festen Besiedlung, also von der überwiegenden Viehzucht zum regelmäßigen Ackerbau vollzogen? Um die erste Frage zu lösen, zieht Meitzen die mittelasiatischen Nomadenstämme heran. Indem er die Vor¬ stellung abweist, als ob es in deren Steppen und Wüsten irgendwie herren¬ loses Land gäbe, und betont, daß im Gegenteil die Weidereviere der einzelnen Stämme und Horden nach natürlichen, leicht festzuhaltenden Merkmalen fest abgegrenzt seien, weist er nach, daß in jenen zum Teil sehr dürren Steppen auf einer Geviertmeile (etwa fünfzig Quadratkilometer) nur 1800 Stück Vieh ernährt werden können. Da der Mensch von Fleisch allein nicht leben kann (außer von den sehr fetthaltigen Tieren der Polarzone), sondern der Pflanzenkost bedarf, so müssen sich die Nomaden das unentbehrliche Getreide entweder durch Raub- züge in die ackerbauenden Nachbarländer oder dnrch eignen Ackerbau auf zeit¬ weise abgegrenzten Stücken verschaffen, den ihre Knechte, Leute aus unter- worfnen Stämmen oder Gefangne von den benachbarten Kulturvölkern, für ihre nomadisirenden Herren besorgen. Denn dem Nomaden gilt allein das freie Leben auf dem Rücken seines Rosses inmitten seiner Viehherden für würdig des freien Mannes. Wendet man nun das auf die urgermanischen Verhält¬ nisse an, so ergiebt sich zunächst, daß die Ertragsfähigkeit der nordeuropäischen Weideländer, wo nach der Eiszeit zunächst ein reichlicher Graswuchs neben dem Waldwachs aufgekommen war (ungefähr wie heute in Island), weit günstiger war als heute in Zentralasien, wenn auch natürlich nicht entfernt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/616>, abgerufen am 29.12.2024.