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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die älteste Besiedlung Deutschlands

überall so günstig wie in den Fettweiden der Marschen, wo eine Kuh nur
einen Hektar Landes zu ihrer Ernährung braucht. Da nun eine altgermanische
Hirtenfnmilie von acht Köpfen (die Knechte mitgerechnet) jährlich zu ihrer Er¬
nährung den Ertrag von dreißig gutgenährten Kühen (oder der entsprechenden
Zahl von Kleinvieh, Schafen, Ziegen und Schweinen) an Milch (2400 Liter)
und Fleisch (200 Kilogramm) neben etwa 50 Kilogramm Getreide brauchte,
so bedurften 120 solche Familien, also eine Hundertschaft im Sinne des ger¬
manischen Großhnndert, einen Viehstand von 3600 Kühen, diese aber im Jahre
16 Millionen Kilogramm Heu, was, je nach der Bodenbeschaffenheit, ein
Weiderevier von 3 bis 5 Quadratmeilen voraussetzt, wenn 1 Hektar damals
im Durchschnitt 1000 Kilogramm Heu hervorbrachte. Diese 120 Familien
genügten auch zur Bewachung einer solchen Herde; sie wechselten ihre Lager¬
plätze je nach dem Futter und bestimmten ihre Weidereviere, ließen auch etwas
Getreide bauen. Daher wanderten auch die Cimbern und Teutonen in Jahres¬
rasten, was auf vorübergehenden Getreidebau deutet, und so sind, beiläufig
bemerkt, noch in unserm Jahrhundert die Voeren aus dem Knplcmde nach dem
Norden gewandert. Wuchs die Bevölkerung über die Ertragsfähigkeit des
Weidereviers, so blieb für den Überschuß nur die Auswanderung übrig. Die
vielumstrittne "Hundertschaft" (in Dänemark Harte) faßt also Meitzen nicht
als eine militärische Gliederung, sondern als eine Weidegenvssenschaft auf. Er
findet eine Bestätigung dafür in dem Umstände, daß die Harte in Dänemark,
wo sie noch in der ursprünglichem Größe erhalten ist, durchschnittlich etwa
fünf Geviertmeilen umfaßt, also dem vorausgesetzten Umfange eines solchen
urgermanischen Weidereviers auf nicht besonders ertragreichem Boden entspricht,
und in den viel erörterten, gewöhnlich stark angezweifelten Angaben Cäsars
über das Suebenland zwischen Rhein und Oder (MI. ^11. IV, 1 fg.). Auf
diesem Gebiet von etwa 2400 Geviertmeilen lebten die Suchen, in 1000 x-rgi
geteilt, die, wenn mau wie bei Taeitus den pÄAUS der Hundertschaft gleichsetzt,
120000 Familien, also etwa eine Million Menschen enthielte" und, da selbst¬
verständlich jeder waffenfähige Freie auch waffenpflichtig war, recht Wohl, wie
Cäsar angiebt, 200000 Krieger ins Feld stellen konnten. Ans den Mg'us, die
Hundertschaft, fiel dann also durchschnittlich eine Fläche von 2,4 Geviertmeilen,
d. h. so viel, daß es für das reine Hirtenleben nur noch knapp reichte. Die
Suchen standen also zu Cäsars Zeit dicht vor dem Übergänge zur Se߬
haftigkeit.

Damit stehen wir vor der zweiten Frage. Zur festen Ansiedlung, also zu
umfänglicherem Ackerbau ist ein Volk immer nur unter dem Zwange der
härtesten Not übergegangen, da das, was uns als ein ungeheurer Fortschritt
erscheint, für die Begriffe eines Nomadenvolks eine Verminderung der Freiheit,
ein Übergang zu knechtischer Arbeit ist. So lange also der Boden noch halb¬
wegs für die reine Viehwirtschaft ausreichte, oder das Fehlende durch Beute-


Grenzboten III 1897 77
Die älteste Besiedlung Deutschlands

überall so günstig wie in den Fettweiden der Marschen, wo eine Kuh nur
einen Hektar Landes zu ihrer Ernährung braucht. Da nun eine altgermanische
Hirtenfnmilie von acht Köpfen (die Knechte mitgerechnet) jährlich zu ihrer Er¬
nährung den Ertrag von dreißig gutgenährten Kühen (oder der entsprechenden
Zahl von Kleinvieh, Schafen, Ziegen und Schweinen) an Milch (2400 Liter)
und Fleisch (200 Kilogramm) neben etwa 50 Kilogramm Getreide brauchte,
so bedurften 120 solche Familien, also eine Hundertschaft im Sinne des ger¬
manischen Großhnndert, einen Viehstand von 3600 Kühen, diese aber im Jahre
16 Millionen Kilogramm Heu, was, je nach der Bodenbeschaffenheit, ein
Weiderevier von 3 bis 5 Quadratmeilen voraussetzt, wenn 1 Hektar damals
im Durchschnitt 1000 Kilogramm Heu hervorbrachte. Diese 120 Familien
genügten auch zur Bewachung einer solchen Herde; sie wechselten ihre Lager¬
plätze je nach dem Futter und bestimmten ihre Weidereviere, ließen auch etwas
Getreide bauen. Daher wanderten auch die Cimbern und Teutonen in Jahres¬
rasten, was auf vorübergehenden Getreidebau deutet, und so sind, beiläufig
bemerkt, noch in unserm Jahrhundert die Voeren aus dem Knplcmde nach dem
Norden gewandert. Wuchs die Bevölkerung über die Ertragsfähigkeit des
Weidereviers, so blieb für den Überschuß nur die Auswanderung übrig. Die
vielumstrittne „Hundertschaft" (in Dänemark Harte) faßt also Meitzen nicht
als eine militärische Gliederung, sondern als eine Weidegenvssenschaft auf. Er
findet eine Bestätigung dafür in dem Umstände, daß die Harte in Dänemark,
wo sie noch in der ursprünglichem Größe erhalten ist, durchschnittlich etwa
fünf Geviertmeilen umfaßt, also dem vorausgesetzten Umfange eines solchen
urgermanischen Weidereviers auf nicht besonders ertragreichem Boden entspricht,
und in den viel erörterten, gewöhnlich stark angezweifelten Angaben Cäsars
über das Suebenland zwischen Rhein und Oder (MI. ^11. IV, 1 fg.). Auf
diesem Gebiet von etwa 2400 Geviertmeilen lebten die Suchen, in 1000 x-rgi
geteilt, die, wenn mau wie bei Taeitus den pÄAUS der Hundertschaft gleichsetzt,
120000 Familien, also etwa eine Million Menschen enthielte» und, da selbst¬
verständlich jeder waffenfähige Freie auch waffenpflichtig war, recht Wohl, wie
Cäsar angiebt, 200000 Krieger ins Feld stellen konnten. Ans den Mg'us, die
Hundertschaft, fiel dann also durchschnittlich eine Fläche von 2,4 Geviertmeilen,
d. h. so viel, daß es für das reine Hirtenleben nur noch knapp reichte. Die
Suchen standen also zu Cäsars Zeit dicht vor dem Übergänge zur Se߬
haftigkeit.

Damit stehen wir vor der zweiten Frage. Zur festen Ansiedlung, also zu
umfänglicherem Ackerbau ist ein Volk immer nur unter dem Zwange der
härtesten Not übergegangen, da das, was uns als ein ungeheurer Fortschritt
erscheint, für die Begriffe eines Nomadenvolks eine Verminderung der Freiheit,
ein Übergang zu knechtischer Arbeit ist. So lange also der Boden noch halb¬
wegs für die reine Viehwirtschaft ausreichte, oder das Fehlende durch Beute-


Grenzboten III 1897 77
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[0617] Die älteste Besiedlung Deutschlands überall so günstig wie in den Fettweiden der Marschen, wo eine Kuh nur einen Hektar Landes zu ihrer Ernährung braucht. Da nun eine altgermanische Hirtenfnmilie von acht Köpfen (die Knechte mitgerechnet) jährlich zu ihrer Er¬ nährung den Ertrag von dreißig gutgenährten Kühen (oder der entsprechenden Zahl von Kleinvieh, Schafen, Ziegen und Schweinen) an Milch (2400 Liter) und Fleisch (200 Kilogramm) neben etwa 50 Kilogramm Getreide brauchte, so bedurften 120 solche Familien, also eine Hundertschaft im Sinne des ger¬ manischen Großhnndert, einen Viehstand von 3600 Kühen, diese aber im Jahre 16 Millionen Kilogramm Heu, was, je nach der Bodenbeschaffenheit, ein Weiderevier von 3 bis 5 Quadratmeilen voraussetzt, wenn 1 Hektar damals im Durchschnitt 1000 Kilogramm Heu hervorbrachte. Diese 120 Familien genügten auch zur Bewachung einer solchen Herde; sie wechselten ihre Lager¬ plätze je nach dem Futter und bestimmten ihre Weidereviere, ließen auch etwas Getreide bauen. Daher wanderten auch die Cimbern und Teutonen in Jahres¬ rasten, was auf vorübergehenden Getreidebau deutet, und so sind, beiläufig bemerkt, noch in unserm Jahrhundert die Voeren aus dem Knplcmde nach dem Norden gewandert. Wuchs die Bevölkerung über die Ertragsfähigkeit des Weidereviers, so blieb für den Überschuß nur die Auswanderung übrig. Die vielumstrittne „Hundertschaft" (in Dänemark Harte) faßt also Meitzen nicht als eine militärische Gliederung, sondern als eine Weidegenvssenschaft auf. Er findet eine Bestätigung dafür in dem Umstände, daß die Harte in Dänemark, wo sie noch in der ursprünglichem Größe erhalten ist, durchschnittlich etwa fünf Geviertmeilen umfaßt, also dem vorausgesetzten Umfange eines solchen urgermanischen Weidereviers auf nicht besonders ertragreichem Boden entspricht, und in den viel erörterten, gewöhnlich stark angezweifelten Angaben Cäsars über das Suebenland zwischen Rhein und Oder (MI. ^11. IV, 1 fg.). Auf diesem Gebiet von etwa 2400 Geviertmeilen lebten die Suchen, in 1000 x-rgi geteilt, die, wenn mau wie bei Taeitus den pÄAUS der Hundertschaft gleichsetzt, 120000 Familien, also etwa eine Million Menschen enthielte» und, da selbst¬ verständlich jeder waffenfähige Freie auch waffenpflichtig war, recht Wohl, wie Cäsar angiebt, 200000 Krieger ins Feld stellen konnten. Ans den Mg'us, die Hundertschaft, fiel dann also durchschnittlich eine Fläche von 2,4 Geviertmeilen, d. h. so viel, daß es für das reine Hirtenleben nur noch knapp reichte. Die Suchen standen also zu Cäsars Zeit dicht vor dem Übergänge zur Se߬ haftigkeit. Damit stehen wir vor der zweiten Frage. Zur festen Ansiedlung, also zu umfänglicherem Ackerbau ist ein Volk immer nur unter dem Zwange der härtesten Not übergegangen, da das, was uns als ein ungeheurer Fortschritt erscheint, für die Begriffe eines Nomadenvolks eine Verminderung der Freiheit, ein Übergang zu knechtischer Arbeit ist. So lange also der Boden noch halb¬ wegs für die reine Viehwirtschaft ausreichte, oder das Fehlende durch Beute- Grenzboten III 1897 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/617>, abgerufen am 29.12.2024.