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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

auf die auch das bekannte Wort gemünzt war: "Wir laufen niemand nach,"
Gegner Bismarcks haben neuerdings diese Wendung dahin auszulegen gesucht,
als wäre sie gegen das offizielle Nußland gerichtet gewesen, und wollen daraus
beweisen, daß schon zu seinen Zeiten ein höchst gespanntes Verhältnis zwischen
Deutschland und Rußland bestanden habe. Das ist aber ein Irrtum. Bismarck
deutete auch damals auf den Geheimvertrag hin, indem er nach den vorhin
erwähnten Worten fortfuhr: "Das hält uns aber nicht ab -- im Gegenteil,
es ist uns ein Sporn mehr, die Vertragsrechte, die Rußland uns gegenüber
hat, mit doppelter Genauigkeit zu beobachten." Dieser Satz war offenbar an
den Zaren und das offizielle Rußland gerichtet, um aber die Aufmerksamkeit
von einer so auffülligen Stelle abzulenken, knüpfte der Altreichskanzler sofort
eine Erörterung über die vertragsmäßigen Rechte Rußlands in Bulgarien an,
die aus den Beschlüssen der Berliner Konferenz abzuleiten sind. Es ist heute
sehr interessant, die Stelle der Bismarckischeu Rede wieder nachzulesen; sie ist
damals in Deutschland und in Rußland, wie überall, wo man von dem
Geheimvertrag nichts wußte, schief aufgefaßt worden. Der Neutralitätsvertrag,
der dem Zaren Beruhigung gewährte, war allerdings ein fester Draht, der
uns mit Rußland verband.

Daß er zerschnitten wurde, darüber haben die am lautesten gezetert, die
sich nie über die eigentümliche Natur dieses Neutralitätsvertrags einen Ge¬
danken gemacht haben. Warum er zerschnitten worden ist, darüber ist nichts
Zuverlässiges bekannt, es sind bloß Vermutungen möglich. Thatsache ist,
daß trotz des Neutrnlitätsvertrcigs immer engere Beziehungen zwischen russischen
und französischen Kreisen angeknüpft wurden, und daß z. B. niemals mehr
russische Großfürsten und Würdenträger in Paris verkehrten, als in den letzten
Regierungsjahren Alexanders III. Ob der Neutralitätsvertrag nicht verlängert
worden ist, weil er nur einem das französische Bündnis suchenden Nußland
Vorteil gewährte und Deutschland gewissermaßen die Hände band, oder weil
die auf den Zusammenschluß der europäischen Mächte gerichtete Politik des
Dreibunds unter Deutschlands Führung einen solchen Vertrag überflüssig
wachte, bedarf hier, bei dem Mangel aller Grundlagen, keiner Erörterung.
Die Thatsache liegt unzweifelhaft vor, daß das Verhältnis zwischen Deutsch¬
land und Rußland gegenwärtig besser ist als in den sechs Jahren, wo der
Vertrag bestand. Die Klagen über eine schlecht geleitete äußere Politik des
"neuen Kurses" gegenüber Rußland sind daher auch neuerdings im Sande
verlaufen.

Ein viel geteilter Irrtum verdient noch kurz Erwähnung. Es ist oft
behauptet worden, und zwar stets mit deutlicher Anspielung auf den Grafen
Caprivi und den "jugendlichen" Kaiser, daß die Versuche, England an den
Dreibund heranzuziehen, Nußland erst in die Arme Frankreichs getrieben
hätten. Diese Anschauung konnte wohl bloß auf dem Boden der veralteten,

Grenzboten III 1897 74

Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

auf die auch das bekannte Wort gemünzt war: „Wir laufen niemand nach,"
Gegner Bismarcks haben neuerdings diese Wendung dahin auszulegen gesucht,
als wäre sie gegen das offizielle Nußland gerichtet gewesen, und wollen daraus
beweisen, daß schon zu seinen Zeiten ein höchst gespanntes Verhältnis zwischen
Deutschland und Rußland bestanden habe. Das ist aber ein Irrtum. Bismarck
deutete auch damals auf den Geheimvertrag hin, indem er nach den vorhin
erwähnten Worten fortfuhr: „Das hält uns aber nicht ab — im Gegenteil,
es ist uns ein Sporn mehr, die Vertragsrechte, die Rußland uns gegenüber
hat, mit doppelter Genauigkeit zu beobachten." Dieser Satz war offenbar an
den Zaren und das offizielle Rußland gerichtet, um aber die Aufmerksamkeit
von einer so auffülligen Stelle abzulenken, knüpfte der Altreichskanzler sofort
eine Erörterung über die vertragsmäßigen Rechte Rußlands in Bulgarien an,
die aus den Beschlüssen der Berliner Konferenz abzuleiten sind. Es ist heute
sehr interessant, die Stelle der Bismarckischeu Rede wieder nachzulesen; sie ist
damals in Deutschland und in Rußland, wie überall, wo man von dem
Geheimvertrag nichts wußte, schief aufgefaßt worden. Der Neutralitätsvertrag,
der dem Zaren Beruhigung gewährte, war allerdings ein fester Draht, der
uns mit Rußland verband.

Daß er zerschnitten wurde, darüber haben die am lautesten gezetert, die
sich nie über die eigentümliche Natur dieses Neutralitätsvertrags einen Ge¬
danken gemacht haben. Warum er zerschnitten worden ist, darüber ist nichts
Zuverlässiges bekannt, es sind bloß Vermutungen möglich. Thatsache ist,
daß trotz des Neutrnlitätsvertrcigs immer engere Beziehungen zwischen russischen
und französischen Kreisen angeknüpft wurden, und daß z. B. niemals mehr
russische Großfürsten und Würdenträger in Paris verkehrten, als in den letzten
Regierungsjahren Alexanders III. Ob der Neutralitätsvertrag nicht verlängert
worden ist, weil er nur einem das französische Bündnis suchenden Nußland
Vorteil gewährte und Deutschland gewissermaßen die Hände band, oder weil
die auf den Zusammenschluß der europäischen Mächte gerichtete Politik des
Dreibunds unter Deutschlands Führung einen solchen Vertrag überflüssig
wachte, bedarf hier, bei dem Mangel aller Grundlagen, keiner Erörterung.
Die Thatsache liegt unzweifelhaft vor, daß das Verhältnis zwischen Deutsch¬
land und Rußland gegenwärtig besser ist als in den sechs Jahren, wo der
Vertrag bestand. Die Klagen über eine schlecht geleitete äußere Politik des
»neuen Kurses" gegenüber Rußland sind daher auch neuerdings im Sande
verlaufen.

Ein viel geteilter Irrtum verdient noch kurz Erwähnung. Es ist oft
behauptet worden, und zwar stets mit deutlicher Anspielung auf den Grafen
Caprivi und den „jugendlichen" Kaiser, daß die Versuche, England an den
Dreibund heranzuziehen, Nußland erst in die Arme Frankreichs getrieben
hätten. Diese Anschauung konnte wohl bloß auf dem Boden der veralteten,

Grenzboten III 1897 74

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[0593] Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte Grenzboten III 1897 74 auf die auch das bekannte Wort gemünzt war: „Wir laufen niemand nach," Gegner Bismarcks haben neuerdings diese Wendung dahin auszulegen gesucht, als wäre sie gegen das offizielle Nußland gerichtet gewesen, und wollen daraus beweisen, daß schon zu seinen Zeiten ein höchst gespanntes Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland bestanden habe. Das ist aber ein Irrtum. Bismarck deutete auch damals auf den Geheimvertrag hin, indem er nach den vorhin erwähnten Worten fortfuhr: „Das hält uns aber nicht ab — im Gegenteil, es ist uns ein Sporn mehr, die Vertragsrechte, die Rußland uns gegenüber hat, mit doppelter Genauigkeit zu beobachten." Dieser Satz war offenbar an den Zaren und das offizielle Rußland gerichtet, um aber die Aufmerksamkeit von einer so auffülligen Stelle abzulenken, knüpfte der Altreichskanzler sofort eine Erörterung über die vertragsmäßigen Rechte Rußlands in Bulgarien an, die aus den Beschlüssen der Berliner Konferenz abzuleiten sind. Es ist heute sehr interessant, die Stelle der Bismarckischeu Rede wieder nachzulesen; sie ist damals in Deutschland und in Rußland, wie überall, wo man von dem Geheimvertrag nichts wußte, schief aufgefaßt worden. Der Neutralitätsvertrag, der dem Zaren Beruhigung gewährte, war allerdings ein fester Draht, der uns mit Rußland verband. Daß er zerschnitten wurde, darüber haben die am lautesten gezetert, die sich nie über die eigentümliche Natur dieses Neutralitätsvertrags einen Ge¬ danken gemacht haben. Warum er zerschnitten worden ist, darüber ist nichts Zuverlässiges bekannt, es sind bloß Vermutungen möglich. Thatsache ist, daß trotz des Neutrnlitätsvertrcigs immer engere Beziehungen zwischen russischen und französischen Kreisen angeknüpft wurden, und daß z. B. niemals mehr russische Großfürsten und Würdenträger in Paris verkehrten, als in den letzten Regierungsjahren Alexanders III. Ob der Neutralitätsvertrag nicht verlängert worden ist, weil er nur einem das französische Bündnis suchenden Nußland Vorteil gewährte und Deutschland gewissermaßen die Hände band, oder weil die auf den Zusammenschluß der europäischen Mächte gerichtete Politik des Dreibunds unter Deutschlands Führung einen solchen Vertrag überflüssig wachte, bedarf hier, bei dem Mangel aller Grundlagen, keiner Erörterung. Die Thatsache liegt unzweifelhaft vor, daß das Verhältnis zwischen Deutsch¬ land und Rußland gegenwärtig besser ist als in den sechs Jahren, wo der Vertrag bestand. Die Klagen über eine schlecht geleitete äußere Politik des »neuen Kurses" gegenüber Rußland sind daher auch neuerdings im Sande verlaufen. Ein viel geteilter Irrtum verdient noch kurz Erwähnung. Es ist oft behauptet worden, und zwar stets mit deutlicher Anspielung auf den Grafen Caprivi und den „jugendlichen" Kaiser, daß die Versuche, England an den Dreibund heranzuziehen, Nußland erst in die Arme Frankreichs getrieben hätten. Diese Anschauung konnte wohl bloß auf dem Boden der veralteten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/593>, abgerufen am 24.07.2024.