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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

aus der vormärzlichen Zeit stammenden liberalen und konservativen Partei¬
ansichten über England und Rußland gedeihen. Die Liberalen waren von
jeher immer englisch, die Konservativen russisch gesinnt, und selbst Bismarck
hat erfahren müssen, wie sehr darunter das deutsche Interesse litt. So sind'
auch die Reisen des Kaisers nach England unter falscher Voraussetzung be¬
trachtet worden. Man hat ganz vergessen, daß die Königin Viktoria, so oft
sie auch durch Deutschland fuhr, während der ganzen Regierungszeit des
Kaisers Wilhelm I. niemals in Berlin gewesen ist und erst am Totenbett ihres
kaiserlichen Schwiegersohnes dort erschien. Ein intimer Verkehr zwischen den
Höfen von Berlin und London war unter diesen Umständen nicht möglich, und
anch der Kronprinz Friedrich Wilhelm hatte nur bei besonders feierlichen An¬
lässen in der englischen Hauptstadt geweilt. Nachdem durch den Besuch der
Königin von England in Berlin die trennende Schranke gefallen war, nahm Kaiser
Wilhelm II., als Erbe der Friedensmission seines Großvaters, die Gelegenheit
wahr, durch persönliche Besuche, auch in England, die auf ihn gekommue Auf¬
gabe zu erfüllen. Es ist möglich, daß sein Bestreben, die in Deutschland stark
in Verfall geratene Flottenidee etwas zu beleben, zu einer besondern Betonung
der englischen Reisen Anlaß gegeben haben mag, aber von einem Anschluß
Englands an den Dreibuud ist nie die Rede gewesen außer in der liberalen
Presse, namentlich in Deutschland, die dieses politische Ereignis mit lauter
Stimme verkündigte. Der tiefe Haß, mit dem die englische Presse unsern
Kaiser persönlich angreift, beweist seit mehreren Jahren, wie sehr man sich
jenseits der Nordsee in den auch dort angefachten Hoffnungen getäuscht sieht.
Wenn sich aber das in Rußland damals ewig rege Mißtrauen gegen Deutsch¬
land durch die Besuche unsers Kaisers in England wirklich zum mittelbaren
Anschluß an Frankreich getrieben gefühlt hat, fo sind weniger die Besuche
an sich, als der Lärm der liberalen Presse daran schuld.

Doch das sind jetzt überwundne Zustünde, die kaum noch ernster poli¬
tischer Erwähnung wert sind; nur kleine Parteigeister, denen die großen Dinge
entgehen, beschäftigen sich noch mit diesen abgethanen Geschichten. Die zahl¬
reichen Besuche des Kaisers an allen europäischen Höfen sind überhaupt nur
vou dem schon angeführten Gesichtspunkte ans aufzufassen. Er will als
deutscher Kaiser der Führer einer Friedenspolitik sein, und er fühlte sich zur
persönlichen Anknüpfung friedlicher Beziehungen umso mehr veranlaßt, als
ihm die Feinde Deutschlands kriegerische Absichten unterschoben. Auch die
zahlreichen Beweise ritterlicher Artigkeit gegenüber Frankreich gingen aus dem
gleichen Bestreben hervor, und sie sind, obgleich anfangs in Deutschland
vielfach mit überweisen Kopfschütteln aufgenommen, nicht ohne Wirkung ge¬
blieben. Guillaume, wie ihn die Franzosen nennen, ist jenseits der Vogesen
keineswegs verhaßt, denn in Frankreich ist die Empfindung für internationale
Höflichkeit feiner und entwickelter als bei uns. Auf dem Gebiete der Politik


Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

aus der vormärzlichen Zeit stammenden liberalen und konservativen Partei¬
ansichten über England und Rußland gedeihen. Die Liberalen waren von
jeher immer englisch, die Konservativen russisch gesinnt, und selbst Bismarck
hat erfahren müssen, wie sehr darunter das deutsche Interesse litt. So sind'
auch die Reisen des Kaisers nach England unter falscher Voraussetzung be¬
trachtet worden. Man hat ganz vergessen, daß die Königin Viktoria, so oft
sie auch durch Deutschland fuhr, während der ganzen Regierungszeit des
Kaisers Wilhelm I. niemals in Berlin gewesen ist und erst am Totenbett ihres
kaiserlichen Schwiegersohnes dort erschien. Ein intimer Verkehr zwischen den
Höfen von Berlin und London war unter diesen Umständen nicht möglich, und
anch der Kronprinz Friedrich Wilhelm hatte nur bei besonders feierlichen An¬
lässen in der englischen Hauptstadt geweilt. Nachdem durch den Besuch der
Königin von England in Berlin die trennende Schranke gefallen war, nahm Kaiser
Wilhelm II., als Erbe der Friedensmission seines Großvaters, die Gelegenheit
wahr, durch persönliche Besuche, auch in England, die auf ihn gekommue Auf¬
gabe zu erfüllen. Es ist möglich, daß sein Bestreben, die in Deutschland stark
in Verfall geratene Flottenidee etwas zu beleben, zu einer besondern Betonung
der englischen Reisen Anlaß gegeben haben mag, aber von einem Anschluß
Englands an den Dreibuud ist nie die Rede gewesen außer in der liberalen
Presse, namentlich in Deutschland, die dieses politische Ereignis mit lauter
Stimme verkündigte. Der tiefe Haß, mit dem die englische Presse unsern
Kaiser persönlich angreift, beweist seit mehreren Jahren, wie sehr man sich
jenseits der Nordsee in den auch dort angefachten Hoffnungen getäuscht sieht.
Wenn sich aber das in Rußland damals ewig rege Mißtrauen gegen Deutsch¬
land durch die Besuche unsers Kaisers in England wirklich zum mittelbaren
Anschluß an Frankreich getrieben gefühlt hat, fo sind weniger die Besuche
an sich, als der Lärm der liberalen Presse daran schuld.

Doch das sind jetzt überwundne Zustünde, die kaum noch ernster poli¬
tischer Erwähnung wert sind; nur kleine Parteigeister, denen die großen Dinge
entgehen, beschäftigen sich noch mit diesen abgethanen Geschichten. Die zahl¬
reichen Besuche des Kaisers an allen europäischen Höfen sind überhaupt nur
vou dem schon angeführten Gesichtspunkte ans aufzufassen. Er will als
deutscher Kaiser der Führer einer Friedenspolitik sein, und er fühlte sich zur
persönlichen Anknüpfung friedlicher Beziehungen umso mehr veranlaßt, als
ihm die Feinde Deutschlands kriegerische Absichten unterschoben. Auch die
zahlreichen Beweise ritterlicher Artigkeit gegenüber Frankreich gingen aus dem
gleichen Bestreben hervor, und sie sind, obgleich anfangs in Deutschland
vielfach mit überweisen Kopfschütteln aufgenommen, nicht ohne Wirkung ge¬
blieben. Guillaume, wie ihn die Franzosen nennen, ist jenseits der Vogesen
keineswegs verhaßt, denn in Frankreich ist die Empfindung für internationale
Höflichkeit feiner und entwickelter als bei uns. Auf dem Gebiete der Politik


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[0594] Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte aus der vormärzlichen Zeit stammenden liberalen und konservativen Partei¬ ansichten über England und Rußland gedeihen. Die Liberalen waren von jeher immer englisch, die Konservativen russisch gesinnt, und selbst Bismarck hat erfahren müssen, wie sehr darunter das deutsche Interesse litt. So sind' auch die Reisen des Kaisers nach England unter falscher Voraussetzung be¬ trachtet worden. Man hat ganz vergessen, daß die Königin Viktoria, so oft sie auch durch Deutschland fuhr, während der ganzen Regierungszeit des Kaisers Wilhelm I. niemals in Berlin gewesen ist und erst am Totenbett ihres kaiserlichen Schwiegersohnes dort erschien. Ein intimer Verkehr zwischen den Höfen von Berlin und London war unter diesen Umständen nicht möglich, und anch der Kronprinz Friedrich Wilhelm hatte nur bei besonders feierlichen An¬ lässen in der englischen Hauptstadt geweilt. Nachdem durch den Besuch der Königin von England in Berlin die trennende Schranke gefallen war, nahm Kaiser Wilhelm II., als Erbe der Friedensmission seines Großvaters, die Gelegenheit wahr, durch persönliche Besuche, auch in England, die auf ihn gekommue Auf¬ gabe zu erfüllen. Es ist möglich, daß sein Bestreben, die in Deutschland stark in Verfall geratene Flottenidee etwas zu beleben, zu einer besondern Betonung der englischen Reisen Anlaß gegeben haben mag, aber von einem Anschluß Englands an den Dreibuud ist nie die Rede gewesen außer in der liberalen Presse, namentlich in Deutschland, die dieses politische Ereignis mit lauter Stimme verkündigte. Der tiefe Haß, mit dem die englische Presse unsern Kaiser persönlich angreift, beweist seit mehreren Jahren, wie sehr man sich jenseits der Nordsee in den auch dort angefachten Hoffnungen getäuscht sieht. Wenn sich aber das in Rußland damals ewig rege Mißtrauen gegen Deutsch¬ land durch die Besuche unsers Kaisers in England wirklich zum mittelbaren Anschluß an Frankreich getrieben gefühlt hat, fo sind weniger die Besuche an sich, als der Lärm der liberalen Presse daran schuld. Doch das sind jetzt überwundne Zustünde, die kaum noch ernster poli¬ tischer Erwähnung wert sind; nur kleine Parteigeister, denen die großen Dinge entgehen, beschäftigen sich noch mit diesen abgethanen Geschichten. Die zahl¬ reichen Besuche des Kaisers an allen europäischen Höfen sind überhaupt nur vou dem schon angeführten Gesichtspunkte ans aufzufassen. Er will als deutscher Kaiser der Führer einer Friedenspolitik sein, und er fühlte sich zur persönlichen Anknüpfung friedlicher Beziehungen umso mehr veranlaßt, als ihm die Feinde Deutschlands kriegerische Absichten unterschoben. Auch die zahlreichen Beweise ritterlicher Artigkeit gegenüber Frankreich gingen aus dem gleichen Bestreben hervor, und sie sind, obgleich anfangs in Deutschland vielfach mit überweisen Kopfschütteln aufgenommen, nicht ohne Wirkung ge¬ blieben. Guillaume, wie ihn die Franzosen nennen, ist jenseits der Vogesen keineswegs verhaßt, denn in Frankreich ist die Empfindung für internationale Höflichkeit feiner und entwickelter als bei uns. Auf dem Gebiete der Politik

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/594>, abgerufen am 29.12.2024.