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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Anm Heimatschutz

Nun kommt der Verfasser des "Heimatschutzes," der einige Jahre vorher
zuletzt da gewesen ist, zu den Bauer, sieht die Umwälzung und sagt: "Was
habt ihr da angerichtet! Ihr habt die Natur zur Sklavin erniedrigt, habt ihr
ein Joch abstrakter Nutzungssysteme, das ihr völlig fremd ist, gewaltsam auf¬
gezwängt, habt Bäche begradigt,*) zu Gruben umgewandelt, Waldgrenzen be¬
gradigt, schnurgerade breite, unter Umständen steil bergansteigende Feldwege
angelegt; nirgends ist mehr ein Hohlweg oder eine seuchte Stelle mit der ihr
eignen wilden Pflanzen- und Tierwelt usw."

Dem Bauer würde für eine solche Ansicht nicht das geringste Verständnis
aufdämmern, er würde vor Erstaunen sprachlos sein, aber weder nach den
lauschigen Hohlwegen noch nach den feuchten Stellen seiner Wiese mit der ihr
eignen wilden Pflanzen- und Tierwelt (Orchideen, Binsen, Frösche) irgend
welche Sehnsucht verspüren.

Soll nun der Staat mehr das materielle Wohl des Bauern berücksichtigen,
der sich in Schaffensfreude seines neuen Besitzes erfreut, oder soll er dafür
sorgen, daß das Auge des ästhetisch gebildeten Städters nicht verletzt wird?
Die Antwort kann doch wohl nicht zweifelhaft sein.

Es ist aber auch durchaus nicht gesagt, daß durch jede Verkoppelung das
Landschaftsbild beeinträchtigt wird; in bergigen Feldmarken ist eine volle Regel¬
mäßigkeit der Feldlager gar nicht zu erreichen, auch beleidigt nicht jede Regel¬
mäßigkeit der Feldlager das Auge. Andrerseits hat es die. Verkoppelung
mancher Feldmarken ermöglicht, Wege anzulegen, die mit Schatten spendenden
Bäumen bepflanzt werden können, Höhen aufzuforsten, die vorher zur Weide
dienten. Wer die Umgebung Göttingens seit längerer Zeit nicht gesehen hat
und nun den Hainberg aufsucht, wird entzückt sein über die Verschönerung, die
durch die Aufforstung des kahlen Vergzuges der Stadt zu Teil geworden ist.
Diese Aufforstung ist aber erst durch die mit der Verkoppelung verbundne
Aufhebung der Weide ermöglicht worden. Verderblich für das Landschaftsbild
ist es allerdings wohl immer, wenn Bäche begradigt, auch wenn Waldspitzen
abgeschnitten oder in den Wald einspringende Wiesen zum Forst geschlagen
werden. Aber ehe man urteilt, muß man sich darüber klar werden, warum
das geschieht. Der ästhetisirende Städter behauptet -- man kann das in Zeit¬
schriften oft lesen --, der Geometer thue das, weil ihm dadurch das Messen
und Berechnen erleichtert werde. Darnach wäre der Landmesser ein sehr
einflußreicher Mann! In Wirklichkeit ist es aber anders.

Die Bäche sind in den unverkoppelten Feldmarken fast überall verwahrlost,
sie haben sich ihren Weg genommen, wo sie ihn fanden. Ihr Abfluß ist viel¬
fach durch die Windungen, die sie zu machen haben, so verlangsamt, daß bei
Tauwetter und schweren Gewittern die Dörfer, die sie durchfließen, unter



Unter begradigen versteht man die Beseitigung der natürlichen Krümmungen.
Anm Heimatschutz

Nun kommt der Verfasser des „Heimatschutzes," der einige Jahre vorher
zuletzt da gewesen ist, zu den Bauer, sieht die Umwälzung und sagt: „Was
habt ihr da angerichtet! Ihr habt die Natur zur Sklavin erniedrigt, habt ihr
ein Joch abstrakter Nutzungssysteme, das ihr völlig fremd ist, gewaltsam auf¬
gezwängt, habt Bäche begradigt,*) zu Gruben umgewandelt, Waldgrenzen be¬
gradigt, schnurgerade breite, unter Umständen steil bergansteigende Feldwege
angelegt; nirgends ist mehr ein Hohlweg oder eine seuchte Stelle mit der ihr
eignen wilden Pflanzen- und Tierwelt usw."

Dem Bauer würde für eine solche Ansicht nicht das geringste Verständnis
aufdämmern, er würde vor Erstaunen sprachlos sein, aber weder nach den
lauschigen Hohlwegen noch nach den feuchten Stellen seiner Wiese mit der ihr
eignen wilden Pflanzen- und Tierwelt (Orchideen, Binsen, Frösche) irgend
welche Sehnsucht verspüren.

Soll nun der Staat mehr das materielle Wohl des Bauern berücksichtigen,
der sich in Schaffensfreude seines neuen Besitzes erfreut, oder soll er dafür
sorgen, daß das Auge des ästhetisch gebildeten Städters nicht verletzt wird?
Die Antwort kann doch wohl nicht zweifelhaft sein.

Es ist aber auch durchaus nicht gesagt, daß durch jede Verkoppelung das
Landschaftsbild beeinträchtigt wird; in bergigen Feldmarken ist eine volle Regel¬
mäßigkeit der Feldlager gar nicht zu erreichen, auch beleidigt nicht jede Regel¬
mäßigkeit der Feldlager das Auge. Andrerseits hat es die. Verkoppelung
mancher Feldmarken ermöglicht, Wege anzulegen, die mit Schatten spendenden
Bäumen bepflanzt werden können, Höhen aufzuforsten, die vorher zur Weide
dienten. Wer die Umgebung Göttingens seit längerer Zeit nicht gesehen hat
und nun den Hainberg aufsucht, wird entzückt sein über die Verschönerung, die
durch die Aufforstung des kahlen Vergzuges der Stadt zu Teil geworden ist.
Diese Aufforstung ist aber erst durch die mit der Verkoppelung verbundne
Aufhebung der Weide ermöglicht worden. Verderblich für das Landschaftsbild
ist es allerdings wohl immer, wenn Bäche begradigt, auch wenn Waldspitzen
abgeschnitten oder in den Wald einspringende Wiesen zum Forst geschlagen
werden. Aber ehe man urteilt, muß man sich darüber klar werden, warum
das geschieht. Der ästhetisirende Städter behauptet — man kann das in Zeit¬
schriften oft lesen —, der Geometer thue das, weil ihm dadurch das Messen
und Berechnen erleichtert werde. Darnach wäre der Landmesser ein sehr
einflußreicher Mann! In Wirklichkeit ist es aber anders.

Die Bäche sind in den unverkoppelten Feldmarken fast überall verwahrlost,
sie haben sich ihren Weg genommen, wo sie ihn fanden. Ihr Abfluß ist viel¬
fach durch die Windungen, die sie zu machen haben, so verlangsamt, daß bei
Tauwetter und schweren Gewittern die Dörfer, die sie durchfließen, unter



Unter begradigen versteht man die Beseitigung der natürlichen Krümmungen.
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[0059] Anm Heimatschutz Nun kommt der Verfasser des „Heimatschutzes," der einige Jahre vorher zuletzt da gewesen ist, zu den Bauer, sieht die Umwälzung und sagt: „Was habt ihr da angerichtet! Ihr habt die Natur zur Sklavin erniedrigt, habt ihr ein Joch abstrakter Nutzungssysteme, das ihr völlig fremd ist, gewaltsam auf¬ gezwängt, habt Bäche begradigt,*) zu Gruben umgewandelt, Waldgrenzen be¬ gradigt, schnurgerade breite, unter Umständen steil bergansteigende Feldwege angelegt; nirgends ist mehr ein Hohlweg oder eine seuchte Stelle mit der ihr eignen wilden Pflanzen- und Tierwelt usw." Dem Bauer würde für eine solche Ansicht nicht das geringste Verständnis aufdämmern, er würde vor Erstaunen sprachlos sein, aber weder nach den lauschigen Hohlwegen noch nach den feuchten Stellen seiner Wiese mit der ihr eignen wilden Pflanzen- und Tierwelt (Orchideen, Binsen, Frösche) irgend welche Sehnsucht verspüren. Soll nun der Staat mehr das materielle Wohl des Bauern berücksichtigen, der sich in Schaffensfreude seines neuen Besitzes erfreut, oder soll er dafür sorgen, daß das Auge des ästhetisch gebildeten Städters nicht verletzt wird? Die Antwort kann doch wohl nicht zweifelhaft sein. Es ist aber auch durchaus nicht gesagt, daß durch jede Verkoppelung das Landschaftsbild beeinträchtigt wird; in bergigen Feldmarken ist eine volle Regel¬ mäßigkeit der Feldlager gar nicht zu erreichen, auch beleidigt nicht jede Regel¬ mäßigkeit der Feldlager das Auge. Andrerseits hat es die. Verkoppelung mancher Feldmarken ermöglicht, Wege anzulegen, die mit Schatten spendenden Bäumen bepflanzt werden können, Höhen aufzuforsten, die vorher zur Weide dienten. Wer die Umgebung Göttingens seit längerer Zeit nicht gesehen hat und nun den Hainberg aufsucht, wird entzückt sein über die Verschönerung, die durch die Aufforstung des kahlen Vergzuges der Stadt zu Teil geworden ist. Diese Aufforstung ist aber erst durch die mit der Verkoppelung verbundne Aufhebung der Weide ermöglicht worden. Verderblich für das Landschaftsbild ist es allerdings wohl immer, wenn Bäche begradigt, auch wenn Waldspitzen abgeschnitten oder in den Wald einspringende Wiesen zum Forst geschlagen werden. Aber ehe man urteilt, muß man sich darüber klar werden, warum das geschieht. Der ästhetisirende Städter behauptet — man kann das in Zeit¬ schriften oft lesen —, der Geometer thue das, weil ihm dadurch das Messen und Berechnen erleichtert werde. Darnach wäre der Landmesser ein sehr einflußreicher Mann! In Wirklichkeit ist es aber anders. Die Bäche sind in den unverkoppelten Feldmarken fast überall verwahrlost, sie haben sich ihren Weg genommen, wo sie ihn fanden. Ihr Abfluß ist viel¬ fach durch die Windungen, die sie zu machen haben, so verlangsamt, daß bei Tauwetter und schweren Gewittern die Dörfer, die sie durchfließen, unter Unter begradigen versteht man die Beseitigung der natürlichen Krümmungen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/59>, abgerufen am 24.07.2024.