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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

man annehmen wollte, sie hätten sich etwa eine solche Art von Nebenregierung
gefallen lassen, und eine Vermutung darüber, wie sich Fürst Bismarck selbst
einer ähnlichen Haltung seines Vorgängers gegenüber benommen haben würde,
braucht gar nicht angedeutet zu werden. Solche Zustände sind schlechthin un¬
denkbar und wären auch unhaltbar gewesen, aber sie sind nicht vorgekommen,
nur Leichtgläubige konnten so etwas für möglich halten. Nach den Lützow-
und Leckertprozcfsen haben auch diese Dinge nachgerade ihr Ende erreicht, das
Publikum ist gegen dergleichen zu mißtrauisch geworden. Allerdings hat bei
dem Bekanntwerden des russischen Neutralitätsvertrags der Reichsanzeiger
zweimal eingegriffen und die Thatsache selbst als "Bruch eines Staats¬
geheimnisses" erklärt, im übrigen aber sich jeder Beziehung auf die Person
des Fürsten Bismarck enthalten. Das war auch vollkommen in der wirklichen
Sachlage begründet.

Als auffälliger Umstand muß nun erscheinen, daß in den so erregten Aus¬
einandersetzungen über die Hamburger Enthüllung niemals die Frage auf¬
geworfen worden ist, unter welchen Verhältnissen eigentlich der Neutralitäts¬
vertrag zustande gekommen war, und welchen Zwecken er dienen sollte. Daß
er zur Vermehrung der Sicherheit Deutschlands beitrug, ist wohl unverkenn-
bar; doch unbedingt nötig war er nicht, wenn es mit dem Dreibund überall
voller Ernst war. Und umgekehrt hing ihm als Geheimvertrag der Makel
einer gewissen Nückhaltigkeit gegen Osterreich und Italien an. Das ist auch
nach dem Bekanntwerden durch das Hamburger Blatt von verschiednen Seiten,
namentlich von Feinden Bismarcks und Gegnern Deutschlands, scharf betont
worden. Auch nachdem bekannt geworden war, daß Österreich und Italien
von dem geheimen Vertrage vertraulich in Kenntnis gesetzt worden waren,
wurde fein Wesen nicht klarer. Alles lies schließlich auf Streitigkeiten um
die Person des Altreichskanzlers hinaus, die ergebnislos bleiben mußten,
weil seine staatsmünnische Größe unangreifbar feststeht, die aber, als von
Liebe oder Haß diktirt, der politischen Seite der Frage nicht gerecht wurden.

Der Neutralitütsvertrag zwischen Deutschland und Nußland hat offenbar
gar nicht die Bedeutung gehabt, die ihm beigelegt worden ist. Er entsprach
einfach der politischen Sachlage, wie sie durch die eigentümliche Persönlichkeit
des Zaren Alexanders III. gegeben war. Das Verhältnis unsrer Nachbarn
un Osten und Westen zu Deutschland wird meist nur einseitig betrachtet, und
man vergißt, ein notwendiges völkerpsychologisches Glied mit in die Rechnung
zu stellen, das nicht übersehen werden sollte, aber offiziell niemals betont
werden kann. Die vorliegende Betrachtung braucht diese Rücksicht nicht zu
nehmen und darf offen darüber sprechen. Die unerwarteten und selbst die
Großthaten des Feldherrngenies Napoleon in den Schatten stellenden militä¬
rischen Erfolge der Feldzüge von 1866 und 1870/71, die nach vollständiger
Besiegung des Gegners keine kriegerische Einmischung dritter zuließen, hatten


Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

man annehmen wollte, sie hätten sich etwa eine solche Art von Nebenregierung
gefallen lassen, und eine Vermutung darüber, wie sich Fürst Bismarck selbst
einer ähnlichen Haltung seines Vorgängers gegenüber benommen haben würde,
braucht gar nicht angedeutet zu werden. Solche Zustände sind schlechthin un¬
denkbar und wären auch unhaltbar gewesen, aber sie sind nicht vorgekommen,
nur Leichtgläubige konnten so etwas für möglich halten. Nach den Lützow-
und Leckertprozcfsen haben auch diese Dinge nachgerade ihr Ende erreicht, das
Publikum ist gegen dergleichen zu mißtrauisch geworden. Allerdings hat bei
dem Bekanntwerden des russischen Neutralitätsvertrags der Reichsanzeiger
zweimal eingegriffen und die Thatsache selbst als „Bruch eines Staats¬
geheimnisses" erklärt, im übrigen aber sich jeder Beziehung auf die Person
des Fürsten Bismarck enthalten. Das war auch vollkommen in der wirklichen
Sachlage begründet.

Als auffälliger Umstand muß nun erscheinen, daß in den so erregten Aus¬
einandersetzungen über die Hamburger Enthüllung niemals die Frage auf¬
geworfen worden ist, unter welchen Verhältnissen eigentlich der Neutralitäts¬
vertrag zustande gekommen war, und welchen Zwecken er dienen sollte. Daß
er zur Vermehrung der Sicherheit Deutschlands beitrug, ist wohl unverkenn-
bar; doch unbedingt nötig war er nicht, wenn es mit dem Dreibund überall
voller Ernst war. Und umgekehrt hing ihm als Geheimvertrag der Makel
einer gewissen Nückhaltigkeit gegen Osterreich und Italien an. Das ist auch
nach dem Bekanntwerden durch das Hamburger Blatt von verschiednen Seiten,
namentlich von Feinden Bismarcks und Gegnern Deutschlands, scharf betont
worden. Auch nachdem bekannt geworden war, daß Österreich und Italien
von dem geheimen Vertrage vertraulich in Kenntnis gesetzt worden waren,
wurde fein Wesen nicht klarer. Alles lies schließlich auf Streitigkeiten um
die Person des Altreichskanzlers hinaus, die ergebnislos bleiben mußten,
weil seine staatsmünnische Größe unangreifbar feststeht, die aber, als von
Liebe oder Haß diktirt, der politischen Seite der Frage nicht gerecht wurden.

Der Neutralitütsvertrag zwischen Deutschland und Nußland hat offenbar
gar nicht die Bedeutung gehabt, die ihm beigelegt worden ist. Er entsprach
einfach der politischen Sachlage, wie sie durch die eigentümliche Persönlichkeit
des Zaren Alexanders III. gegeben war. Das Verhältnis unsrer Nachbarn
un Osten und Westen zu Deutschland wird meist nur einseitig betrachtet, und
man vergißt, ein notwendiges völkerpsychologisches Glied mit in die Rechnung
zu stellen, das nicht übersehen werden sollte, aber offiziell niemals betont
werden kann. Die vorliegende Betrachtung braucht diese Rücksicht nicht zu
nehmen und darf offen darüber sprechen. Die unerwarteten und selbst die
Großthaten des Feldherrngenies Napoleon in den Schatten stellenden militä¬
rischen Erfolge der Feldzüge von 1866 und 1870/71, die nach vollständiger
Besiegung des Gegners keine kriegerische Einmischung dritter zuließen, hatten


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[0589] Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte man annehmen wollte, sie hätten sich etwa eine solche Art von Nebenregierung gefallen lassen, und eine Vermutung darüber, wie sich Fürst Bismarck selbst einer ähnlichen Haltung seines Vorgängers gegenüber benommen haben würde, braucht gar nicht angedeutet zu werden. Solche Zustände sind schlechthin un¬ denkbar und wären auch unhaltbar gewesen, aber sie sind nicht vorgekommen, nur Leichtgläubige konnten so etwas für möglich halten. Nach den Lützow- und Leckertprozcfsen haben auch diese Dinge nachgerade ihr Ende erreicht, das Publikum ist gegen dergleichen zu mißtrauisch geworden. Allerdings hat bei dem Bekanntwerden des russischen Neutralitätsvertrags der Reichsanzeiger zweimal eingegriffen und die Thatsache selbst als „Bruch eines Staats¬ geheimnisses" erklärt, im übrigen aber sich jeder Beziehung auf die Person des Fürsten Bismarck enthalten. Das war auch vollkommen in der wirklichen Sachlage begründet. Als auffälliger Umstand muß nun erscheinen, daß in den so erregten Aus¬ einandersetzungen über die Hamburger Enthüllung niemals die Frage auf¬ geworfen worden ist, unter welchen Verhältnissen eigentlich der Neutralitäts¬ vertrag zustande gekommen war, und welchen Zwecken er dienen sollte. Daß er zur Vermehrung der Sicherheit Deutschlands beitrug, ist wohl unverkenn- bar; doch unbedingt nötig war er nicht, wenn es mit dem Dreibund überall voller Ernst war. Und umgekehrt hing ihm als Geheimvertrag der Makel einer gewissen Nückhaltigkeit gegen Osterreich und Italien an. Das ist auch nach dem Bekanntwerden durch das Hamburger Blatt von verschiednen Seiten, namentlich von Feinden Bismarcks und Gegnern Deutschlands, scharf betont worden. Auch nachdem bekannt geworden war, daß Österreich und Italien von dem geheimen Vertrage vertraulich in Kenntnis gesetzt worden waren, wurde fein Wesen nicht klarer. Alles lies schließlich auf Streitigkeiten um die Person des Altreichskanzlers hinaus, die ergebnislos bleiben mußten, weil seine staatsmünnische Größe unangreifbar feststeht, die aber, als von Liebe oder Haß diktirt, der politischen Seite der Frage nicht gerecht wurden. Der Neutralitütsvertrag zwischen Deutschland und Nußland hat offenbar gar nicht die Bedeutung gehabt, die ihm beigelegt worden ist. Er entsprach einfach der politischen Sachlage, wie sie durch die eigentümliche Persönlichkeit des Zaren Alexanders III. gegeben war. Das Verhältnis unsrer Nachbarn un Osten und Westen zu Deutschland wird meist nur einseitig betrachtet, und man vergißt, ein notwendiges völkerpsychologisches Glied mit in die Rechnung zu stellen, das nicht übersehen werden sollte, aber offiziell niemals betont werden kann. Die vorliegende Betrachtung braucht diese Rücksicht nicht zu nehmen und darf offen darüber sprechen. Die unerwarteten und selbst die Großthaten des Feldherrngenies Napoleon in den Schatten stellenden militä¬ rischen Erfolge der Feldzüge von 1866 und 1870/71, die nach vollständiger Besiegung des Gegners keine kriegerische Einmischung dritter zuließen, hatten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/589>, abgerufen am 29.12.2024.