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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

Dahinein fiel dann noch die Indiskretion der Hamburger Nachrichten
mit ihren Enthüllungen über den geheimen Neutralitütsvertrag zwischen Deutsch¬
land und Rußland bis 1890, die sofort wieder den erbittertsten Kampf der
Parteien für oder wider Bismarck entfesselte. Man verbiß sich in die heftigsten
Streitereien über eine politische Lage, die seit länger als sechs Jahren nicht
mehr bestand, es wurde gänzlich unbeachtet gelassen, daß ein Zusammenschluß
der "gesamten Völker des europäischen Weltteils" den besondern Neutralitüts¬
vertrag mit Nußland gegenstandslos machte, und der Umstand, daß der Be¬
ginn der Wendung in die Zeit der Neichskanzlerschaft des Grafen Caprivi fiel,
genügte auf Monate, um die Preßkämpfer der erhitzten Parteien vollauf zu
beschäftigen. Man sah nicht oder wollte nicht sehen, daß die neue Gruppi-
rung der Mächte schon so weit gediehen war, daß auch eine vorläufige
offizielle Kundgebung darüber angängig erscheinen konnte. Vefürchtnngen
wegen der Folgen des begeisterten Zarenempfangs in Frankreich waren unter
diesen Umstünden gar nicht nötig, und die Indiskretion des Hamburger Blattes
erwies sich als doppelt überflüssig.

Hier nochmals auf die damaligen Erörterungen in den Zeitungen einzu¬
gehen, hieße leeres Stroh dreschen, es sollen darum uur zwei wesentliche
Punkte besprochen werden, von denen namentlich der zweite nirgends Erwäh¬
nung gefunden hat. Es wurde mehrfach betont, daß der Altreichskanzler nicht
beabsichtigt haben könne, der diplomatischen Stellung Deutschlands einen Nach¬
teil zuzufügen. Davon konnte schon darum nicht die Rede sein, weil Fürst
Bismarck mit jener Indiskretion unmittelbar nichts zu thun hatte und nichts zu
thun haben konnte. Er hat niemals den Versuch gemacht, von Friedrichsruh
aus gewissermaßen eine "Nebenregiernng" zu führen. Dergleichen war durch
seine Vergangenheit gänzlich ausgeschlossen, obgleich sich viele Leute jahrelang
bemüht haben, verschiedne Vorgänge in diesem Sinne zurecht zu legen und
einzelne Aussprüche von ihm, deren Wortlaut übrigens kaum genau verbürgt
ist, in dieser Richtung zu deuten. Für Kundige hätten die Hamburger
Nachrichten nicht erst in neuerer Zeit mehrfach zu versichern brauchen, daß
Fürst Bismarck überhaupt niemals Artikel für sie verfaßt habe, das wußten
unterrichtete Leute längst. Es gehörte aber zu dem Preßgetreibe der letzten
Jahre, im deutschen Volke die Meinung zu erhalten, als befände sich der Alt¬
reichskanzler im offnen Gegensatz zur gegenwärtigen Reichspolitik und spräche
in diesem Sinne durch den oder jenen Mund zur Öffentlichkeit. Das hat er
thatsächlich niemals gethan, und alle dahin ausgelegten Aussprüche von ihm
lassen entweder auch eine andre Auffassung zu oder siud erst in diesem Sinne
verstanden und weiter gegeben worden, weil man sie so verstehen wollte.

Die maßgebenden Kreise in Berlin waren hierüber durchaus unterrichtet
und kümmerten sich wenig um dieses Treiben der Blätter. Man würde sich aber
einer Täuschung hingeben über den Ernst und die Macht dieser Kreise, wenn


Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

Dahinein fiel dann noch die Indiskretion der Hamburger Nachrichten
mit ihren Enthüllungen über den geheimen Neutralitütsvertrag zwischen Deutsch¬
land und Rußland bis 1890, die sofort wieder den erbittertsten Kampf der
Parteien für oder wider Bismarck entfesselte. Man verbiß sich in die heftigsten
Streitereien über eine politische Lage, die seit länger als sechs Jahren nicht
mehr bestand, es wurde gänzlich unbeachtet gelassen, daß ein Zusammenschluß
der „gesamten Völker des europäischen Weltteils" den besondern Neutralitüts¬
vertrag mit Nußland gegenstandslos machte, und der Umstand, daß der Be¬
ginn der Wendung in die Zeit der Neichskanzlerschaft des Grafen Caprivi fiel,
genügte auf Monate, um die Preßkämpfer der erhitzten Parteien vollauf zu
beschäftigen. Man sah nicht oder wollte nicht sehen, daß die neue Gruppi-
rung der Mächte schon so weit gediehen war, daß auch eine vorläufige
offizielle Kundgebung darüber angängig erscheinen konnte. Vefürchtnngen
wegen der Folgen des begeisterten Zarenempfangs in Frankreich waren unter
diesen Umstünden gar nicht nötig, und die Indiskretion des Hamburger Blattes
erwies sich als doppelt überflüssig.

Hier nochmals auf die damaligen Erörterungen in den Zeitungen einzu¬
gehen, hieße leeres Stroh dreschen, es sollen darum uur zwei wesentliche
Punkte besprochen werden, von denen namentlich der zweite nirgends Erwäh¬
nung gefunden hat. Es wurde mehrfach betont, daß der Altreichskanzler nicht
beabsichtigt haben könne, der diplomatischen Stellung Deutschlands einen Nach¬
teil zuzufügen. Davon konnte schon darum nicht die Rede sein, weil Fürst
Bismarck mit jener Indiskretion unmittelbar nichts zu thun hatte und nichts zu
thun haben konnte. Er hat niemals den Versuch gemacht, von Friedrichsruh
aus gewissermaßen eine „Nebenregiernng" zu führen. Dergleichen war durch
seine Vergangenheit gänzlich ausgeschlossen, obgleich sich viele Leute jahrelang
bemüht haben, verschiedne Vorgänge in diesem Sinne zurecht zu legen und
einzelne Aussprüche von ihm, deren Wortlaut übrigens kaum genau verbürgt
ist, in dieser Richtung zu deuten. Für Kundige hätten die Hamburger
Nachrichten nicht erst in neuerer Zeit mehrfach zu versichern brauchen, daß
Fürst Bismarck überhaupt niemals Artikel für sie verfaßt habe, das wußten
unterrichtete Leute längst. Es gehörte aber zu dem Preßgetreibe der letzten
Jahre, im deutschen Volke die Meinung zu erhalten, als befände sich der Alt¬
reichskanzler im offnen Gegensatz zur gegenwärtigen Reichspolitik und spräche
in diesem Sinne durch den oder jenen Mund zur Öffentlichkeit. Das hat er
thatsächlich niemals gethan, und alle dahin ausgelegten Aussprüche von ihm
lassen entweder auch eine andre Auffassung zu oder siud erst in diesem Sinne
verstanden und weiter gegeben worden, weil man sie so verstehen wollte.

Die maßgebenden Kreise in Berlin waren hierüber durchaus unterrichtet
und kümmerten sich wenig um dieses Treiben der Blätter. Man würde sich aber
einer Täuschung hingeben über den Ernst und die Macht dieser Kreise, wenn


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[0588] Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte Dahinein fiel dann noch die Indiskretion der Hamburger Nachrichten mit ihren Enthüllungen über den geheimen Neutralitütsvertrag zwischen Deutsch¬ land und Rußland bis 1890, die sofort wieder den erbittertsten Kampf der Parteien für oder wider Bismarck entfesselte. Man verbiß sich in die heftigsten Streitereien über eine politische Lage, die seit länger als sechs Jahren nicht mehr bestand, es wurde gänzlich unbeachtet gelassen, daß ein Zusammenschluß der „gesamten Völker des europäischen Weltteils" den besondern Neutralitüts¬ vertrag mit Nußland gegenstandslos machte, und der Umstand, daß der Be¬ ginn der Wendung in die Zeit der Neichskanzlerschaft des Grafen Caprivi fiel, genügte auf Monate, um die Preßkämpfer der erhitzten Parteien vollauf zu beschäftigen. Man sah nicht oder wollte nicht sehen, daß die neue Gruppi- rung der Mächte schon so weit gediehen war, daß auch eine vorläufige offizielle Kundgebung darüber angängig erscheinen konnte. Vefürchtnngen wegen der Folgen des begeisterten Zarenempfangs in Frankreich waren unter diesen Umstünden gar nicht nötig, und die Indiskretion des Hamburger Blattes erwies sich als doppelt überflüssig. Hier nochmals auf die damaligen Erörterungen in den Zeitungen einzu¬ gehen, hieße leeres Stroh dreschen, es sollen darum uur zwei wesentliche Punkte besprochen werden, von denen namentlich der zweite nirgends Erwäh¬ nung gefunden hat. Es wurde mehrfach betont, daß der Altreichskanzler nicht beabsichtigt haben könne, der diplomatischen Stellung Deutschlands einen Nach¬ teil zuzufügen. Davon konnte schon darum nicht die Rede sein, weil Fürst Bismarck mit jener Indiskretion unmittelbar nichts zu thun hatte und nichts zu thun haben konnte. Er hat niemals den Versuch gemacht, von Friedrichsruh aus gewissermaßen eine „Nebenregiernng" zu führen. Dergleichen war durch seine Vergangenheit gänzlich ausgeschlossen, obgleich sich viele Leute jahrelang bemüht haben, verschiedne Vorgänge in diesem Sinne zurecht zu legen und einzelne Aussprüche von ihm, deren Wortlaut übrigens kaum genau verbürgt ist, in dieser Richtung zu deuten. Für Kundige hätten die Hamburger Nachrichten nicht erst in neuerer Zeit mehrfach zu versichern brauchen, daß Fürst Bismarck überhaupt niemals Artikel für sie verfaßt habe, das wußten unterrichtete Leute längst. Es gehörte aber zu dem Preßgetreibe der letzten Jahre, im deutschen Volke die Meinung zu erhalten, als befände sich der Alt¬ reichskanzler im offnen Gegensatz zur gegenwärtigen Reichspolitik und spräche in diesem Sinne durch den oder jenen Mund zur Öffentlichkeit. Das hat er thatsächlich niemals gethan, und alle dahin ausgelegten Aussprüche von ihm lassen entweder auch eine andre Auffassung zu oder siud erst in diesem Sinne verstanden und weiter gegeben worden, weil man sie so verstehen wollte. Die maßgebenden Kreise in Berlin waren hierüber durchaus unterrichtet und kümmerten sich wenig um dieses Treiben der Blätter. Man würde sich aber einer Täuschung hingeben über den Ernst und die Macht dieser Kreise, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/588>, abgerufen am 24.07.2024.