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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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so müßte diese Apotheose des überlieferten Reichtums, um mehr zu sein als
der alte und unzureichende Trost alles künstlerischen Eklektizismus, von der
Faustischen Weisheit durchtränkt sein:


Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen!

Es ist ein Gesetz, das mit einiger Einschränkung selbst für den Gelehrten,
aber im strengsten, unbeschränktesten Sinne für den Dichter und Künstler
gilt, daß er von den Schätzen der Überlieferung nichts eher fein eigen nennen
darf, als bis es Bestandteil seines Selbst geworden und unlösbar mit seiner
ursprünglichen Anlage und Entwicklung verbunden ist. Weg und Weise dieser
Wandlung bleiben bis zu einem gewissen Grade ein Geheimnis, und alle
Abhandlungen über das Verhältnis Shakespeares zu Montaigne und Giordano
Bruno können nicht völlig deutlich machen, wo die angeeignete Philosophie
mit Hamlets Gestalt, noch wo das Seelenleben der Gestalt mit des Dichters
eigensten Seelenleben verschmolzen ist. Aber daß sie verschmolzen sind, daß
alles, was aus dem Munde des Dänenprinzen erklingt, Shakespeare gehört,
können höchstens einzelne Banausen in Frage stellen.

Das Verhältnis des einzelnen Dichters, seiner innersten poetischen Wurzeln
und Triebe zu den aufgepfropften Bildungsreisern kann schwer erkennbar sein;
wie lange hat man gebraucht, ehe man z. B. bei Grillparzer die persönlichen
Besonderheiten, die eigentümliche Weise entdeckte, durch die ihm geschichtliche
Erkenntnisse und psychologische Erfahrungen in das eigne Fleisch und Blut
übergingen. Aber bei dem besten Willen, solche verborgne Kanäle und Ver¬
bindungen zu entdecken, stehen wir den Dichtungen Schocks mit der Erkenntnis
gegenüber, daß er in seinem Bildungsgange und seiner leidenschaftlichen Lust
an der poetischen Hervorbringung, diese wichtigste Seite der Entwicklung eines
wahren Dichters immer gering geachtet hat. Freilich beschäftigt sich keiner
sein ganzes Leben hindurch mit Poesie, ohne hie und da einen ganz indivi¬
duellen Zug auszuweisen und von dem glücklichen Augenblick einmal über sich
selbst hinausgehoben zu werden. Aber im großen und ganzen hat Schock in
den sieben Sammlungen seiner lyrischen Gedichte, den drei Sammlungen poe¬
tischer Erzählungen, in seinen vier epischen Gedichten ("Die Plejaden," "Lothar,"
die Romane in Versen "Durch alle Wetter" und "Ebenbürtig"), den vier
Mythen und Mysterien ("Memnon," "Sirius," "Nächte des Orients," "Welt¬
morgen"), in acht Tragödien und dramatischen Gedichten, denen sich noch zwei
Bände Lustspiele" und "Politische Lustspiele" gesellen, viel zu sehr auf die
Kraft der großen Anlage, auf die äußere Verwandtschaft seiner Kompositionen
mit hervorragenden Werken der Weltlitteratur, auf das Gleichmaß des Vor-
trages vertraut und die Macht der Natur und des Einklangs mit ihren
tausendfältigen Lebensäußerungen zu gering geschätzt. Seine Dichtungen er-


so müßte diese Apotheose des überlieferten Reichtums, um mehr zu sein als
der alte und unzureichende Trost alles künstlerischen Eklektizismus, von der
Faustischen Weisheit durchtränkt sein:


Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen!

Es ist ein Gesetz, das mit einiger Einschränkung selbst für den Gelehrten,
aber im strengsten, unbeschränktesten Sinne für den Dichter und Künstler
gilt, daß er von den Schätzen der Überlieferung nichts eher fein eigen nennen
darf, als bis es Bestandteil seines Selbst geworden und unlösbar mit seiner
ursprünglichen Anlage und Entwicklung verbunden ist. Weg und Weise dieser
Wandlung bleiben bis zu einem gewissen Grade ein Geheimnis, und alle
Abhandlungen über das Verhältnis Shakespeares zu Montaigne und Giordano
Bruno können nicht völlig deutlich machen, wo die angeeignete Philosophie
mit Hamlets Gestalt, noch wo das Seelenleben der Gestalt mit des Dichters
eigensten Seelenleben verschmolzen ist. Aber daß sie verschmolzen sind, daß
alles, was aus dem Munde des Dänenprinzen erklingt, Shakespeare gehört,
können höchstens einzelne Banausen in Frage stellen.

Das Verhältnis des einzelnen Dichters, seiner innersten poetischen Wurzeln
und Triebe zu den aufgepfropften Bildungsreisern kann schwer erkennbar sein;
wie lange hat man gebraucht, ehe man z. B. bei Grillparzer die persönlichen
Besonderheiten, die eigentümliche Weise entdeckte, durch die ihm geschichtliche
Erkenntnisse und psychologische Erfahrungen in das eigne Fleisch und Blut
übergingen. Aber bei dem besten Willen, solche verborgne Kanäle und Ver¬
bindungen zu entdecken, stehen wir den Dichtungen Schocks mit der Erkenntnis
gegenüber, daß er in seinem Bildungsgange und seiner leidenschaftlichen Lust
an der poetischen Hervorbringung, diese wichtigste Seite der Entwicklung eines
wahren Dichters immer gering geachtet hat. Freilich beschäftigt sich keiner
sein ganzes Leben hindurch mit Poesie, ohne hie und da einen ganz indivi¬
duellen Zug auszuweisen und von dem glücklichen Augenblick einmal über sich
selbst hinausgehoben zu werden. Aber im großen und ganzen hat Schock in
den sieben Sammlungen seiner lyrischen Gedichte, den drei Sammlungen poe¬
tischer Erzählungen, in seinen vier epischen Gedichten („Die Plejaden," „Lothar,"
die Romane in Versen „Durch alle Wetter" und „Ebenbürtig"), den vier
Mythen und Mysterien („Memnon," „Sirius," „Nächte des Orients," „Welt¬
morgen"), in acht Tragödien und dramatischen Gedichten, denen sich noch zwei
Bände Lustspiele" und „Politische Lustspiele" gesellen, viel zu sehr auf die
Kraft der großen Anlage, auf die äußere Verwandtschaft seiner Kompositionen
mit hervorragenden Werken der Weltlitteratur, auf das Gleichmaß des Vor-
trages vertraut und die Macht der Natur und des Einklangs mit ihren
tausendfältigen Lebensäußerungen zu gering geschätzt. Seine Dichtungen er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/564>, abgerufen am 24.07.2024.