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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

sich trägt, während Gotthelf bei all seinem Stvffreichtnm und der Kraft seiner
Charakteristik doch den Eindruck der Schwere nicht beseitigen kann, die auf die
Länge sein Werk völlig zu Boden ziehen wird. Schon jetzt muß man Gott¬
helf oder doch sehr vieles von ihm studiren, .während man Keller genießt --
wenn man nicht eben einer von denen ist, die dem künstlerisch gewordnen in
Spionenweise nachspüren und froh sind, die Organismen wieder auflösen zu
können. Kellers Werke sind es denn vor allem auch gewesen, die die Gotthelfs
bei den Gebildeten in den Hintergrund gedrängt haben -- unzweifelhaft zu
früh, aber doch sehr natürlich, denn der Künstler schlägt zuletzt immer den
Nichtkünstler.

Das ist nun überhaupt die Schwäche des Naturalismus: er muß seiner
Natur nach zu viel Detail aufnehmen, um auf die Dauer in der Gesamtheit
wirken zu können. Das weiß er auch, und da er darauf verzichten muß, die
völlige künstlerische Einfachheit zu erreichen, so erstrebt er eine gewisse äußere
Einheit durch die Tendenz, sei es auch nur die sich verratende Weltanschauung
des Dichters, an. Der Naturalismus ist also eine Kunst für die Zeit, und
als solche kann er gewaltige Bedeutung haben; er kann freilich auch, und zwar
als Schöpfer von äoeumönts numains für den Geschichtschreiber, eine bestimmte
dauernde Bedeutung beanspruchen -- die frische künstlerische Wirkung hört
aber nach einigen Jahren oder Jahrzehnten auf, und da jeder große Dichter
diese erstrebt, wird er sicher über den Naturalismus hinausstreben und auch
über ihn hinausgelangen. Aber für die mittlern echten Talente ist der Naturalis¬
mus, der ja nicht Schmutznaturalismus zu sein braucht, vielleicht die an¬
gemessenste Kunstrichtung; für sie ist es besser, wenn sie fest im Boden der
Heimat wurzeln und gut beobachtetes Material der Wirklichkeit entnehmen,
als wenn sie rein formell die größern Talente nachahmen und konventionelle
Poesie liefern. Und ob sich die Anhänger des Alten, die gewöhnlich Naturalis¬
mus und Decadeneelittercitur unterschiedslos zusammenwerfen, auf den Kopf
stellen, das Lebensrecht des Naturalismus auch für die deutsche Litteratur ist
seit Jeremias Gotthelfs Auftreten vollständig erwiesen und kann nicht weg¬
geleugnet werden.

Gotthelf war nun freilich nichts weniger als ein mittleres Talent, sondern
hatte eine geniale schriftstellerische Begabung, war vor allem eine bedeutende
Persönlichkeit, ein Willensmcnsch, ein Mann der That, und das verleiht ihm eine
Ausnahmestellung. Das haben seine ältern Beurteiler, selbst Keller, übersehen
und ihn schulmeistern wollen; er konnte aber nicht anders sein, wie er war,
und kann man ihn auch nicht in die Reihe unsrer ersten Dichter stellen, so gehört
er doch unter die Schriftsteller, die gewaltig aufs Volk wirken, unter die sozialen
Schriftsteller -- da hat er in der deutschen Litteratur kaum seinesgleichen und
ist noch heute von der größten Bedeutung. Soll ich seine Stellung in der
Weltlitteratur bezeichnen -- und er nimmt eine solche ein, obwohl er schwerlich


Jeremias Gotthelf

sich trägt, während Gotthelf bei all seinem Stvffreichtnm und der Kraft seiner
Charakteristik doch den Eindruck der Schwere nicht beseitigen kann, die auf die
Länge sein Werk völlig zu Boden ziehen wird. Schon jetzt muß man Gott¬
helf oder doch sehr vieles von ihm studiren, .während man Keller genießt —
wenn man nicht eben einer von denen ist, die dem künstlerisch gewordnen in
Spionenweise nachspüren und froh sind, die Organismen wieder auflösen zu
können. Kellers Werke sind es denn vor allem auch gewesen, die die Gotthelfs
bei den Gebildeten in den Hintergrund gedrängt haben — unzweifelhaft zu
früh, aber doch sehr natürlich, denn der Künstler schlägt zuletzt immer den
Nichtkünstler.

Das ist nun überhaupt die Schwäche des Naturalismus: er muß seiner
Natur nach zu viel Detail aufnehmen, um auf die Dauer in der Gesamtheit
wirken zu können. Das weiß er auch, und da er darauf verzichten muß, die
völlige künstlerische Einfachheit zu erreichen, so erstrebt er eine gewisse äußere
Einheit durch die Tendenz, sei es auch nur die sich verratende Weltanschauung
des Dichters, an. Der Naturalismus ist also eine Kunst für die Zeit, und
als solche kann er gewaltige Bedeutung haben; er kann freilich auch, und zwar
als Schöpfer von äoeumönts numains für den Geschichtschreiber, eine bestimmte
dauernde Bedeutung beanspruchen — die frische künstlerische Wirkung hört
aber nach einigen Jahren oder Jahrzehnten auf, und da jeder große Dichter
diese erstrebt, wird er sicher über den Naturalismus hinausstreben und auch
über ihn hinausgelangen. Aber für die mittlern echten Talente ist der Naturalis¬
mus, der ja nicht Schmutznaturalismus zu sein braucht, vielleicht die an¬
gemessenste Kunstrichtung; für sie ist es besser, wenn sie fest im Boden der
Heimat wurzeln und gut beobachtetes Material der Wirklichkeit entnehmen,
als wenn sie rein formell die größern Talente nachahmen und konventionelle
Poesie liefern. Und ob sich die Anhänger des Alten, die gewöhnlich Naturalis¬
mus und Decadeneelittercitur unterschiedslos zusammenwerfen, auf den Kopf
stellen, das Lebensrecht des Naturalismus auch für die deutsche Litteratur ist
seit Jeremias Gotthelfs Auftreten vollständig erwiesen und kann nicht weg¬
geleugnet werden.

Gotthelf war nun freilich nichts weniger als ein mittleres Talent, sondern
hatte eine geniale schriftstellerische Begabung, war vor allem eine bedeutende
Persönlichkeit, ein Willensmcnsch, ein Mann der That, und das verleiht ihm eine
Ausnahmestellung. Das haben seine ältern Beurteiler, selbst Keller, übersehen
und ihn schulmeistern wollen; er konnte aber nicht anders sein, wie er war,
und kann man ihn auch nicht in die Reihe unsrer ersten Dichter stellen, so gehört
er doch unter die Schriftsteller, die gewaltig aufs Volk wirken, unter die sozialen
Schriftsteller — da hat er in der deutschen Litteratur kaum seinesgleichen und
ist noch heute von der größten Bedeutung. Soll ich seine Stellung in der
Weltlitteratur bezeichnen — und er nimmt eine solche ein, obwohl er schwerlich


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[0516] Jeremias Gotthelf sich trägt, während Gotthelf bei all seinem Stvffreichtnm und der Kraft seiner Charakteristik doch den Eindruck der Schwere nicht beseitigen kann, die auf die Länge sein Werk völlig zu Boden ziehen wird. Schon jetzt muß man Gott¬ helf oder doch sehr vieles von ihm studiren, .während man Keller genießt — wenn man nicht eben einer von denen ist, die dem künstlerisch gewordnen in Spionenweise nachspüren und froh sind, die Organismen wieder auflösen zu können. Kellers Werke sind es denn vor allem auch gewesen, die die Gotthelfs bei den Gebildeten in den Hintergrund gedrängt haben — unzweifelhaft zu früh, aber doch sehr natürlich, denn der Künstler schlägt zuletzt immer den Nichtkünstler. Das ist nun überhaupt die Schwäche des Naturalismus: er muß seiner Natur nach zu viel Detail aufnehmen, um auf die Dauer in der Gesamtheit wirken zu können. Das weiß er auch, und da er darauf verzichten muß, die völlige künstlerische Einfachheit zu erreichen, so erstrebt er eine gewisse äußere Einheit durch die Tendenz, sei es auch nur die sich verratende Weltanschauung des Dichters, an. Der Naturalismus ist also eine Kunst für die Zeit, und als solche kann er gewaltige Bedeutung haben; er kann freilich auch, und zwar als Schöpfer von äoeumönts numains für den Geschichtschreiber, eine bestimmte dauernde Bedeutung beanspruchen — die frische künstlerische Wirkung hört aber nach einigen Jahren oder Jahrzehnten auf, und da jeder große Dichter diese erstrebt, wird er sicher über den Naturalismus hinausstreben und auch über ihn hinausgelangen. Aber für die mittlern echten Talente ist der Naturalis¬ mus, der ja nicht Schmutznaturalismus zu sein braucht, vielleicht die an¬ gemessenste Kunstrichtung; für sie ist es besser, wenn sie fest im Boden der Heimat wurzeln und gut beobachtetes Material der Wirklichkeit entnehmen, als wenn sie rein formell die größern Talente nachahmen und konventionelle Poesie liefern. Und ob sich die Anhänger des Alten, die gewöhnlich Naturalis¬ mus und Decadeneelittercitur unterschiedslos zusammenwerfen, auf den Kopf stellen, das Lebensrecht des Naturalismus auch für die deutsche Litteratur ist seit Jeremias Gotthelfs Auftreten vollständig erwiesen und kann nicht weg¬ geleugnet werden. Gotthelf war nun freilich nichts weniger als ein mittleres Talent, sondern hatte eine geniale schriftstellerische Begabung, war vor allem eine bedeutende Persönlichkeit, ein Willensmcnsch, ein Mann der That, und das verleiht ihm eine Ausnahmestellung. Das haben seine ältern Beurteiler, selbst Keller, übersehen und ihn schulmeistern wollen; er konnte aber nicht anders sein, wie er war, und kann man ihn auch nicht in die Reihe unsrer ersten Dichter stellen, so gehört er doch unter die Schriftsteller, die gewaltig aufs Volk wirken, unter die sozialen Schriftsteller — da hat er in der deutschen Litteratur kaum seinesgleichen und ist noch heute von der größten Bedeutung. Soll ich seine Stellung in der Weltlitteratur bezeichnen — und er nimmt eine solche ein, obwohl er schwerlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/516>, abgerufen am 02.07.2024.