Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Jeremias Gotthelf

übersetzt, ja auch nur übersetzbar ist --, so möchte ich außer an Rousseau und
Carlyle doch auch an Balzac erinnern, den der Naturalismus bisher allein
als seinen "Vater" bezeichnete. Wie dieser Franzose versucht hat, das gesamte
Leben seines Volkes in einer Nomanfolge darzustellen, so hat auch Bitzius
stets die Allseitigkeit des Berner Bauernlebens im Auge gehabt und, freilich
ohne Programm, auch ein einigermaßen vollständiges Bild erreicht. Nun
scheint freilich das Lebenswerk, das es mit einer ganzen großen Nation, mit
dem, das es nur mit einem verschwindenden Bruchteil eines Volkes zu thun
hat, nicht verglichen werden zu können; man muß aber in Betracht ziehen,
daß Frankreich stets viel zentralisirter war als Deutschland, daß dort die
gleichförmige städtische Bildung herrschte, während in der ersten Hälfte unsers
Jahrhunderts noch jeder Winkel deutschen Landes sein ureignes Leben hatte.
Sowohl der Großstädter Balzac wie der Bauer Gotthelf ist ein typischer
Vertreter seines Volkes. Zwar ist es richtig, daß Balzac mehr mit der Litteratur
seines Volkes zusammenhängt, Schriftsteller von Beruf ist, aber wenn man
sich erinnert, daß auch er während seines ganzen Lebens nicht zu einem gleich¬
mäßigen Stil gelangte, daß er ferner außer seinen litterarischen stets alle
möglichen großartigen industriellen Pläne im Kopfe hatte, überhaupt von Haus
aus ein Thatmensch war, wie er dies auch durch seine unermüdliche, ja gehetzte
Produktion bewies, so häufen sich die Berührungspunkte zwischen dem Franzosen
und dem Schweizer. Die soziale und sittliche Tendenz Gotthclfs hatte Balzac nicht
unmittelbar, wohl aber eine bestimmte soziologische und psychologische, er wollte
die Rätsel der Sphinx Gesellschaft lösen und stellte zu dem Zweck, freilich
aus andern Gründen, ebenso rücksichtslos dar wie Bitzins. Wollte man ins
Einzelne gehen, so könnte man selbst Gestalten der beiden Dichter miteinander
vergleichen; so würden sich gewiß bei Balzac ein Dorngrütbauer und ein Harzer
Hans finden. Ich will noch bemerken, daß Balzac zwei Jahre jünger war
als Bitzius, viel früher zu veröffentlichen begann, aber in seinen Hauptwerken
mit dem Schweizer so ziemlich gleichen Schritt hält. Dem Namen nach hat
Gotthelf übrigens Balzac gekannt, vielleicht selbst das eine oder das andre
von ihm gelesen. Nur ihr Dichterschicksal ist sehr verschieden gewesen; während
Gotthelf allmählich vergessen worden ist, hat Balzac stets seinen Ruf behalten
und ist von den französischen Naturalisten viel gefeiert, daher auch in Deutsch¬
land noch vor nicht langer Zeit viel gelesen worden.

Mit deutschen Dichtern früherer oder späterer Zeit außer Keller kann
man Gotthelf kaum vergleichen; wie die Vergleichung mit Auerbach, ist auch
die mit Fritz Reuter rundweg abzulehnen, selbst unsre neuern Dorfdramatiker
und -Novellisten wie Anzengruber und Nosegger haben mit dem alten Schweizer
wenig gemein, um meisten noch Anzengruber. Der litterarische Gegenfüßler
Gotthclfs war Gutzkow, der, wenn auch durchaus in der Gotthelf entgegen¬
gesetzten Richtung thätig, sich doch in manchem mit ihm berührt: auch bei


Jeremias Gotthelf

übersetzt, ja auch nur übersetzbar ist —, so möchte ich außer an Rousseau und
Carlyle doch auch an Balzac erinnern, den der Naturalismus bisher allein
als seinen „Vater" bezeichnete. Wie dieser Franzose versucht hat, das gesamte
Leben seines Volkes in einer Nomanfolge darzustellen, so hat auch Bitzius
stets die Allseitigkeit des Berner Bauernlebens im Auge gehabt und, freilich
ohne Programm, auch ein einigermaßen vollständiges Bild erreicht. Nun
scheint freilich das Lebenswerk, das es mit einer ganzen großen Nation, mit
dem, das es nur mit einem verschwindenden Bruchteil eines Volkes zu thun
hat, nicht verglichen werden zu können; man muß aber in Betracht ziehen,
daß Frankreich stets viel zentralisirter war als Deutschland, daß dort die
gleichförmige städtische Bildung herrschte, während in der ersten Hälfte unsers
Jahrhunderts noch jeder Winkel deutschen Landes sein ureignes Leben hatte.
Sowohl der Großstädter Balzac wie der Bauer Gotthelf ist ein typischer
Vertreter seines Volkes. Zwar ist es richtig, daß Balzac mehr mit der Litteratur
seines Volkes zusammenhängt, Schriftsteller von Beruf ist, aber wenn man
sich erinnert, daß auch er während seines ganzen Lebens nicht zu einem gleich¬
mäßigen Stil gelangte, daß er ferner außer seinen litterarischen stets alle
möglichen großartigen industriellen Pläne im Kopfe hatte, überhaupt von Haus
aus ein Thatmensch war, wie er dies auch durch seine unermüdliche, ja gehetzte
Produktion bewies, so häufen sich die Berührungspunkte zwischen dem Franzosen
und dem Schweizer. Die soziale und sittliche Tendenz Gotthclfs hatte Balzac nicht
unmittelbar, wohl aber eine bestimmte soziologische und psychologische, er wollte
die Rätsel der Sphinx Gesellschaft lösen und stellte zu dem Zweck, freilich
aus andern Gründen, ebenso rücksichtslos dar wie Bitzins. Wollte man ins
Einzelne gehen, so könnte man selbst Gestalten der beiden Dichter miteinander
vergleichen; so würden sich gewiß bei Balzac ein Dorngrütbauer und ein Harzer
Hans finden. Ich will noch bemerken, daß Balzac zwei Jahre jünger war
als Bitzius, viel früher zu veröffentlichen begann, aber in seinen Hauptwerken
mit dem Schweizer so ziemlich gleichen Schritt hält. Dem Namen nach hat
Gotthelf übrigens Balzac gekannt, vielleicht selbst das eine oder das andre
von ihm gelesen. Nur ihr Dichterschicksal ist sehr verschieden gewesen; während
Gotthelf allmählich vergessen worden ist, hat Balzac stets seinen Ruf behalten
und ist von den französischen Naturalisten viel gefeiert, daher auch in Deutsch¬
land noch vor nicht langer Zeit viel gelesen worden.

Mit deutschen Dichtern früherer oder späterer Zeit außer Keller kann
man Gotthelf kaum vergleichen; wie die Vergleichung mit Auerbach, ist auch
die mit Fritz Reuter rundweg abzulehnen, selbst unsre neuern Dorfdramatiker
und -Novellisten wie Anzengruber und Nosegger haben mit dem alten Schweizer
wenig gemein, um meisten noch Anzengruber. Der litterarische Gegenfüßler
Gotthclfs war Gutzkow, der, wenn auch durchaus in der Gotthelf entgegen¬
gesetzten Richtung thätig, sich doch in manchem mit ihm berührt: auch bei


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0517" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226103"/>
          <fw type="header" place="top"> Jeremias Gotthelf</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1291" prev="#ID_1290"> übersetzt, ja auch nur übersetzbar ist &#x2014;, so möchte ich außer an Rousseau und<lb/>
Carlyle doch auch an Balzac erinnern, den der Naturalismus bisher allein<lb/>
als seinen &#x201E;Vater" bezeichnete. Wie dieser Franzose versucht hat, das gesamte<lb/>
Leben seines Volkes in einer Nomanfolge darzustellen, so hat auch Bitzius<lb/>
stets die Allseitigkeit des Berner Bauernlebens im Auge gehabt und, freilich<lb/>
ohne Programm, auch ein einigermaßen vollständiges Bild erreicht. Nun<lb/>
scheint freilich das Lebenswerk, das es mit einer ganzen großen Nation, mit<lb/>
dem, das es nur mit einem verschwindenden Bruchteil eines Volkes zu thun<lb/>
hat, nicht verglichen werden zu können; man muß aber in Betracht ziehen,<lb/>
daß Frankreich stets viel zentralisirter war als Deutschland, daß dort die<lb/>
gleichförmige städtische Bildung herrschte, während in der ersten Hälfte unsers<lb/>
Jahrhunderts noch jeder Winkel deutschen Landes sein ureignes Leben hatte.<lb/>
Sowohl der Großstädter Balzac wie der Bauer Gotthelf ist ein typischer<lb/>
Vertreter seines Volkes. Zwar ist es richtig, daß Balzac mehr mit der Litteratur<lb/>
seines Volkes zusammenhängt, Schriftsteller von Beruf ist, aber wenn man<lb/>
sich erinnert, daß auch er während seines ganzen Lebens nicht zu einem gleich¬<lb/>
mäßigen Stil gelangte, daß er ferner außer seinen litterarischen stets alle<lb/>
möglichen großartigen industriellen Pläne im Kopfe hatte, überhaupt von Haus<lb/>
aus ein Thatmensch war, wie er dies auch durch seine unermüdliche, ja gehetzte<lb/>
Produktion bewies, so häufen sich die Berührungspunkte zwischen dem Franzosen<lb/>
und dem Schweizer. Die soziale und sittliche Tendenz Gotthclfs hatte Balzac nicht<lb/>
unmittelbar, wohl aber eine bestimmte soziologische und psychologische, er wollte<lb/>
die Rätsel der Sphinx Gesellschaft lösen und stellte zu dem Zweck, freilich<lb/>
aus andern Gründen, ebenso rücksichtslos dar wie Bitzins. Wollte man ins<lb/>
Einzelne gehen, so könnte man selbst Gestalten der beiden Dichter miteinander<lb/>
vergleichen; so würden sich gewiß bei Balzac ein Dorngrütbauer und ein Harzer<lb/>
Hans finden. Ich will noch bemerken, daß Balzac zwei Jahre jünger war<lb/>
als Bitzius, viel früher zu veröffentlichen begann, aber in seinen Hauptwerken<lb/>
mit dem Schweizer so ziemlich gleichen Schritt hält. Dem Namen nach hat<lb/>
Gotthelf übrigens Balzac gekannt, vielleicht selbst das eine oder das andre<lb/>
von ihm gelesen. Nur ihr Dichterschicksal ist sehr verschieden gewesen; während<lb/>
Gotthelf allmählich vergessen worden ist, hat Balzac stets seinen Ruf behalten<lb/>
und ist von den französischen Naturalisten viel gefeiert, daher auch in Deutsch¬<lb/>
land noch vor nicht langer Zeit viel gelesen worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1292" next="#ID_1293"> Mit deutschen Dichtern früherer oder späterer Zeit außer Keller kann<lb/>
man Gotthelf kaum vergleichen; wie die Vergleichung mit Auerbach, ist auch<lb/>
die mit Fritz Reuter rundweg abzulehnen, selbst unsre neuern Dorfdramatiker<lb/>
und -Novellisten wie Anzengruber und Nosegger haben mit dem alten Schweizer<lb/>
wenig gemein, um meisten noch Anzengruber. Der litterarische Gegenfüßler<lb/>
Gotthclfs war Gutzkow, der, wenn auch durchaus in der Gotthelf entgegen¬<lb/>
gesetzten Richtung thätig, sich doch in manchem mit ihm berührt: auch bei</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0517] Jeremias Gotthelf übersetzt, ja auch nur übersetzbar ist —, so möchte ich außer an Rousseau und Carlyle doch auch an Balzac erinnern, den der Naturalismus bisher allein als seinen „Vater" bezeichnete. Wie dieser Franzose versucht hat, das gesamte Leben seines Volkes in einer Nomanfolge darzustellen, so hat auch Bitzius stets die Allseitigkeit des Berner Bauernlebens im Auge gehabt und, freilich ohne Programm, auch ein einigermaßen vollständiges Bild erreicht. Nun scheint freilich das Lebenswerk, das es mit einer ganzen großen Nation, mit dem, das es nur mit einem verschwindenden Bruchteil eines Volkes zu thun hat, nicht verglichen werden zu können; man muß aber in Betracht ziehen, daß Frankreich stets viel zentralisirter war als Deutschland, daß dort die gleichförmige städtische Bildung herrschte, während in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts noch jeder Winkel deutschen Landes sein ureignes Leben hatte. Sowohl der Großstädter Balzac wie der Bauer Gotthelf ist ein typischer Vertreter seines Volkes. Zwar ist es richtig, daß Balzac mehr mit der Litteratur seines Volkes zusammenhängt, Schriftsteller von Beruf ist, aber wenn man sich erinnert, daß auch er während seines ganzen Lebens nicht zu einem gleich¬ mäßigen Stil gelangte, daß er ferner außer seinen litterarischen stets alle möglichen großartigen industriellen Pläne im Kopfe hatte, überhaupt von Haus aus ein Thatmensch war, wie er dies auch durch seine unermüdliche, ja gehetzte Produktion bewies, so häufen sich die Berührungspunkte zwischen dem Franzosen und dem Schweizer. Die soziale und sittliche Tendenz Gotthclfs hatte Balzac nicht unmittelbar, wohl aber eine bestimmte soziologische und psychologische, er wollte die Rätsel der Sphinx Gesellschaft lösen und stellte zu dem Zweck, freilich aus andern Gründen, ebenso rücksichtslos dar wie Bitzins. Wollte man ins Einzelne gehen, so könnte man selbst Gestalten der beiden Dichter miteinander vergleichen; so würden sich gewiß bei Balzac ein Dorngrütbauer und ein Harzer Hans finden. Ich will noch bemerken, daß Balzac zwei Jahre jünger war als Bitzius, viel früher zu veröffentlichen begann, aber in seinen Hauptwerken mit dem Schweizer so ziemlich gleichen Schritt hält. Dem Namen nach hat Gotthelf übrigens Balzac gekannt, vielleicht selbst das eine oder das andre von ihm gelesen. Nur ihr Dichterschicksal ist sehr verschieden gewesen; während Gotthelf allmählich vergessen worden ist, hat Balzac stets seinen Ruf behalten und ist von den französischen Naturalisten viel gefeiert, daher auch in Deutsch¬ land noch vor nicht langer Zeit viel gelesen worden. Mit deutschen Dichtern früherer oder späterer Zeit außer Keller kann man Gotthelf kaum vergleichen; wie die Vergleichung mit Auerbach, ist auch die mit Fritz Reuter rundweg abzulehnen, selbst unsre neuern Dorfdramatiker und -Novellisten wie Anzengruber und Nosegger haben mit dem alten Schweizer wenig gemein, um meisten noch Anzengruber. Der litterarische Gegenfüßler Gotthclfs war Gutzkow, der, wenn auch durchaus in der Gotthelf entgegen¬ gesetzten Richtung thätig, sich doch in manchem mit ihm berührt: auch bei

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/517
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/517>, abgerufen am 29.12.2024.