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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

vergleichen, selbst wenn immer noch einige Leute glauben sollten, daß der
Versasser der schwäbischen Dorfgeschichten die Schönheit habe, der Schweizer
uur größere individuelle Wahrheit und Naturtreue. Aber wie wäre es, wenn
man Gotthelf mit Gottfried Keller vergliche, gerade mit Keller, seinem jüngern
Landsmann, der fast dieselben Stoffe behandelt?

In der That sind Gotthelf und Keller die dichterischen Typen, die heute
als die einzig möglichen erscheinen -- der Naturalist und der Realist, der
Poetische Realist, man könnte uoch weiter gehen und sagen, der Schrifstellcr
mit großem dichterischen Talent, der vor allem auf seine Zeit einwirken will,
und der wirkliche Dichter oder Künstler. Wenn Keller so vieles an Gotthelfs
Werken auszusetzen hatte, wenn er den künstlerischen Trieb und das Bedürfnis
der Vollendung/ein ihm schmerzlich vermißte, so legte er eben den Maßstab
seines Wesens an den Landsmann an, und umgekehrt, wenn Gotthelf alle
Ästhetik zu verschmähen erklärte, wenn er in der Vorrede zu "Zeitgeist und
Vcrnergeist" sagt, er setze hiermit gegen den Rat seiner Freunde ein Buch in
die Welt, das von Politik strotze, so folgte er damit auch wieder nur dem
Drange seiner Natur, die in rein ästhetischem Schaffen keine Befriedigung
gefunden hätte, auch wenn es ihr, was freilich ausgeschlossen ist, möglich
gewesen wäre.

Und um gehe ich noch weiter und teile die Dichter überhaupt in zwei
Klassen ein, von denen die erste an die Zeit und den Boden der Heimat und
damit an die Beobachtung (die allerdings auch Anschauungskraft voraussetzt)
gebunden ist, während die andre eine freischaffende, selbständig gestaltende
Phantasie hat und sich deshalb auch von dem Boden der Heimat, von der
Wirklichkeit, aus den Zeitschranken lösen kaun. Völlig wurzellos darf auch
die zweite nicht sein und uicht werden, das schließt schon die Natur, die
dichterische Begabung an und für sich aus. die die Grenzen der Menschennatur
durchaus innehält, aber sie kann unendlich viel freier gestalten, da sie den
Menschen gewissermaßen u priori kennt, nicht gerade die Menschen durch Einzel¬
beobachtung kennen zu lernen braucht. So scheint es, als ob in die erste
Klasse die wahren, selbständigen Talente, in die zweite die Genies gehörten,
aber ich möchte diese übermüßig oft angewandten Begriffe hier nicht brauchen,
auch kann ja in der ersten Klasse, wie eben bei Gotthelf, der bisweilen
auch seine Phantasie frei walten läßt, geniale Begabung vorhanden sein. Die
Anwendung dieser Einteilung ans die Litteraturgeschichte dürfte jedoch das
eine oder andre bemerkenswerte Ergebnis haben.

Ohne Zweifel. Gotthelf übertrifft Keller weit an Reichtum im Einzelnen,
auch an Kraft, aber der Künstler Keller weiß aus seinem beschränkter!,, doch
charakteristischem Detail sehr viel mehr zu machen, er erreicht jene glückliche
Durchdringung des Besondern und Allgemeinen, die die Bürgschaft der All-
gemeinverstäudlichkeit und Nllgemeingiltigkeit und damit auch der Dauer in


Jeremias Gotthelf

vergleichen, selbst wenn immer noch einige Leute glauben sollten, daß der
Versasser der schwäbischen Dorfgeschichten die Schönheit habe, der Schweizer
uur größere individuelle Wahrheit und Naturtreue. Aber wie wäre es, wenn
man Gotthelf mit Gottfried Keller vergliche, gerade mit Keller, seinem jüngern
Landsmann, der fast dieselben Stoffe behandelt?

In der That sind Gotthelf und Keller die dichterischen Typen, die heute
als die einzig möglichen erscheinen — der Naturalist und der Realist, der
Poetische Realist, man könnte uoch weiter gehen und sagen, der Schrifstellcr
mit großem dichterischen Talent, der vor allem auf seine Zeit einwirken will,
und der wirkliche Dichter oder Künstler. Wenn Keller so vieles an Gotthelfs
Werken auszusetzen hatte, wenn er den künstlerischen Trieb und das Bedürfnis
der Vollendung/ein ihm schmerzlich vermißte, so legte er eben den Maßstab
seines Wesens an den Landsmann an, und umgekehrt, wenn Gotthelf alle
Ästhetik zu verschmähen erklärte, wenn er in der Vorrede zu „Zeitgeist und
Vcrnergeist" sagt, er setze hiermit gegen den Rat seiner Freunde ein Buch in
die Welt, das von Politik strotze, so folgte er damit auch wieder nur dem
Drange seiner Natur, die in rein ästhetischem Schaffen keine Befriedigung
gefunden hätte, auch wenn es ihr, was freilich ausgeschlossen ist, möglich
gewesen wäre.

Und um gehe ich noch weiter und teile die Dichter überhaupt in zwei
Klassen ein, von denen die erste an die Zeit und den Boden der Heimat und
damit an die Beobachtung (die allerdings auch Anschauungskraft voraussetzt)
gebunden ist, während die andre eine freischaffende, selbständig gestaltende
Phantasie hat und sich deshalb auch von dem Boden der Heimat, von der
Wirklichkeit, aus den Zeitschranken lösen kaun. Völlig wurzellos darf auch
die zweite nicht sein und uicht werden, das schließt schon die Natur, die
dichterische Begabung an und für sich aus. die die Grenzen der Menschennatur
durchaus innehält, aber sie kann unendlich viel freier gestalten, da sie den
Menschen gewissermaßen u priori kennt, nicht gerade die Menschen durch Einzel¬
beobachtung kennen zu lernen braucht. So scheint es, als ob in die erste
Klasse die wahren, selbständigen Talente, in die zweite die Genies gehörten,
aber ich möchte diese übermüßig oft angewandten Begriffe hier nicht brauchen,
auch kann ja in der ersten Klasse, wie eben bei Gotthelf, der bisweilen
auch seine Phantasie frei walten läßt, geniale Begabung vorhanden sein. Die
Anwendung dieser Einteilung ans die Litteraturgeschichte dürfte jedoch das
eine oder andre bemerkenswerte Ergebnis haben.

Ohne Zweifel. Gotthelf übertrifft Keller weit an Reichtum im Einzelnen,
auch an Kraft, aber der Künstler Keller weiß aus seinem beschränkter!,, doch
charakteristischem Detail sehr viel mehr zu machen, er erreicht jene glückliche
Durchdringung des Besondern und Allgemeinen, die die Bürgschaft der All-
gemeinverstäudlichkeit und Nllgemeingiltigkeit und damit auch der Dauer in


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[0515] Jeremias Gotthelf vergleichen, selbst wenn immer noch einige Leute glauben sollten, daß der Versasser der schwäbischen Dorfgeschichten die Schönheit habe, der Schweizer uur größere individuelle Wahrheit und Naturtreue. Aber wie wäre es, wenn man Gotthelf mit Gottfried Keller vergliche, gerade mit Keller, seinem jüngern Landsmann, der fast dieselben Stoffe behandelt? In der That sind Gotthelf und Keller die dichterischen Typen, die heute als die einzig möglichen erscheinen — der Naturalist und der Realist, der Poetische Realist, man könnte uoch weiter gehen und sagen, der Schrifstellcr mit großem dichterischen Talent, der vor allem auf seine Zeit einwirken will, und der wirkliche Dichter oder Künstler. Wenn Keller so vieles an Gotthelfs Werken auszusetzen hatte, wenn er den künstlerischen Trieb und das Bedürfnis der Vollendung/ein ihm schmerzlich vermißte, so legte er eben den Maßstab seines Wesens an den Landsmann an, und umgekehrt, wenn Gotthelf alle Ästhetik zu verschmähen erklärte, wenn er in der Vorrede zu „Zeitgeist und Vcrnergeist" sagt, er setze hiermit gegen den Rat seiner Freunde ein Buch in die Welt, das von Politik strotze, so folgte er damit auch wieder nur dem Drange seiner Natur, die in rein ästhetischem Schaffen keine Befriedigung gefunden hätte, auch wenn es ihr, was freilich ausgeschlossen ist, möglich gewesen wäre. Und um gehe ich noch weiter und teile die Dichter überhaupt in zwei Klassen ein, von denen die erste an die Zeit und den Boden der Heimat und damit an die Beobachtung (die allerdings auch Anschauungskraft voraussetzt) gebunden ist, während die andre eine freischaffende, selbständig gestaltende Phantasie hat und sich deshalb auch von dem Boden der Heimat, von der Wirklichkeit, aus den Zeitschranken lösen kaun. Völlig wurzellos darf auch die zweite nicht sein und uicht werden, das schließt schon die Natur, die dichterische Begabung an und für sich aus. die die Grenzen der Menschennatur durchaus innehält, aber sie kann unendlich viel freier gestalten, da sie den Menschen gewissermaßen u priori kennt, nicht gerade die Menschen durch Einzel¬ beobachtung kennen zu lernen braucht. So scheint es, als ob in die erste Klasse die wahren, selbständigen Talente, in die zweite die Genies gehörten, aber ich möchte diese übermüßig oft angewandten Begriffe hier nicht brauchen, auch kann ja in der ersten Klasse, wie eben bei Gotthelf, der bisweilen auch seine Phantasie frei walten läßt, geniale Begabung vorhanden sein. Die Anwendung dieser Einteilung ans die Litteraturgeschichte dürfte jedoch das eine oder andre bemerkenswerte Ergebnis haben. Ohne Zweifel. Gotthelf übertrifft Keller weit an Reichtum im Einzelnen, auch an Kraft, aber der Künstler Keller weiß aus seinem beschränkter!,, doch charakteristischem Detail sehr viel mehr zu machen, er erreicht jene glückliche Durchdringung des Besondern und Allgemeinen, die die Bürgschaft der All- gemeinverstäudlichkeit und Nllgemeingiltigkeit und damit auch der Dauer in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/515>, abgerufen am 30.06.2024.