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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

selbst in die Augen springen und so mit diesen zusammen uns recht eigentlich
und lebendig predigen, was wir thun und lassen sollen, viel mehr als die
Fehler der gefeilten Mittelmäßigkeit oder des geschulten Unvermögens." Kurz,
wir haben in Gotthelf den Überwinder der rationalistischen, volkstümlich sein
wollenden Tendenzschriftstellerei früherer Zeiten, den ersten großen natürlichen
oder, wenn man will, poetischen Naturalisten der deutschen Litteratur.

Über Gotthelf ins Klare kommen heißt über den Naturalismus selbst ins
Klare kommen. Wir haben gesehn, daß sich bei ihm so ziemlich alles findet,
was man als besondre Eigentümlichkeit der modernen Naturalisten seit Zola
hervorhebt: die genaue Schilderung des "Milieu," der berufsmäßigen Thätigkeit,
die Unerschrockenheit dem Häßliche", ja Rosen und Ekelhaften gegenüber, die
Verachtung der künstlerischen Komposition, die soziale Tendenz. Auch sprachlich
verführt er naturalistisch, Keller wirft ihm vor, "ohne Grund ganze Perioden
in Bernerdeutsch zu schreiben, anstatt es bei den eigentümlichsten und kräftigsten
Provinzialismen bewenden zu lassen."^) Er war daher weit entfernt, das zu
thun, was man bis in die neueste Zeit vou ihm und von der Dichtung
überhaupt verlangte: "allfällige eingeschlichne Roheiten und Mißbräuche im
poetischen Spiegelbild abzuschaffen, da es sich einmal darum handelt, in der
gemeinen Wirklichkeit eine schönere Welt wiederherzustellen durch die Schrift,"
die Wirklichkeit war ihm eben nicht gemein im schlechten Sinne. Aber wunder¬
bar, während ihn Keller 1849 noch mit Auerbach vergleicht, "bei dem Herz
und Gemüt die erste Rolle spielen, und dessen Geschichten daher durch den
Konflikt, in welchen jene auch im Dorfe geraten, zu artigen Romanen, lieblichen
Dichtungen werden, in denen der Stoff veredelt ist, ohne unwahr zu werdeu,"
fällt schon 1855 dieser Vergleich vollständig weg, und Gotthelf ist "ohne alle
Ausnahme das größte epische Talent, das seit langer Zeit und vielleicht für
lange Zeit lebte; die tiefe und großartige Einfachheit Gotthelfs, welche in neuester
Gegenwart wahr ist und zugleich so ursprünglich, daß sie an das gebärende
und maßgebende Altertum der Poesie erinnert," erreicht da keiner mehr. Keller
war trotz seines Radikalismus doch nicht der Mann, auf künstlerischem Gebiete
das Gemachte über das Ursprüngliche zu stellen. Gegen die Vergleichung
Gotthelfs mit Auerbach legt auch Manuel Verwahrung ein, der sehr klar
erkannte, daß fast alle Geschichten Auerbachs auf den Effekt gearbeitet sind,
während Bitzius bei aller Derbheit die Konflikte, die in die Welt des Land-
manns hineinspielen, weit milder, die Leidenschaften (wenigstens bei normaler
Temperatur des Lebens, die der Dichter als Grundton festzuhalten hat) weniger
grell, die Gegensätze versöhnlicher darstellt. Das bedarf für uns keines
Beweises mehr. Mit Auerbach kann und wird heute Gotthelf niemand mehr



Die Berliner Gesamtausgabe ist sprachlich gereinigt und abgeschwächt, Ferdinand Vetter
ist in den Neclamschen Ausgaben zu den Originalen zurückgekehrt.
Jeremias Gotthelf

selbst in die Augen springen und so mit diesen zusammen uns recht eigentlich
und lebendig predigen, was wir thun und lassen sollen, viel mehr als die
Fehler der gefeilten Mittelmäßigkeit oder des geschulten Unvermögens." Kurz,
wir haben in Gotthelf den Überwinder der rationalistischen, volkstümlich sein
wollenden Tendenzschriftstellerei früherer Zeiten, den ersten großen natürlichen
oder, wenn man will, poetischen Naturalisten der deutschen Litteratur.

Über Gotthelf ins Klare kommen heißt über den Naturalismus selbst ins
Klare kommen. Wir haben gesehn, daß sich bei ihm so ziemlich alles findet,
was man als besondre Eigentümlichkeit der modernen Naturalisten seit Zola
hervorhebt: die genaue Schilderung des „Milieu," der berufsmäßigen Thätigkeit,
die Unerschrockenheit dem Häßliche», ja Rosen und Ekelhaften gegenüber, die
Verachtung der künstlerischen Komposition, die soziale Tendenz. Auch sprachlich
verführt er naturalistisch, Keller wirft ihm vor, „ohne Grund ganze Perioden
in Bernerdeutsch zu schreiben, anstatt es bei den eigentümlichsten und kräftigsten
Provinzialismen bewenden zu lassen."^) Er war daher weit entfernt, das zu
thun, was man bis in die neueste Zeit vou ihm und von der Dichtung
überhaupt verlangte: „allfällige eingeschlichne Roheiten und Mißbräuche im
poetischen Spiegelbild abzuschaffen, da es sich einmal darum handelt, in der
gemeinen Wirklichkeit eine schönere Welt wiederherzustellen durch die Schrift,"
die Wirklichkeit war ihm eben nicht gemein im schlechten Sinne. Aber wunder¬
bar, während ihn Keller 1849 noch mit Auerbach vergleicht, „bei dem Herz
und Gemüt die erste Rolle spielen, und dessen Geschichten daher durch den
Konflikt, in welchen jene auch im Dorfe geraten, zu artigen Romanen, lieblichen
Dichtungen werden, in denen der Stoff veredelt ist, ohne unwahr zu werdeu,"
fällt schon 1855 dieser Vergleich vollständig weg, und Gotthelf ist „ohne alle
Ausnahme das größte epische Talent, das seit langer Zeit und vielleicht für
lange Zeit lebte; die tiefe und großartige Einfachheit Gotthelfs, welche in neuester
Gegenwart wahr ist und zugleich so ursprünglich, daß sie an das gebärende
und maßgebende Altertum der Poesie erinnert," erreicht da keiner mehr. Keller
war trotz seines Radikalismus doch nicht der Mann, auf künstlerischem Gebiete
das Gemachte über das Ursprüngliche zu stellen. Gegen die Vergleichung
Gotthelfs mit Auerbach legt auch Manuel Verwahrung ein, der sehr klar
erkannte, daß fast alle Geschichten Auerbachs auf den Effekt gearbeitet sind,
während Bitzius bei aller Derbheit die Konflikte, die in die Welt des Land-
manns hineinspielen, weit milder, die Leidenschaften (wenigstens bei normaler
Temperatur des Lebens, die der Dichter als Grundton festzuhalten hat) weniger
grell, die Gegensätze versöhnlicher darstellt. Das bedarf für uns keines
Beweises mehr. Mit Auerbach kann und wird heute Gotthelf niemand mehr



Die Berliner Gesamtausgabe ist sprachlich gereinigt und abgeschwächt, Ferdinand Vetter
ist in den Neclamschen Ausgaben zu den Originalen zurückgekehrt.
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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/514>, abgerufen am 27.06.2024.