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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

gerichtete, aber doch von echt dichterischem und religiösem Geist durchwehte
Sterbegeschichte, und die größere biographische Erzählung "Die Frau Pfarrerin"
erwähnt. Einen richtigen Begriff von dem Wert der kleinern Erzählungen
Gotthelfs kann man ohne tieferes Eingehen nicht geben, das würde aber hier
zu weit führen. Wer übrigens nur die eine oder die andre liest (und das zu
thun macht die Auswahl in Reelams Universalbibliothek leicht), merkt sofort,
daß er es mit einem Schriftsteller zu thun hat, der aus der Tiefe des Volks-
tums schöpft und, so wenig er nach künstlerischer Form strebt, doch ein ge-
borner Erzähler ist.

"Ein großes episches Talent oder, wie man will. Genie" hat Keller
Gotthelf genannt. Das ist in der That der Eindruck, den die Gesamtheit
seiner Werke hinterläßt. Wenn es über die Bedeutung des Epikers entscheidet,
ob das Material seiner Geschichten und Gestalten neu, frisch und lebendig,
dem Leben entnommen, auf unmittelbarer Anschauung beruhend oder konven¬
tionell und buchmüßig ist, so gehört der Pfarrer von Lützelflüh unbedingt zu
den größten Epitern aller Zeiten; denn an Fülle, Frische und Wahrheit des
Details erreichen ihn nur ganz wenige seiner Genossen, nur die allerersten.
Gotthelf wirkt in der That wie die Natur selbst auf uns ein, und es ist
nicht ganz zu verwerfen, daß manche seiner gebildeten Verehrer an Homer
erinnert haben. Wie bei diesem, genießen wir auch bei Gotthelf, wie sich
Keller ausdrückte, "alles Sinnliche, Sicht- und Greifbare in vollkommen
gesättigter Empfindung" mit, d. h. die Erscheinung und das Geschehende gehen
in einander auf, die Schilderung überwiegt nirgends, zugleich stellt sich bei
ihm das dem echten Epos angemessene Behagen ein, nicht bloß durch die
Gegenständlichkeit, sondern auch durch die Einfachheit und den durchaus ruhigen
und klaren Fluß der eigentlichen Erzählung hervorgerufen, die tiefere innere
Befriedigung aber bleibt gewöhnlich auch nicht aus, da dem so kräftigen, ja
derben Manne doch auch Zartheit und Feinheit nicht fehlen und ein tiefes,
nirgends ungesundes Naturgefühl sich bei ihm mit gründlicher Kenntnis der
Menschennatur, deren gute Seiten er nirgends verkannte, vereinigte. Fast jedes
seiner größern Werke enthält eine Höhe, an der sich das Tiefste und Beste
seiner Menschen, gewöhnlich im engen Zusammenhang mit der sie umgebenden
Natur, offenbart, und er ist imstande, diese Höhen auch wirklich zu Höhen
der Darstellung zu erheben, er dentet nicht bloß an, sondern zeichnet groß und
deutlich und läßt die Empfindung mächtig hervorströmen. So hat Keller
allerdings das Richtige getroffen, wenn er zuletzt sagt: "Nichts geringeres haben
wir in Gotthelfs Werken, als einen reichen und tiefen Schacht nationalen,
vvlksmüßigen poetischen Ur- und Grundstoffs, wie er dem Menschengeschlecht
angeboren und nicht augeschnstert ist, und gegenüber diesem positiven Guten
das Negative solcher Mängel, die in der Leidenschaft, im tiefern Volksgeschick
wurzeln und in ihrem charakteristischen Hervorragen neben den Vorzügen von


Grenzboten III 18V7 ö4
Jeremias Gotthelf

gerichtete, aber doch von echt dichterischem und religiösem Geist durchwehte
Sterbegeschichte, und die größere biographische Erzählung „Die Frau Pfarrerin"
erwähnt. Einen richtigen Begriff von dem Wert der kleinern Erzählungen
Gotthelfs kann man ohne tieferes Eingehen nicht geben, das würde aber hier
zu weit führen. Wer übrigens nur die eine oder die andre liest (und das zu
thun macht die Auswahl in Reelams Universalbibliothek leicht), merkt sofort,
daß er es mit einem Schriftsteller zu thun hat, der aus der Tiefe des Volks-
tums schöpft und, so wenig er nach künstlerischer Form strebt, doch ein ge-
borner Erzähler ist.

„Ein großes episches Talent oder, wie man will. Genie" hat Keller
Gotthelf genannt. Das ist in der That der Eindruck, den die Gesamtheit
seiner Werke hinterläßt. Wenn es über die Bedeutung des Epikers entscheidet,
ob das Material seiner Geschichten und Gestalten neu, frisch und lebendig,
dem Leben entnommen, auf unmittelbarer Anschauung beruhend oder konven¬
tionell und buchmüßig ist, so gehört der Pfarrer von Lützelflüh unbedingt zu
den größten Epitern aller Zeiten; denn an Fülle, Frische und Wahrheit des
Details erreichen ihn nur ganz wenige seiner Genossen, nur die allerersten.
Gotthelf wirkt in der That wie die Natur selbst auf uns ein, und es ist
nicht ganz zu verwerfen, daß manche seiner gebildeten Verehrer an Homer
erinnert haben. Wie bei diesem, genießen wir auch bei Gotthelf, wie sich
Keller ausdrückte, „alles Sinnliche, Sicht- und Greifbare in vollkommen
gesättigter Empfindung" mit, d. h. die Erscheinung und das Geschehende gehen
in einander auf, die Schilderung überwiegt nirgends, zugleich stellt sich bei
ihm das dem echten Epos angemessene Behagen ein, nicht bloß durch die
Gegenständlichkeit, sondern auch durch die Einfachheit und den durchaus ruhigen
und klaren Fluß der eigentlichen Erzählung hervorgerufen, die tiefere innere
Befriedigung aber bleibt gewöhnlich auch nicht aus, da dem so kräftigen, ja
derben Manne doch auch Zartheit und Feinheit nicht fehlen und ein tiefes,
nirgends ungesundes Naturgefühl sich bei ihm mit gründlicher Kenntnis der
Menschennatur, deren gute Seiten er nirgends verkannte, vereinigte. Fast jedes
seiner größern Werke enthält eine Höhe, an der sich das Tiefste und Beste
seiner Menschen, gewöhnlich im engen Zusammenhang mit der sie umgebenden
Natur, offenbart, und er ist imstande, diese Höhen auch wirklich zu Höhen
der Darstellung zu erheben, er dentet nicht bloß an, sondern zeichnet groß und
deutlich und läßt die Empfindung mächtig hervorströmen. So hat Keller
allerdings das Richtige getroffen, wenn er zuletzt sagt: „Nichts geringeres haben
wir in Gotthelfs Werken, als einen reichen und tiefen Schacht nationalen,
vvlksmüßigen poetischen Ur- und Grundstoffs, wie er dem Menschengeschlecht
angeboren und nicht augeschnstert ist, und gegenüber diesem positiven Guten
das Negative solcher Mängel, die in der Leidenschaft, im tiefern Volksgeschick
wurzeln und in ihrem charakteristischen Hervorragen neben den Vorzügen von


Grenzboten III 18V7 ö4
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[0513] Jeremias Gotthelf gerichtete, aber doch von echt dichterischem und religiösem Geist durchwehte Sterbegeschichte, und die größere biographische Erzählung „Die Frau Pfarrerin" erwähnt. Einen richtigen Begriff von dem Wert der kleinern Erzählungen Gotthelfs kann man ohne tieferes Eingehen nicht geben, das würde aber hier zu weit führen. Wer übrigens nur die eine oder die andre liest (und das zu thun macht die Auswahl in Reelams Universalbibliothek leicht), merkt sofort, daß er es mit einem Schriftsteller zu thun hat, der aus der Tiefe des Volks- tums schöpft und, so wenig er nach künstlerischer Form strebt, doch ein ge- borner Erzähler ist. „Ein großes episches Talent oder, wie man will. Genie" hat Keller Gotthelf genannt. Das ist in der That der Eindruck, den die Gesamtheit seiner Werke hinterläßt. Wenn es über die Bedeutung des Epikers entscheidet, ob das Material seiner Geschichten und Gestalten neu, frisch und lebendig, dem Leben entnommen, auf unmittelbarer Anschauung beruhend oder konven¬ tionell und buchmüßig ist, so gehört der Pfarrer von Lützelflüh unbedingt zu den größten Epitern aller Zeiten; denn an Fülle, Frische und Wahrheit des Details erreichen ihn nur ganz wenige seiner Genossen, nur die allerersten. Gotthelf wirkt in der That wie die Natur selbst auf uns ein, und es ist nicht ganz zu verwerfen, daß manche seiner gebildeten Verehrer an Homer erinnert haben. Wie bei diesem, genießen wir auch bei Gotthelf, wie sich Keller ausdrückte, „alles Sinnliche, Sicht- und Greifbare in vollkommen gesättigter Empfindung" mit, d. h. die Erscheinung und das Geschehende gehen in einander auf, die Schilderung überwiegt nirgends, zugleich stellt sich bei ihm das dem echten Epos angemessene Behagen ein, nicht bloß durch die Gegenständlichkeit, sondern auch durch die Einfachheit und den durchaus ruhigen und klaren Fluß der eigentlichen Erzählung hervorgerufen, die tiefere innere Befriedigung aber bleibt gewöhnlich auch nicht aus, da dem so kräftigen, ja derben Manne doch auch Zartheit und Feinheit nicht fehlen und ein tiefes, nirgends ungesundes Naturgefühl sich bei ihm mit gründlicher Kenntnis der Menschennatur, deren gute Seiten er nirgends verkannte, vereinigte. Fast jedes seiner größern Werke enthält eine Höhe, an der sich das Tiefste und Beste seiner Menschen, gewöhnlich im engen Zusammenhang mit der sie umgebenden Natur, offenbart, und er ist imstande, diese Höhen auch wirklich zu Höhen der Darstellung zu erheben, er dentet nicht bloß an, sondern zeichnet groß und deutlich und läßt die Empfindung mächtig hervorströmen. So hat Keller allerdings das Richtige getroffen, wenn er zuletzt sagt: „Nichts geringeres haben wir in Gotthelfs Werken, als einen reichen und tiefen Schacht nationalen, vvlksmüßigen poetischen Ur- und Grundstoffs, wie er dem Menschengeschlecht angeboren und nicht augeschnstert ist, und gegenüber diesem positiven Guten das Negative solcher Mängel, die in der Leidenschaft, im tiefern Volksgeschick wurzeln und in ihrem charakteristischen Hervorragen neben den Vorzügen von Grenzboten III 18V7 ö4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/513>, abgerufen am 29.12.2024.