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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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liegt es, sondern an uns einzelnen Menschen selbst, daß wir an eine Verwirk¬
lichung der die Eigentumsordnung betreffenden sozialistischen Forderungen
schon aus psychologischen Gründen nicht denken können."

Hier ist endlich einmal in evangelisch-sozialen Kreisen nicht nur die scharfe
Scheidung zwischen Wesen und Gebiet der Rechtsordnung einerseits und der
religiös-sittlichen Pflichten andrerseits klar und bestimmt ausgedrückt, sondern
auch die große Bedeutung dieser Pflichten, dieses rechtlich und staatlich un-
kontrollirbaren und unfaßbarer Ausflusses der "Licbespflichtgesinnung" der
Einzelnen für die soziale Gesundung des Ganzen, und die soziale Aufgabe, die
eben deshalb der Kirche neben der staatlichen Rechtsordnung heute zufällt.
Aber freilich scheint sich diese Überzeugung nur nebenher, fast widerwillig unter
dem Zwange des unbequemen Themas in den evangelisch-sozialen Verhand¬
lungen Bahn gebrochen zu haben, statt daß man, wie es geboten gewesen
wäre, in der Hebung der religiös-sittlichen Pflichterfüllung der Einzelnen und
der kirchlichen Wirksamkeit nach dieser Seite hin den Hauptinhalt und die
Hauptaufgabe des evangelisch-sozialen Strebens überhaupt anerkannt hätte.
Was will in den langen Verhandlungen der bescheiden hintangestcllte Wunsch
Wendes bedeuten, daß unsre evangelische Kirche sich der Aufgabe, wahre
evangelische Liebespflichtgesinnnng zu pflegen und auszubreiten, immer recht
bewußt sein möchte, und daß wir einzelnen evangelischen Christen durch eine
treue Bethätigung dieser Licbesgesinnuug uns immer mehr als rechte Jünger
Jesu erweisen sollten, wo doch die Verwirklichung dieses Wunsches das A und O
alles evangelisch-sozialen Dichtens und Trachtens hätte sein sollen, wo sich
doch die Notwendigkeit kräftiger Hilfe und unermüdlichen, rührigen Drängens
und Treibens nirgends so dringend geltend macht als angesichts des wachsenden
Mangels an Einfluß bei der evangelischen Kirche auf die soziale Pflicht¬
erfüllung der Einzelnen und in dem fast ganz geschwundnen Vertrauen und
Verständnis der gebildeten, führenden, tonangebenden evangelischen Christen
zur sozialen Macht des christlichen Pflichtgefühls? Daß hier Hilfe zu
schaffen nicht schon der beherrschende Gedanke für den ganzen Evangelisch¬
sozialen Kongreß, sür die ganze christlich-soziale Bewegung überhaupt ge¬
worden ist, das wäre völlig unbegreiflich, wenn man nicht die Macht der
unglückseligen, in den letzten zwanzig Jahren immer mehr angeschwolluen
irrigen Zeitströmung kennte, die eigentlich mir noch das sozial nennt, was
vom Ganzen, vom Staat und von seiner Rechtsordnung ausgeht zum Guten
wie zum Schlechten, und die als soziale Pflichterfüllung und soziale Thätigkeit
auch beim evangelischen Christen und bei der evangelischen Kirche nur noch
die Einwirkung auf die staatlich und rechtlich zu ordnenden Verhältnisse der
Gesamtheit anerkennen möchte. Ich weiß sehr wohl, daß sich der Evangelisch¬
soziale Kongreß theoretisch und auch in seinem Programm dagegen verwahrt,
daß er in bestimmten sozialen Forderungen an den Staat und in dem Kampfe


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liegt es, sondern an uns einzelnen Menschen selbst, daß wir an eine Verwirk¬
lichung der die Eigentumsordnung betreffenden sozialistischen Forderungen
schon aus psychologischen Gründen nicht denken können."

Hier ist endlich einmal in evangelisch-sozialen Kreisen nicht nur die scharfe
Scheidung zwischen Wesen und Gebiet der Rechtsordnung einerseits und der
religiös-sittlichen Pflichten andrerseits klar und bestimmt ausgedrückt, sondern
auch die große Bedeutung dieser Pflichten, dieses rechtlich und staatlich un-
kontrollirbaren und unfaßbarer Ausflusses der „Licbespflichtgesinnung" der
Einzelnen für die soziale Gesundung des Ganzen, und die soziale Aufgabe, die
eben deshalb der Kirche neben der staatlichen Rechtsordnung heute zufällt.
Aber freilich scheint sich diese Überzeugung nur nebenher, fast widerwillig unter
dem Zwange des unbequemen Themas in den evangelisch-sozialen Verhand¬
lungen Bahn gebrochen zu haben, statt daß man, wie es geboten gewesen
wäre, in der Hebung der religiös-sittlichen Pflichterfüllung der Einzelnen und
der kirchlichen Wirksamkeit nach dieser Seite hin den Hauptinhalt und die
Hauptaufgabe des evangelisch-sozialen Strebens überhaupt anerkannt hätte.
Was will in den langen Verhandlungen der bescheiden hintangestcllte Wunsch
Wendes bedeuten, daß unsre evangelische Kirche sich der Aufgabe, wahre
evangelische Liebespflichtgesinnnng zu pflegen und auszubreiten, immer recht
bewußt sein möchte, und daß wir einzelnen evangelischen Christen durch eine
treue Bethätigung dieser Licbesgesinnuug uns immer mehr als rechte Jünger
Jesu erweisen sollten, wo doch die Verwirklichung dieses Wunsches das A und O
alles evangelisch-sozialen Dichtens und Trachtens hätte sein sollen, wo sich
doch die Notwendigkeit kräftiger Hilfe und unermüdlichen, rührigen Drängens
und Treibens nirgends so dringend geltend macht als angesichts des wachsenden
Mangels an Einfluß bei der evangelischen Kirche auf die soziale Pflicht¬
erfüllung der Einzelnen und in dem fast ganz geschwundnen Vertrauen und
Verständnis der gebildeten, führenden, tonangebenden evangelischen Christen
zur sozialen Macht des christlichen Pflichtgefühls? Daß hier Hilfe zu
schaffen nicht schon der beherrschende Gedanke für den ganzen Evangelisch¬
sozialen Kongreß, sür die ganze christlich-soziale Bewegung überhaupt ge¬
worden ist, das wäre völlig unbegreiflich, wenn man nicht die Macht der
unglückseligen, in den letzten zwanzig Jahren immer mehr angeschwolluen
irrigen Zeitströmung kennte, die eigentlich mir noch das sozial nennt, was
vom Ganzen, vom Staat und von seiner Rechtsordnung ausgeht zum Guten
wie zum Schlechten, und die als soziale Pflichterfüllung und soziale Thätigkeit
auch beim evangelischen Christen und bei der evangelischen Kirche nur noch
die Einwirkung auf die staatlich und rechtlich zu ordnenden Verhältnisse der
Gesamtheit anerkennen möchte. Ich weiß sehr wohl, daß sich der Evangelisch¬
soziale Kongreß theoretisch und auch in seinem Programm dagegen verwahrt,
daß er in bestimmten sozialen Forderungen an den Staat und in dem Kampfe


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[0444] Evangelisch - sozial liegt es, sondern an uns einzelnen Menschen selbst, daß wir an eine Verwirk¬ lichung der die Eigentumsordnung betreffenden sozialistischen Forderungen schon aus psychologischen Gründen nicht denken können." Hier ist endlich einmal in evangelisch-sozialen Kreisen nicht nur die scharfe Scheidung zwischen Wesen und Gebiet der Rechtsordnung einerseits und der religiös-sittlichen Pflichten andrerseits klar und bestimmt ausgedrückt, sondern auch die große Bedeutung dieser Pflichten, dieses rechtlich und staatlich un- kontrollirbaren und unfaßbarer Ausflusses der „Licbespflichtgesinnung" der Einzelnen für die soziale Gesundung des Ganzen, und die soziale Aufgabe, die eben deshalb der Kirche neben der staatlichen Rechtsordnung heute zufällt. Aber freilich scheint sich diese Überzeugung nur nebenher, fast widerwillig unter dem Zwange des unbequemen Themas in den evangelisch-sozialen Verhand¬ lungen Bahn gebrochen zu haben, statt daß man, wie es geboten gewesen wäre, in der Hebung der religiös-sittlichen Pflichterfüllung der Einzelnen und der kirchlichen Wirksamkeit nach dieser Seite hin den Hauptinhalt und die Hauptaufgabe des evangelisch-sozialen Strebens überhaupt anerkannt hätte. Was will in den langen Verhandlungen der bescheiden hintangestcllte Wunsch Wendes bedeuten, daß unsre evangelische Kirche sich der Aufgabe, wahre evangelische Liebespflichtgesinnnng zu pflegen und auszubreiten, immer recht bewußt sein möchte, und daß wir einzelnen evangelischen Christen durch eine treue Bethätigung dieser Licbesgesinnuug uns immer mehr als rechte Jünger Jesu erweisen sollten, wo doch die Verwirklichung dieses Wunsches das A und O alles evangelisch-sozialen Dichtens und Trachtens hätte sein sollen, wo sich doch die Notwendigkeit kräftiger Hilfe und unermüdlichen, rührigen Drängens und Treibens nirgends so dringend geltend macht als angesichts des wachsenden Mangels an Einfluß bei der evangelischen Kirche auf die soziale Pflicht¬ erfüllung der Einzelnen und in dem fast ganz geschwundnen Vertrauen und Verständnis der gebildeten, führenden, tonangebenden evangelischen Christen zur sozialen Macht des christlichen Pflichtgefühls? Daß hier Hilfe zu schaffen nicht schon der beherrschende Gedanke für den ganzen Evangelisch¬ sozialen Kongreß, sür die ganze christlich-soziale Bewegung überhaupt ge¬ worden ist, das wäre völlig unbegreiflich, wenn man nicht die Macht der unglückseligen, in den letzten zwanzig Jahren immer mehr angeschwolluen irrigen Zeitströmung kennte, die eigentlich mir noch das sozial nennt, was vom Ganzen, vom Staat und von seiner Rechtsordnung ausgeht zum Guten wie zum Schlechten, und die als soziale Pflichterfüllung und soziale Thätigkeit auch beim evangelischen Christen und bei der evangelischen Kirche nur noch die Einwirkung auf die staatlich und rechtlich zu ordnenden Verhältnisse der Gesamtheit anerkennen möchte. Ich weiß sehr wohl, daß sich der Evangelisch¬ soziale Kongreß theoretisch und auch in seinem Programm dagegen verwahrt, daß er in bestimmten sozialen Forderungen an den Staat und in dem Kampfe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/444>, abgerufen am 29.12.2024.