Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Evangelisch-sozial

für deren Verwirklichung allein seine besondre Aufgabe erblicke; aber thatsächlich
macht er doch in seinen Arbeiten die Erörterung und die Forderung von
sozialen Reformen in der Staats- und Rechtsordnung so sehr zur Hauptsache,
daß dadurch, gerade weil es unter evangelischer, kirchlich-religiöser Flagge ge¬
schieht, der Masse der evangelischen Christen das Verständnis für die religiös¬
sittliche Pflicht des Einzelnen, die Liebespflicht, schwer geschädigt werden muß.
Sehr bezeichnend erscheint mir für diese Einseitigkeit in der Auffassung der
sozialen Aufgabe und Thätigkeit des evangelischen Christen die Unfähigkeit,
den Erlaß des Evangelischen Oberkirchenrath vom 15. Dezember 1895 gegen¬
über dem Erlaß von 1879 über die soziale Mitarbeit der Geistlichen zu ver¬
stehen, zu der sich der Vorsitzende des Evangelisch-sozialen Kongresses,
M. A. Robbe, in seiner Schrift "Der Evangelisch-soziale Kongreß und seine
Gegner" bekennt. Nur die Überschätzung der auf staatliche und rechtliche
Reformen gerichteten sozialen Arbeit gegenüber der Pflichterfüllung der
Einzelnen macht es erklärlich, daß ein Mann, der so ernst das Beste
will wie Robbe, einen unlösbaren Widerspruch finden kann zwischen der
1895 an die Geistlichen gerichteten Warnung des Oberkirchenrath vor der
überhandnehmenden Hingebung an die "das öffentliche Interesse beherrschende,
sozialpolitische Reformbewegung auf wirtschaftlichem Gebiet" und der Mah¬
nung vom Jahre 1879, sich teilnehmend in die Lage der mit der Sorge
um das tägliche Brot ringenden Klassen zu versetzen und anleitend zu
ihrer Verbesserung behilflich zu sein. Als ob nicht in unsrer bewegten
Zeit im Laufe von sechzehn Jahren sehr verschiedne, ganz entgegengesetzte
fehlerhafte Strömungen sehr verschiedne Warnungen und Mahnungen ver¬
anlassen könnten! Was 1879 zu wenig geschah, das geschieht heute zu viel,
übertrieben, einseitig, in falscher Richtung. Ins "politische" Getriebe, in den
Kampf für die Umgestaltung der "Verhältnisse" durch Reformen der Staats¬
und Rechtsordnung sind die Pastoren zu weit hineingeraten, und damit un¬
vermeidlich in den Pcirteikampf. Davor zu warnen sollte mit der Mahnung
von 1879 in unlösbaren Widerspruch stehen? Wenn es nicht Robbe wäre,
könnte man fast an eines der landläufigen Klopffcchterstückchen der Pcirtei-
agitatio" denken; bei Robbe ist es aber nur der Beweis von der verhängnis¬
vollen Macht des Irrtums, der alles Heil in der politischen Thätigkeit sucht,
auch auf evangelisch-sozialem Gebiete.

Angesichts dieses Irrtums, der die evangelisch-soziale Bewegung bisher
beherrscht hat, sind die Kundgebungen Wendes, Gierkes und Wagners eine
neue und höchst erfreuliche Erscheinung. Ist nur erst einmal der Bann der
Voreingenommenheit gebrochen, dann müssen doch wohl endlich diesen ernst
strebenden Männern die Angen aufgehen über die große, herrliche und dank¬
bare Aufgabe, die der Evangelisch-sozialen und der evangelischen Kirche harrt,
dann muß ihnen doch auch der Widersinn klar werden, der darin liegt, die


Evangelisch-sozial

für deren Verwirklichung allein seine besondre Aufgabe erblicke; aber thatsächlich
macht er doch in seinen Arbeiten die Erörterung und die Forderung von
sozialen Reformen in der Staats- und Rechtsordnung so sehr zur Hauptsache,
daß dadurch, gerade weil es unter evangelischer, kirchlich-religiöser Flagge ge¬
schieht, der Masse der evangelischen Christen das Verständnis für die religiös¬
sittliche Pflicht des Einzelnen, die Liebespflicht, schwer geschädigt werden muß.
Sehr bezeichnend erscheint mir für diese Einseitigkeit in der Auffassung der
sozialen Aufgabe und Thätigkeit des evangelischen Christen die Unfähigkeit,
den Erlaß des Evangelischen Oberkirchenrath vom 15. Dezember 1895 gegen¬
über dem Erlaß von 1879 über die soziale Mitarbeit der Geistlichen zu ver¬
stehen, zu der sich der Vorsitzende des Evangelisch-sozialen Kongresses,
M. A. Robbe, in seiner Schrift „Der Evangelisch-soziale Kongreß und seine
Gegner" bekennt. Nur die Überschätzung der auf staatliche und rechtliche
Reformen gerichteten sozialen Arbeit gegenüber der Pflichterfüllung der
Einzelnen macht es erklärlich, daß ein Mann, der so ernst das Beste
will wie Robbe, einen unlösbaren Widerspruch finden kann zwischen der
1895 an die Geistlichen gerichteten Warnung des Oberkirchenrath vor der
überhandnehmenden Hingebung an die „das öffentliche Interesse beherrschende,
sozialpolitische Reformbewegung auf wirtschaftlichem Gebiet" und der Mah¬
nung vom Jahre 1879, sich teilnehmend in die Lage der mit der Sorge
um das tägliche Brot ringenden Klassen zu versetzen und anleitend zu
ihrer Verbesserung behilflich zu sein. Als ob nicht in unsrer bewegten
Zeit im Laufe von sechzehn Jahren sehr verschiedne, ganz entgegengesetzte
fehlerhafte Strömungen sehr verschiedne Warnungen und Mahnungen ver¬
anlassen könnten! Was 1879 zu wenig geschah, das geschieht heute zu viel,
übertrieben, einseitig, in falscher Richtung. Ins „politische" Getriebe, in den
Kampf für die Umgestaltung der „Verhältnisse" durch Reformen der Staats¬
und Rechtsordnung sind die Pastoren zu weit hineingeraten, und damit un¬
vermeidlich in den Pcirteikampf. Davor zu warnen sollte mit der Mahnung
von 1879 in unlösbaren Widerspruch stehen? Wenn es nicht Robbe wäre,
könnte man fast an eines der landläufigen Klopffcchterstückchen der Pcirtei-
agitatio» denken; bei Robbe ist es aber nur der Beweis von der verhängnis¬
vollen Macht des Irrtums, der alles Heil in der politischen Thätigkeit sucht,
auch auf evangelisch-sozialem Gebiete.

Angesichts dieses Irrtums, der die evangelisch-soziale Bewegung bisher
beherrscht hat, sind die Kundgebungen Wendes, Gierkes und Wagners eine
neue und höchst erfreuliche Erscheinung. Ist nur erst einmal der Bann der
Voreingenommenheit gebrochen, dann müssen doch wohl endlich diesen ernst
strebenden Männern die Angen aufgehen über die große, herrliche und dank¬
bare Aufgabe, die der Evangelisch-sozialen und der evangelischen Kirche harrt,
dann muß ihnen doch auch der Widersinn klar werden, der darin liegt, die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0445" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226031"/>
          <fw type="header" place="top"> Evangelisch-sozial</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1107" prev="#ID_1106"> für deren Verwirklichung allein seine besondre Aufgabe erblicke; aber thatsächlich<lb/>
macht er doch in seinen Arbeiten die Erörterung und die Forderung von<lb/>
sozialen Reformen in der Staats- und Rechtsordnung so sehr zur Hauptsache,<lb/>
daß dadurch, gerade weil es unter evangelischer, kirchlich-religiöser Flagge ge¬<lb/>
schieht, der Masse der evangelischen Christen das Verständnis für die religiös¬<lb/>
sittliche Pflicht des Einzelnen, die Liebespflicht, schwer geschädigt werden muß.<lb/>
Sehr bezeichnend erscheint mir für diese Einseitigkeit in der Auffassung der<lb/>
sozialen Aufgabe und Thätigkeit des evangelischen Christen die Unfähigkeit,<lb/>
den Erlaß des Evangelischen Oberkirchenrath vom 15. Dezember 1895 gegen¬<lb/>
über dem Erlaß von 1879 über die soziale Mitarbeit der Geistlichen zu ver¬<lb/>
stehen, zu der sich der Vorsitzende des Evangelisch-sozialen Kongresses,<lb/>
M. A. Robbe, in seiner Schrift &#x201E;Der Evangelisch-soziale Kongreß und seine<lb/>
Gegner" bekennt. Nur die Überschätzung der auf staatliche und rechtliche<lb/>
Reformen gerichteten sozialen Arbeit gegenüber der Pflichterfüllung der<lb/>
Einzelnen macht es erklärlich, daß ein Mann, der so ernst das Beste<lb/>
will wie Robbe, einen unlösbaren Widerspruch finden kann zwischen der<lb/>
1895 an die Geistlichen gerichteten Warnung des Oberkirchenrath vor der<lb/>
überhandnehmenden Hingebung an die &#x201E;das öffentliche Interesse beherrschende,<lb/>
sozialpolitische Reformbewegung auf wirtschaftlichem Gebiet" und der Mah¬<lb/>
nung vom Jahre 1879, sich teilnehmend in die Lage der mit der Sorge<lb/>
um das tägliche Brot ringenden Klassen zu versetzen und anleitend zu<lb/>
ihrer Verbesserung behilflich zu sein. Als ob nicht in unsrer bewegten<lb/>
Zeit im Laufe von sechzehn Jahren sehr verschiedne, ganz entgegengesetzte<lb/>
fehlerhafte Strömungen sehr verschiedne Warnungen und Mahnungen ver¬<lb/>
anlassen könnten! Was 1879 zu wenig geschah, das geschieht heute zu viel,<lb/>
übertrieben, einseitig, in falscher Richtung. Ins &#x201E;politische" Getriebe, in den<lb/>
Kampf für die Umgestaltung der &#x201E;Verhältnisse" durch Reformen der Staats¬<lb/>
und Rechtsordnung sind die Pastoren zu weit hineingeraten, und damit un¬<lb/>
vermeidlich in den Pcirteikampf. Davor zu warnen sollte mit der Mahnung<lb/>
von 1879 in unlösbaren Widerspruch stehen? Wenn es nicht Robbe wäre,<lb/>
könnte man fast an eines der landläufigen Klopffcchterstückchen der Pcirtei-<lb/>
agitatio» denken; bei Robbe ist es aber nur der Beweis von der verhängnis¬<lb/>
vollen Macht des Irrtums, der alles Heil in der politischen Thätigkeit sucht,<lb/>
auch auf evangelisch-sozialem Gebiete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1108" next="#ID_1109"> Angesichts dieses Irrtums, der die evangelisch-soziale Bewegung bisher<lb/>
beherrscht hat, sind die Kundgebungen Wendes, Gierkes und Wagners eine<lb/>
neue und höchst erfreuliche Erscheinung. Ist nur erst einmal der Bann der<lb/>
Voreingenommenheit gebrochen, dann müssen doch wohl endlich diesen ernst<lb/>
strebenden Männern die Angen aufgehen über die große, herrliche und dank¬<lb/>
bare Aufgabe, die der Evangelisch-sozialen und der evangelischen Kirche harrt,<lb/>
dann muß ihnen doch auch der Widersinn klar werden, der darin liegt, die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0445] Evangelisch-sozial für deren Verwirklichung allein seine besondre Aufgabe erblicke; aber thatsächlich macht er doch in seinen Arbeiten die Erörterung und die Forderung von sozialen Reformen in der Staats- und Rechtsordnung so sehr zur Hauptsache, daß dadurch, gerade weil es unter evangelischer, kirchlich-religiöser Flagge ge¬ schieht, der Masse der evangelischen Christen das Verständnis für die religiös¬ sittliche Pflicht des Einzelnen, die Liebespflicht, schwer geschädigt werden muß. Sehr bezeichnend erscheint mir für diese Einseitigkeit in der Auffassung der sozialen Aufgabe und Thätigkeit des evangelischen Christen die Unfähigkeit, den Erlaß des Evangelischen Oberkirchenrath vom 15. Dezember 1895 gegen¬ über dem Erlaß von 1879 über die soziale Mitarbeit der Geistlichen zu ver¬ stehen, zu der sich der Vorsitzende des Evangelisch-sozialen Kongresses, M. A. Robbe, in seiner Schrift „Der Evangelisch-soziale Kongreß und seine Gegner" bekennt. Nur die Überschätzung der auf staatliche und rechtliche Reformen gerichteten sozialen Arbeit gegenüber der Pflichterfüllung der Einzelnen macht es erklärlich, daß ein Mann, der so ernst das Beste will wie Robbe, einen unlösbaren Widerspruch finden kann zwischen der 1895 an die Geistlichen gerichteten Warnung des Oberkirchenrath vor der überhandnehmenden Hingebung an die „das öffentliche Interesse beherrschende, sozialpolitische Reformbewegung auf wirtschaftlichem Gebiet" und der Mah¬ nung vom Jahre 1879, sich teilnehmend in die Lage der mit der Sorge um das tägliche Brot ringenden Klassen zu versetzen und anleitend zu ihrer Verbesserung behilflich zu sein. Als ob nicht in unsrer bewegten Zeit im Laufe von sechzehn Jahren sehr verschiedne, ganz entgegengesetzte fehlerhafte Strömungen sehr verschiedne Warnungen und Mahnungen ver¬ anlassen könnten! Was 1879 zu wenig geschah, das geschieht heute zu viel, übertrieben, einseitig, in falscher Richtung. Ins „politische" Getriebe, in den Kampf für die Umgestaltung der „Verhältnisse" durch Reformen der Staats¬ und Rechtsordnung sind die Pastoren zu weit hineingeraten, und damit un¬ vermeidlich in den Pcirteikampf. Davor zu warnen sollte mit der Mahnung von 1879 in unlösbaren Widerspruch stehen? Wenn es nicht Robbe wäre, könnte man fast an eines der landläufigen Klopffcchterstückchen der Pcirtei- agitatio» denken; bei Robbe ist es aber nur der Beweis von der verhängnis¬ vollen Macht des Irrtums, der alles Heil in der politischen Thätigkeit sucht, auch auf evangelisch-sozialem Gebiete. Angesichts dieses Irrtums, der die evangelisch-soziale Bewegung bisher beherrscht hat, sind die Kundgebungen Wendes, Gierkes und Wagners eine neue und höchst erfreuliche Erscheinung. Ist nur erst einmal der Bann der Voreingenommenheit gebrochen, dann müssen doch wohl endlich diesen ernst strebenden Männern die Angen aufgehen über die große, herrliche und dank¬ bare Aufgabe, die der Evangelisch-sozialen und der evangelischen Kirche harrt, dann muß ihnen doch auch der Widersinn klar werden, der darin liegt, die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/445
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/445>, abgerufen am 24.07.2024.