Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Evangelisch-sozial

zubreiten, immer recht bewußt sein! Und möchten wir einzelnen evangelischen
Christen durch eine treue Bethätigung dieser Liebesgesinnung uns immer mehr
als rechte Jünger Jesu erweisen!"

Der Jurist, Professor Gierke, führte folgendes aus: Wollte das Recht
mit seinen Mitteln die religiösen Gebote zugleich zu Rechtsgebvten erheben, dann
würde es sie ihres wahren Wertes entkleiden, ja es würde die Sittlichkeit zuletzt
zerstören. Es würde mit dem starren Buchstaben des Gesetzes die Liebe töten,
alles höhere geistige Leben mit dem Untergange bedrohen. Das hätten ja
auch bisher die bloßen Anfänge solcher Rechtsordnungen gezeigt, die die Idee
des Religiös-sittlichen in ihr starres Gebot bannen wollten, und das würde
in erhöhtem Maße die Verwirklichung aller der Utopien zeigen, die seit Platos
Jdecilstant ausgemalt worden seien. Recht und Sittlichkeit hätten also ihr ge¬
sondertes Gebiet. Und wie einerseits das sittlich-religiöse Leben angewiesen
sei auf die feste Grundlage einer äußern staatlichen und rechtlichen Ordnung,
so bleibe die Rechtsordnung stets hingewiesen auf die Ergänzung durch die
religiös-sittliche Ordnung. Es lasse sich keine Rechtsordnung ersinnen, und
möchte sie sich dem Ideal der vollkommnen Übereinstimmung mit dem Gesamt-
bcwußtseiu von Volk und Zeit noch so sehr nähern, die nicht der Ergänzung
durch eine sittliche Ordnung bedürfte, und die nicht verderblich wirken würde,
wenn das religiöse Gebot jemals seine Kraft einbüßte, wenn nicht Gottesliebe
und Nächstenliebe in den Herzen lebendig blieben, um das Rechtsgesetz zu be¬
richtigen. Auch dann, wenn man sich einmal eine kommunistische Eigentums¬
ordnung verwirklicht dächte, würde die Notwendigkeit einer Ergänzung des
Nechtsgebots durch das Sittengebot, durch gegenseitige Liebespflicht und freies
Hingeben äußerer Güter nicht verschwinden. Gerade eine kommunistische Eigen¬
tumsordnung würde am allermeisten einer solchen Ergänzung bedürfen, sie
würde am allerverderblichsten wirken und am aller tödlichsten, wenn sich ihr
gegenüber nicht die religiöse Kraft so entfaltete, wie sie sich doch bisher nur
auf den Höhepunkte" der Menschheitsgeschichte und in wenigen Geistern ent¬
faltet habe.

Hören wir endlich noch den Nationalökonomen Adolf Wagner. Mit
vollkommnem Recht sei dem Sozialismus, seinen theoretischen und praktischen
Vertretern, den politischen Vertretern der Sozialdemokratie, der Vorwurf zu
machen: "Alles das, was ihr Sozialisten thun müßtet, um eure Wirtschafts¬
ordnung psychologisch wenigstens etwas möglicher zu machen, versäumt ihr
gerade! Ihr wollt nicht an die Religion anknüpfen, die doch auffordert, sich
sittlich und religiös zu bessern. Das wäre die erste Voraussetzung dafür, daß
dann die psychologische Möglichkeit einer größern Verwirklichung solcher
sozialistischen Ideen überhaupt ernstlich in Betracht gezogen werden könnte --
Besserung von uns einzelnen Menschen! Nicht alle Schuld wohlfeil auf die
"Verhältnisse" schieben! Nicht an den "Verhältnissen" des menschlichen Lebens


Evangelisch-sozial

zubreiten, immer recht bewußt sein! Und möchten wir einzelnen evangelischen
Christen durch eine treue Bethätigung dieser Liebesgesinnung uns immer mehr
als rechte Jünger Jesu erweisen!"

Der Jurist, Professor Gierke, führte folgendes aus: Wollte das Recht
mit seinen Mitteln die religiösen Gebote zugleich zu Rechtsgebvten erheben, dann
würde es sie ihres wahren Wertes entkleiden, ja es würde die Sittlichkeit zuletzt
zerstören. Es würde mit dem starren Buchstaben des Gesetzes die Liebe töten,
alles höhere geistige Leben mit dem Untergange bedrohen. Das hätten ja
auch bisher die bloßen Anfänge solcher Rechtsordnungen gezeigt, die die Idee
des Religiös-sittlichen in ihr starres Gebot bannen wollten, und das würde
in erhöhtem Maße die Verwirklichung aller der Utopien zeigen, die seit Platos
Jdecilstant ausgemalt worden seien. Recht und Sittlichkeit hätten also ihr ge¬
sondertes Gebiet. Und wie einerseits das sittlich-religiöse Leben angewiesen
sei auf die feste Grundlage einer äußern staatlichen und rechtlichen Ordnung,
so bleibe die Rechtsordnung stets hingewiesen auf die Ergänzung durch die
religiös-sittliche Ordnung. Es lasse sich keine Rechtsordnung ersinnen, und
möchte sie sich dem Ideal der vollkommnen Übereinstimmung mit dem Gesamt-
bcwußtseiu von Volk und Zeit noch so sehr nähern, die nicht der Ergänzung
durch eine sittliche Ordnung bedürfte, und die nicht verderblich wirken würde,
wenn das religiöse Gebot jemals seine Kraft einbüßte, wenn nicht Gottesliebe
und Nächstenliebe in den Herzen lebendig blieben, um das Rechtsgesetz zu be¬
richtigen. Auch dann, wenn man sich einmal eine kommunistische Eigentums¬
ordnung verwirklicht dächte, würde die Notwendigkeit einer Ergänzung des
Nechtsgebots durch das Sittengebot, durch gegenseitige Liebespflicht und freies
Hingeben äußerer Güter nicht verschwinden. Gerade eine kommunistische Eigen¬
tumsordnung würde am allermeisten einer solchen Ergänzung bedürfen, sie
würde am allerverderblichsten wirken und am aller tödlichsten, wenn sich ihr
gegenüber nicht die religiöse Kraft so entfaltete, wie sie sich doch bisher nur
auf den Höhepunkte» der Menschheitsgeschichte und in wenigen Geistern ent¬
faltet habe.

Hören wir endlich noch den Nationalökonomen Adolf Wagner. Mit
vollkommnem Recht sei dem Sozialismus, seinen theoretischen und praktischen
Vertretern, den politischen Vertretern der Sozialdemokratie, der Vorwurf zu
machen: „Alles das, was ihr Sozialisten thun müßtet, um eure Wirtschafts¬
ordnung psychologisch wenigstens etwas möglicher zu machen, versäumt ihr
gerade! Ihr wollt nicht an die Religion anknüpfen, die doch auffordert, sich
sittlich und religiös zu bessern. Das wäre die erste Voraussetzung dafür, daß
dann die psychologische Möglichkeit einer größern Verwirklichung solcher
sozialistischen Ideen überhaupt ernstlich in Betracht gezogen werden könnte —
Besserung von uns einzelnen Menschen! Nicht alle Schuld wohlfeil auf die
»Verhältnisse« schieben! Nicht an den »Verhältnissen« des menschlichen Lebens


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0443" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226029"/>
          <fw type="header" place="top"> Evangelisch-sozial</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1102" prev="#ID_1101"> zubreiten, immer recht bewußt sein! Und möchten wir einzelnen evangelischen<lb/>
Christen durch eine treue Bethätigung dieser Liebesgesinnung uns immer mehr<lb/>
als rechte Jünger Jesu erweisen!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1103"> Der Jurist, Professor Gierke, führte folgendes aus: Wollte das Recht<lb/>
mit seinen Mitteln die religiösen Gebote zugleich zu Rechtsgebvten erheben, dann<lb/>
würde es sie ihres wahren Wertes entkleiden, ja es würde die Sittlichkeit zuletzt<lb/>
zerstören. Es würde mit dem starren Buchstaben des Gesetzes die Liebe töten,<lb/>
alles höhere geistige Leben mit dem Untergange bedrohen. Das hätten ja<lb/>
auch bisher die bloßen Anfänge solcher Rechtsordnungen gezeigt, die die Idee<lb/>
des Religiös-sittlichen in ihr starres Gebot bannen wollten, und das würde<lb/>
in erhöhtem Maße die Verwirklichung aller der Utopien zeigen, die seit Platos<lb/>
Jdecilstant ausgemalt worden seien. Recht und Sittlichkeit hätten also ihr ge¬<lb/>
sondertes Gebiet. Und wie einerseits das sittlich-religiöse Leben angewiesen<lb/>
sei auf die feste Grundlage einer äußern staatlichen und rechtlichen Ordnung,<lb/>
so bleibe die Rechtsordnung stets hingewiesen auf die Ergänzung durch die<lb/>
religiös-sittliche Ordnung. Es lasse sich keine Rechtsordnung ersinnen, und<lb/>
möchte sie sich dem Ideal der vollkommnen Übereinstimmung mit dem Gesamt-<lb/>
bcwußtseiu von Volk und Zeit noch so sehr nähern, die nicht der Ergänzung<lb/>
durch eine sittliche Ordnung bedürfte, und die nicht verderblich wirken würde,<lb/>
wenn das religiöse Gebot jemals seine Kraft einbüßte, wenn nicht Gottesliebe<lb/>
und Nächstenliebe in den Herzen lebendig blieben, um das Rechtsgesetz zu be¬<lb/>
richtigen. Auch dann, wenn man sich einmal eine kommunistische Eigentums¬<lb/>
ordnung verwirklicht dächte, würde die Notwendigkeit einer Ergänzung des<lb/>
Nechtsgebots durch das Sittengebot, durch gegenseitige Liebespflicht und freies<lb/>
Hingeben äußerer Güter nicht verschwinden. Gerade eine kommunistische Eigen¬<lb/>
tumsordnung würde am allermeisten einer solchen Ergänzung bedürfen, sie<lb/>
würde am allerverderblichsten wirken und am aller tödlichsten, wenn sich ihr<lb/>
gegenüber nicht die religiöse Kraft so entfaltete, wie sie sich doch bisher nur<lb/>
auf den Höhepunkte» der Menschheitsgeschichte und in wenigen Geistern ent¬<lb/>
faltet habe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1104" next="#ID_1105"> Hören wir endlich noch den Nationalökonomen Adolf Wagner. Mit<lb/>
vollkommnem Recht sei dem Sozialismus, seinen theoretischen und praktischen<lb/>
Vertretern, den politischen Vertretern der Sozialdemokratie, der Vorwurf zu<lb/>
machen: &#x201E;Alles das, was ihr Sozialisten thun müßtet, um eure Wirtschafts¬<lb/>
ordnung psychologisch wenigstens etwas möglicher zu machen, versäumt ihr<lb/>
gerade! Ihr wollt nicht an die Religion anknüpfen, die doch auffordert, sich<lb/>
sittlich und religiös zu bessern. Das wäre die erste Voraussetzung dafür, daß<lb/>
dann die psychologische Möglichkeit einer größern Verwirklichung solcher<lb/>
sozialistischen Ideen überhaupt ernstlich in Betracht gezogen werden könnte &#x2014;<lb/>
Besserung von uns einzelnen Menschen! Nicht alle Schuld wohlfeil auf die<lb/>
»Verhältnisse« schieben! Nicht an den »Verhältnissen« des menschlichen Lebens</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0443] Evangelisch-sozial zubreiten, immer recht bewußt sein! Und möchten wir einzelnen evangelischen Christen durch eine treue Bethätigung dieser Liebesgesinnung uns immer mehr als rechte Jünger Jesu erweisen!" Der Jurist, Professor Gierke, führte folgendes aus: Wollte das Recht mit seinen Mitteln die religiösen Gebote zugleich zu Rechtsgebvten erheben, dann würde es sie ihres wahren Wertes entkleiden, ja es würde die Sittlichkeit zuletzt zerstören. Es würde mit dem starren Buchstaben des Gesetzes die Liebe töten, alles höhere geistige Leben mit dem Untergange bedrohen. Das hätten ja auch bisher die bloßen Anfänge solcher Rechtsordnungen gezeigt, die die Idee des Religiös-sittlichen in ihr starres Gebot bannen wollten, und das würde in erhöhtem Maße die Verwirklichung aller der Utopien zeigen, die seit Platos Jdecilstant ausgemalt worden seien. Recht und Sittlichkeit hätten also ihr ge¬ sondertes Gebiet. Und wie einerseits das sittlich-religiöse Leben angewiesen sei auf die feste Grundlage einer äußern staatlichen und rechtlichen Ordnung, so bleibe die Rechtsordnung stets hingewiesen auf die Ergänzung durch die religiös-sittliche Ordnung. Es lasse sich keine Rechtsordnung ersinnen, und möchte sie sich dem Ideal der vollkommnen Übereinstimmung mit dem Gesamt- bcwußtseiu von Volk und Zeit noch so sehr nähern, die nicht der Ergänzung durch eine sittliche Ordnung bedürfte, und die nicht verderblich wirken würde, wenn das religiöse Gebot jemals seine Kraft einbüßte, wenn nicht Gottesliebe und Nächstenliebe in den Herzen lebendig blieben, um das Rechtsgesetz zu be¬ richtigen. Auch dann, wenn man sich einmal eine kommunistische Eigentums¬ ordnung verwirklicht dächte, würde die Notwendigkeit einer Ergänzung des Nechtsgebots durch das Sittengebot, durch gegenseitige Liebespflicht und freies Hingeben äußerer Güter nicht verschwinden. Gerade eine kommunistische Eigen¬ tumsordnung würde am allermeisten einer solchen Ergänzung bedürfen, sie würde am allerverderblichsten wirken und am aller tödlichsten, wenn sich ihr gegenüber nicht die religiöse Kraft so entfaltete, wie sie sich doch bisher nur auf den Höhepunkte» der Menschheitsgeschichte und in wenigen Geistern ent¬ faltet habe. Hören wir endlich noch den Nationalökonomen Adolf Wagner. Mit vollkommnem Recht sei dem Sozialismus, seinen theoretischen und praktischen Vertretern, den politischen Vertretern der Sozialdemokratie, der Vorwurf zu machen: „Alles das, was ihr Sozialisten thun müßtet, um eure Wirtschafts¬ ordnung psychologisch wenigstens etwas möglicher zu machen, versäumt ihr gerade! Ihr wollt nicht an die Religion anknüpfen, die doch auffordert, sich sittlich und religiös zu bessern. Das wäre die erste Voraussetzung dafür, daß dann die psychologische Möglichkeit einer größern Verwirklichung solcher sozialistischen Ideen überhaupt ernstlich in Betracht gezogen werden könnte — Besserung von uns einzelnen Menschen! Nicht alle Schuld wohlfeil auf die »Verhältnisse« schieben! Nicht an den »Verhältnissen« des menschlichen Lebens

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/443
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/443>, abgerufen am 29.12.2024.