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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Evangelisch-sozial

Auch Schmollcrs Mittelstandsrede war ohne jede evangelisch-soziale Bedeutung,
und staatswissenschnftlich neu war an ihr genau genommen nur, daß Schmoller
redete. Beide Vorträge hätten unterbleiben können, ohne daß der evangelisch-
soziale Wert der Verhandlungen im geringsten gelitten hätte. Aber was bleibt
dann überhaupt noch übrig? Die Presse hat sich doch nur mit Oldenbergs
und Schmollers Vortrügen beschäftigt. Wendes Vortrag und die auf ihn
folgenden Verhandlungen "über das Eigentum nach christlicher Beurteilung"
sind doch noch von niemand als etwas bedeutendes genannt worden. Sie
wären vielleicht ganz unerwähnt geblieben ohne die Bocksprünge, die Nciumciun
dabei zum besten gab. Aber trotz alledem, trotz des recht unglücklich gewählten
Themas und trotz des geringen Gehalts der aufgestellten und beschlossenen
Leitsätze an neuer Belehrung für Theorie und Praxis haben gerade die Ver¬
handlungen über dieses Thema ein sehr wichtiges Ergebnis gehabt, indem
sie Meinungsäußerungen von berufner Seite veranlaßten, ich möchte fast sagen:
erzwangen, die wohl geeignet sind, der evangelisch-sozialen Bewegung endlich
die Wege zu weisen, die ihrem Wesen entsprechen. Die Verhandlungen des
achten Evangelisch-sozialen Kongresses sind schon vor mehreren Wochen im Buch¬
handel erschienen und jedem Grenzbotenleser, der meine Auffassung zu kontrol-
liren Lust hat, zugänglich. Ich muß mich hier auf die Mitteilung weniger
Sätze aus den Reden von drei Männern beschränken, die mir als die ma߬
gebendsten erscheinen, Wendt, Gierke und Adolf Wagner.

Der Theologe Wendt äußerte sich in seinem Schlußwort etwa folgender¬
maßen: Es sei klar, daß sich die das Eigentum betreffenden christlichen Forde¬
rungen ihrer Art nach nicht zu Rechtsordnungen machen ließen. Die christ¬
liche Grundforderung, das Eigentum ganz "in den Dienst der Liebe zu stellen,"
betreffe "innere Gesinnung, die sich nicht kontrolliren und darum auch nicht
rechtsgesetzlich vorschreiben" lasse. Die äußere Anwendung aber, die von
dieser christlichen Grundforderung zu machen sei, müsse je nach deu Ver¬
hältnissen so verschieden sein, daß jeder Versuch, sie durch bestimmte Rechts¬
regeln vorzuschreiben, nur zu einer Fesselung und nicht zur Verwirklichung
der christlichen Liebespflicht führen würde. Die Erkenntnis ferner, daß das
Rechtsgesetz diese Forderungen niemals ganz zum Ausdruck bringen könne,
weise uns auf die "dauernde große Aufgabe hin, die die Kirche neben der
staatlichen Rechtsordnung und im Zusammenwirken mit ihr habe." Die Auf¬
gabe der Kirche sei es, durch die Predigt des Evangeliums, die "christliche
Gesinnung" zu pflanzen und zu fördern, "diese Gesinnung, zu der als der
wesentlichsten das Bewußtsein der absoluten Liebespflicht" gehöre. Wo diese
christliche Gesinnung herrsche, da würden die das Eigentum betreffenden recht¬
lichen Forderungen durch freiwillige Erfüllung der christlichen Liebespflicht
ergänzt werden. "Möchte, so schloß Wendt, unsre evangelische Kirche sich
dieser Aufgabe, wahre evangelische Liebespflichtgesinnung zu Pflegen und aus-


Evangelisch-sozial

Auch Schmollcrs Mittelstandsrede war ohne jede evangelisch-soziale Bedeutung,
und staatswissenschnftlich neu war an ihr genau genommen nur, daß Schmoller
redete. Beide Vorträge hätten unterbleiben können, ohne daß der evangelisch-
soziale Wert der Verhandlungen im geringsten gelitten hätte. Aber was bleibt
dann überhaupt noch übrig? Die Presse hat sich doch nur mit Oldenbergs
und Schmollers Vortrügen beschäftigt. Wendes Vortrag und die auf ihn
folgenden Verhandlungen „über das Eigentum nach christlicher Beurteilung"
sind doch noch von niemand als etwas bedeutendes genannt worden. Sie
wären vielleicht ganz unerwähnt geblieben ohne die Bocksprünge, die Nciumciun
dabei zum besten gab. Aber trotz alledem, trotz des recht unglücklich gewählten
Themas und trotz des geringen Gehalts der aufgestellten und beschlossenen
Leitsätze an neuer Belehrung für Theorie und Praxis haben gerade die Ver¬
handlungen über dieses Thema ein sehr wichtiges Ergebnis gehabt, indem
sie Meinungsäußerungen von berufner Seite veranlaßten, ich möchte fast sagen:
erzwangen, die wohl geeignet sind, der evangelisch-sozialen Bewegung endlich
die Wege zu weisen, die ihrem Wesen entsprechen. Die Verhandlungen des
achten Evangelisch-sozialen Kongresses sind schon vor mehreren Wochen im Buch¬
handel erschienen und jedem Grenzbotenleser, der meine Auffassung zu kontrol-
liren Lust hat, zugänglich. Ich muß mich hier auf die Mitteilung weniger
Sätze aus den Reden von drei Männern beschränken, die mir als die ma߬
gebendsten erscheinen, Wendt, Gierke und Adolf Wagner.

Der Theologe Wendt äußerte sich in seinem Schlußwort etwa folgender¬
maßen: Es sei klar, daß sich die das Eigentum betreffenden christlichen Forde¬
rungen ihrer Art nach nicht zu Rechtsordnungen machen ließen. Die christ¬
liche Grundforderung, das Eigentum ganz „in den Dienst der Liebe zu stellen,"
betreffe „innere Gesinnung, die sich nicht kontrolliren und darum auch nicht
rechtsgesetzlich vorschreiben" lasse. Die äußere Anwendung aber, die von
dieser christlichen Grundforderung zu machen sei, müsse je nach deu Ver¬
hältnissen so verschieden sein, daß jeder Versuch, sie durch bestimmte Rechts¬
regeln vorzuschreiben, nur zu einer Fesselung und nicht zur Verwirklichung
der christlichen Liebespflicht führen würde. Die Erkenntnis ferner, daß das
Rechtsgesetz diese Forderungen niemals ganz zum Ausdruck bringen könne,
weise uns auf die „dauernde große Aufgabe hin, die die Kirche neben der
staatlichen Rechtsordnung und im Zusammenwirken mit ihr habe." Die Auf¬
gabe der Kirche sei es, durch die Predigt des Evangeliums, die „christliche
Gesinnung" zu pflanzen und zu fördern, „diese Gesinnung, zu der als der
wesentlichsten das Bewußtsein der absoluten Liebespflicht" gehöre. Wo diese
christliche Gesinnung herrsche, da würden die das Eigentum betreffenden recht¬
lichen Forderungen durch freiwillige Erfüllung der christlichen Liebespflicht
ergänzt werden. „Möchte, so schloß Wendt, unsre evangelische Kirche sich
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[0442] Evangelisch-sozial Auch Schmollcrs Mittelstandsrede war ohne jede evangelisch-soziale Bedeutung, und staatswissenschnftlich neu war an ihr genau genommen nur, daß Schmoller redete. Beide Vorträge hätten unterbleiben können, ohne daß der evangelisch- soziale Wert der Verhandlungen im geringsten gelitten hätte. Aber was bleibt dann überhaupt noch übrig? Die Presse hat sich doch nur mit Oldenbergs und Schmollers Vortrügen beschäftigt. Wendes Vortrag und die auf ihn folgenden Verhandlungen „über das Eigentum nach christlicher Beurteilung" sind doch noch von niemand als etwas bedeutendes genannt worden. Sie wären vielleicht ganz unerwähnt geblieben ohne die Bocksprünge, die Nciumciun dabei zum besten gab. Aber trotz alledem, trotz des recht unglücklich gewählten Themas und trotz des geringen Gehalts der aufgestellten und beschlossenen Leitsätze an neuer Belehrung für Theorie und Praxis haben gerade die Ver¬ handlungen über dieses Thema ein sehr wichtiges Ergebnis gehabt, indem sie Meinungsäußerungen von berufner Seite veranlaßten, ich möchte fast sagen: erzwangen, die wohl geeignet sind, der evangelisch-sozialen Bewegung endlich die Wege zu weisen, die ihrem Wesen entsprechen. Die Verhandlungen des achten Evangelisch-sozialen Kongresses sind schon vor mehreren Wochen im Buch¬ handel erschienen und jedem Grenzbotenleser, der meine Auffassung zu kontrol- liren Lust hat, zugänglich. Ich muß mich hier auf die Mitteilung weniger Sätze aus den Reden von drei Männern beschränken, die mir als die ma߬ gebendsten erscheinen, Wendt, Gierke und Adolf Wagner. Der Theologe Wendt äußerte sich in seinem Schlußwort etwa folgender¬ maßen: Es sei klar, daß sich die das Eigentum betreffenden christlichen Forde¬ rungen ihrer Art nach nicht zu Rechtsordnungen machen ließen. Die christ¬ liche Grundforderung, das Eigentum ganz „in den Dienst der Liebe zu stellen," betreffe „innere Gesinnung, die sich nicht kontrolliren und darum auch nicht rechtsgesetzlich vorschreiben" lasse. Die äußere Anwendung aber, die von dieser christlichen Grundforderung zu machen sei, müsse je nach deu Ver¬ hältnissen so verschieden sein, daß jeder Versuch, sie durch bestimmte Rechts¬ regeln vorzuschreiben, nur zu einer Fesselung und nicht zur Verwirklichung der christlichen Liebespflicht führen würde. Die Erkenntnis ferner, daß das Rechtsgesetz diese Forderungen niemals ganz zum Ausdruck bringen könne, weise uns auf die „dauernde große Aufgabe hin, die die Kirche neben der staatlichen Rechtsordnung und im Zusammenwirken mit ihr habe." Die Auf¬ gabe der Kirche sei es, durch die Predigt des Evangeliums, die „christliche Gesinnung" zu pflanzen und zu fördern, „diese Gesinnung, zu der als der wesentlichsten das Bewußtsein der absoluten Liebespflicht" gehöre. Wo diese christliche Gesinnung herrsche, da würden die das Eigentum betreffenden recht¬ lichen Forderungen durch freiwillige Erfüllung der christlichen Liebespflicht ergänzt werden. „Möchte, so schloß Wendt, unsre evangelische Kirche sich dieser Aufgabe, wahre evangelische Liebespflichtgesinnung zu Pflegen und aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/442>, abgerufen am 24.07.2024.