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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

die Jugend, noch etwas weiter die Rede sein; Beschränkung auf gewisse Haupt¬
züge wird dabei freilich nötig sein. Es ward eben das Wort "animalisch"
gebraucht und damit die Naturbestimmtheit, die Abhängigkeit des Lebens von
den Einwirkungen fester natürlicher Gesetze angedeutet. Das stark von der
Natur bestimmte Leben fällt selbstverständlich keineswegs zusammen mit einem
offnen Sinn für die Natur, der Pflegt erst zu erwachen, wo sich das Leben
von der Natur abgelöst hat. Freilich sind die Gesetze der Natur dem Volke
wichtig genug und sehr vertraut, da sie gewissermaßen sein persönliches Schicksal
bilden, wie beim Lcindmcmn, Winzer, Hirten, beim Seemann, Jäger und Fischer;
und so weit wird denn auch eine sichere und oft feine Kenntnis der Erschei¬
nungen erworben und vererbt. Aber jene uneigennützige, rein gefühlsmäßige
und meist ästhetische Beobachtung, Würdigung, genußvolle Aufnahme der Natur
ist dem Volke im allgemeinen fremd. Vom Schwürinen für Naturschönheiten
ist es ganz und gar entfernt. Die Natur ist ihm wie die Luft, die mau atmet,
ohne ihres Wesens zu achten. Das Grün, das in seinen mannichfachen Ab¬
stufungen und Spielarten unser Auge entzückt, ist dem Landmann kaum eine
Farbe, es sagt ihm etwas ganz andres, als daß es als bloße Farbe zu ihm
spräche. (Vielfach fehlt dem Landvolk geradezu eine sprachliche Bezeichnung
dieser Farbe!) Und auch dem Volk der Städte, dem in geschlossenen Räumen
arbeitenden, ist die Natur zwar etwas andres als den Landleuten, nämlich die
Gelegenheit zu freierer Bewegung, zum Ausblick aus der Enge ins Weite,
aber doch nicht wesentlich mehr; eintönig strenge Arbeit zumal weckt vielmehr
die Begierde uach freiem, vollem Sinnengenuß als nach der stillen Hingebung
an die Natur; es bilden sich dasür keine Organe. Die erste ästhetisch gefärbte
Aufmerksamkeit auf die Natur weckt nicht ein schön sich gruppirendes Land¬
schaftsbild, eine liebliche Gegend, auch nicht einmal das an sich Gewaltige,
sondern sozusagen Kuriositäten, seltsame Bildungen der Natur, eine schroffe
Bergwand, ein jäher Wasserfall, eine sich fast zusammenschließende enge Fels¬
schlucht; von diesen erzählt man sich, man staunt sie an, und sie bilden die
am frühesten bekannten Anziehungspunkte auch für die Wandrer von weit her.
Selbst in der Schweiz hat man lange Zeit gerade solche Raritäten gepriesen
und aufgesucht und hat erst nach und uach empfunden, wie herrlich schön das
Land im ganzen und überall ist. Wert erhält die Naturumgebung für den
Menschen aus dem Volke erst, wenn er sich von ihr lösen soll oder gelöst hat.
Das Heimweh ist eine ganz andre Macht in der Seele der einfachen Menschen
als bei den Gebildeten,*) innerlich Unabhängigen, wie es übrigens ja selbst
in der Tierwelt in allerlei Formen eine wichtige Rolle spielt.



Das; man dort eine uns Gebildeten kaum merkbare Wesensverschiedenheit (der Sprache,
des Aussehens usw.) schon als volle Fremdheit empfindet und ihr mit spröder Verschlossenheit
gegenübersteht, also etwa den Leuten aus einem etwas entfernten Dorfe, den Kindern einer
fremden Familie, mag hier wenigstens Erwähnung finden.
Volk und Jugend

die Jugend, noch etwas weiter die Rede sein; Beschränkung auf gewisse Haupt¬
züge wird dabei freilich nötig sein. Es ward eben das Wort „animalisch"
gebraucht und damit die Naturbestimmtheit, die Abhängigkeit des Lebens von
den Einwirkungen fester natürlicher Gesetze angedeutet. Das stark von der
Natur bestimmte Leben fällt selbstverständlich keineswegs zusammen mit einem
offnen Sinn für die Natur, der Pflegt erst zu erwachen, wo sich das Leben
von der Natur abgelöst hat. Freilich sind die Gesetze der Natur dem Volke
wichtig genug und sehr vertraut, da sie gewissermaßen sein persönliches Schicksal
bilden, wie beim Lcindmcmn, Winzer, Hirten, beim Seemann, Jäger und Fischer;
und so weit wird denn auch eine sichere und oft feine Kenntnis der Erschei¬
nungen erworben und vererbt. Aber jene uneigennützige, rein gefühlsmäßige
und meist ästhetische Beobachtung, Würdigung, genußvolle Aufnahme der Natur
ist dem Volke im allgemeinen fremd. Vom Schwürinen für Naturschönheiten
ist es ganz und gar entfernt. Die Natur ist ihm wie die Luft, die mau atmet,
ohne ihres Wesens zu achten. Das Grün, das in seinen mannichfachen Ab¬
stufungen und Spielarten unser Auge entzückt, ist dem Landmann kaum eine
Farbe, es sagt ihm etwas ganz andres, als daß es als bloße Farbe zu ihm
spräche. (Vielfach fehlt dem Landvolk geradezu eine sprachliche Bezeichnung
dieser Farbe!) Und auch dem Volk der Städte, dem in geschlossenen Räumen
arbeitenden, ist die Natur zwar etwas andres als den Landleuten, nämlich die
Gelegenheit zu freierer Bewegung, zum Ausblick aus der Enge ins Weite,
aber doch nicht wesentlich mehr; eintönig strenge Arbeit zumal weckt vielmehr
die Begierde uach freiem, vollem Sinnengenuß als nach der stillen Hingebung
an die Natur; es bilden sich dasür keine Organe. Die erste ästhetisch gefärbte
Aufmerksamkeit auf die Natur weckt nicht ein schön sich gruppirendes Land¬
schaftsbild, eine liebliche Gegend, auch nicht einmal das an sich Gewaltige,
sondern sozusagen Kuriositäten, seltsame Bildungen der Natur, eine schroffe
Bergwand, ein jäher Wasserfall, eine sich fast zusammenschließende enge Fels¬
schlucht; von diesen erzählt man sich, man staunt sie an, und sie bilden die
am frühesten bekannten Anziehungspunkte auch für die Wandrer von weit her.
Selbst in der Schweiz hat man lange Zeit gerade solche Raritäten gepriesen
und aufgesucht und hat erst nach und uach empfunden, wie herrlich schön das
Land im ganzen und überall ist. Wert erhält die Naturumgebung für den
Menschen aus dem Volke erst, wenn er sich von ihr lösen soll oder gelöst hat.
Das Heimweh ist eine ganz andre Macht in der Seele der einfachen Menschen
als bei den Gebildeten,*) innerlich Unabhängigen, wie es übrigens ja selbst
in der Tierwelt in allerlei Formen eine wichtige Rolle spielt.



Das; man dort eine uns Gebildeten kaum merkbare Wesensverschiedenheit (der Sprache,
des Aussehens usw.) schon als volle Fremdheit empfindet und ihr mit spröder Verschlossenheit
gegenübersteht, also etwa den Leuten aus einem etwas entfernten Dorfe, den Kindern einer
fremden Familie, mag hier wenigstens Erwähnung finden.
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[0414] Volk und Jugend die Jugend, noch etwas weiter die Rede sein; Beschränkung auf gewisse Haupt¬ züge wird dabei freilich nötig sein. Es ward eben das Wort „animalisch" gebraucht und damit die Naturbestimmtheit, die Abhängigkeit des Lebens von den Einwirkungen fester natürlicher Gesetze angedeutet. Das stark von der Natur bestimmte Leben fällt selbstverständlich keineswegs zusammen mit einem offnen Sinn für die Natur, der Pflegt erst zu erwachen, wo sich das Leben von der Natur abgelöst hat. Freilich sind die Gesetze der Natur dem Volke wichtig genug und sehr vertraut, da sie gewissermaßen sein persönliches Schicksal bilden, wie beim Lcindmcmn, Winzer, Hirten, beim Seemann, Jäger und Fischer; und so weit wird denn auch eine sichere und oft feine Kenntnis der Erschei¬ nungen erworben und vererbt. Aber jene uneigennützige, rein gefühlsmäßige und meist ästhetische Beobachtung, Würdigung, genußvolle Aufnahme der Natur ist dem Volke im allgemeinen fremd. Vom Schwürinen für Naturschönheiten ist es ganz und gar entfernt. Die Natur ist ihm wie die Luft, die mau atmet, ohne ihres Wesens zu achten. Das Grün, das in seinen mannichfachen Ab¬ stufungen und Spielarten unser Auge entzückt, ist dem Landmann kaum eine Farbe, es sagt ihm etwas ganz andres, als daß es als bloße Farbe zu ihm spräche. (Vielfach fehlt dem Landvolk geradezu eine sprachliche Bezeichnung dieser Farbe!) Und auch dem Volk der Städte, dem in geschlossenen Räumen arbeitenden, ist die Natur zwar etwas andres als den Landleuten, nämlich die Gelegenheit zu freierer Bewegung, zum Ausblick aus der Enge ins Weite, aber doch nicht wesentlich mehr; eintönig strenge Arbeit zumal weckt vielmehr die Begierde uach freiem, vollem Sinnengenuß als nach der stillen Hingebung an die Natur; es bilden sich dasür keine Organe. Die erste ästhetisch gefärbte Aufmerksamkeit auf die Natur weckt nicht ein schön sich gruppirendes Land¬ schaftsbild, eine liebliche Gegend, auch nicht einmal das an sich Gewaltige, sondern sozusagen Kuriositäten, seltsame Bildungen der Natur, eine schroffe Bergwand, ein jäher Wasserfall, eine sich fast zusammenschließende enge Fels¬ schlucht; von diesen erzählt man sich, man staunt sie an, und sie bilden die am frühesten bekannten Anziehungspunkte auch für die Wandrer von weit her. Selbst in der Schweiz hat man lange Zeit gerade solche Raritäten gepriesen und aufgesucht und hat erst nach und uach empfunden, wie herrlich schön das Land im ganzen und überall ist. Wert erhält die Naturumgebung für den Menschen aus dem Volke erst, wenn er sich von ihr lösen soll oder gelöst hat. Das Heimweh ist eine ganz andre Macht in der Seele der einfachen Menschen als bei den Gebildeten,*) innerlich Unabhängigen, wie es übrigens ja selbst in der Tierwelt in allerlei Formen eine wichtige Rolle spielt. Das; man dort eine uns Gebildeten kaum merkbare Wesensverschiedenheit (der Sprache, des Aussehens usw.) schon als volle Fremdheit empfindet und ihr mit spröder Verschlossenheit gegenübersteht, also etwa den Leuten aus einem etwas entfernten Dorfe, den Kindern einer fremden Familie, mag hier wenigstens Erwähnung finden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/414>, abgerufen am 29.12.2024.