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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

verkehrt, da ist es in seiner Sprache durchaus sicher, ähnlich wie die Kinder
in der oben abgegrenzten zweiten Periode, wo das Sprechen für sie keine Auf¬
gabe mehr bildet, sondern nur eine natürliche Lebensäußerung neben andern
ist, wo ihnen für ihren Bedarf alles nötige zur Verfügung steht und sie sich
der Gestaltung ihrer Rede gar nicht bewußt werden, sast so wenig wie die
Vögel ihrer natürlichen Singweise. Mit eben solcher Sicherheit tauscht das
Volk seine Rede; ein Suchen und Wühlen des Ausdrucks für den einzelnen
Fall, wie es den Gebildeten so oft vorkommt und gerade den selbständig
Denkenden vielleicht am allermeisten, findet dort kaum statt, es sei denn, daß man
sich verstellen, andre überreden oder übervorteilen will, wo also vielmehr die
Rolle gewühlt wird als der Gedankenausdruck. Auch sind es keineswegs bloß
die einzelnen Worte, auch nicht einmal bloß die Wortverbindungen, sondern
die vollständigen Sätze, die man ständig wiederholt, und das Bedürfnis eines
gewissen Wechsels darin liegt nicht vor. Die Landleute grüßen sich bei ihrer
Feldarbeit oder auf dem Wege dazu jahraus jahrein mit denselben Fragen und
Bemerkungen, und ähnlich andre in ihrer Lage; und wie sollten sie davor
zurückscheuen, da ihnen diese nur eine Lebensberührung bedeuten, nicht einen
Gedankenausdruck, wie sollten sie sich schämen, da sie gar nichts besondres
und eignes geben wollen! Aber fest wie sie sind in ihren Redewendungen,
so find diese Redewendungen auch nicht Phrasen, nicht die Phrasen der höhern
Stände, die dort eine so große Rolle spielen, fast ebenso mechanisch angewandt
werden wie die Wendungen der Volksrede, und dabei doch den Anspruch er¬
heben, einen wirklichen und einen eignen und womöglich edeln Gefühlsinhalt
auszudrücken. Jene Festigkeit und Gleichmäßigkeit gilt dann weiterhin nament¬
lich auch und vielleicht am allermeisten für die Betonung. Wenn sich bei den
Kindern bestimmte Betonung oder Modulation immer wieder von selbst ein¬
stellt, weil sie aus der Natur der kindlichen Seele hervorwächst und in der
That auch den Kindern verschiedner Nationen wesentlich gemeinsam ist, so er¬
hält sich beim Volke die Betvnungsweise, die Satzmodnlation -- zusammen
mit der Aussprache der Laute -- innerhalb derselben Landschaft oder doch der¬
selben Stadt durch Übertragung und macht die zur Gegend gehörigen leicht
und dauernd kenntlich. In dieser Hinsicht macht sich auch ein Hinausstreben
einzelner über die Sphäre der Volksgebundenheit hinaus weit weniger fühlbar
als in Beziehung auf die Wortwahl, den Wortschatz und die grammatische
Nichtigkeit, und selbst solche, die, aus dem Volke stammend, durch Studien und
Lebensbeziehungen vollständig in die gebildete Welt eingegangen sind, Pflegen
wenigstens die Satzmodulation ihres heimatlichen Nestes zu behalten, denn
diese Modulation ist gewissermaßen animalischer, ist unbewußter als der Wort¬
gebrauch und selbst die Lautbildung.

In der Sprache mischt sich der Ausdruck des Gedanken- und Gefühlslebens.
Von dem Gefühlsleben des Volkes soll, natürlich wieder unter Hinblick auf


Volk und Jugend

verkehrt, da ist es in seiner Sprache durchaus sicher, ähnlich wie die Kinder
in der oben abgegrenzten zweiten Periode, wo das Sprechen für sie keine Auf¬
gabe mehr bildet, sondern nur eine natürliche Lebensäußerung neben andern
ist, wo ihnen für ihren Bedarf alles nötige zur Verfügung steht und sie sich
der Gestaltung ihrer Rede gar nicht bewußt werden, sast so wenig wie die
Vögel ihrer natürlichen Singweise. Mit eben solcher Sicherheit tauscht das
Volk seine Rede; ein Suchen und Wühlen des Ausdrucks für den einzelnen
Fall, wie es den Gebildeten so oft vorkommt und gerade den selbständig
Denkenden vielleicht am allermeisten, findet dort kaum statt, es sei denn, daß man
sich verstellen, andre überreden oder übervorteilen will, wo also vielmehr die
Rolle gewühlt wird als der Gedankenausdruck. Auch sind es keineswegs bloß
die einzelnen Worte, auch nicht einmal bloß die Wortverbindungen, sondern
die vollständigen Sätze, die man ständig wiederholt, und das Bedürfnis eines
gewissen Wechsels darin liegt nicht vor. Die Landleute grüßen sich bei ihrer
Feldarbeit oder auf dem Wege dazu jahraus jahrein mit denselben Fragen und
Bemerkungen, und ähnlich andre in ihrer Lage; und wie sollten sie davor
zurückscheuen, da ihnen diese nur eine Lebensberührung bedeuten, nicht einen
Gedankenausdruck, wie sollten sie sich schämen, da sie gar nichts besondres
und eignes geben wollen! Aber fest wie sie sind in ihren Redewendungen,
so find diese Redewendungen auch nicht Phrasen, nicht die Phrasen der höhern
Stände, die dort eine so große Rolle spielen, fast ebenso mechanisch angewandt
werden wie die Wendungen der Volksrede, und dabei doch den Anspruch er¬
heben, einen wirklichen und einen eignen und womöglich edeln Gefühlsinhalt
auszudrücken. Jene Festigkeit und Gleichmäßigkeit gilt dann weiterhin nament¬
lich auch und vielleicht am allermeisten für die Betonung. Wenn sich bei den
Kindern bestimmte Betonung oder Modulation immer wieder von selbst ein¬
stellt, weil sie aus der Natur der kindlichen Seele hervorwächst und in der
That auch den Kindern verschiedner Nationen wesentlich gemeinsam ist, so er¬
hält sich beim Volke die Betvnungsweise, die Satzmodnlation — zusammen
mit der Aussprache der Laute — innerhalb derselben Landschaft oder doch der¬
selben Stadt durch Übertragung und macht die zur Gegend gehörigen leicht
und dauernd kenntlich. In dieser Hinsicht macht sich auch ein Hinausstreben
einzelner über die Sphäre der Volksgebundenheit hinaus weit weniger fühlbar
als in Beziehung auf die Wortwahl, den Wortschatz und die grammatische
Nichtigkeit, und selbst solche, die, aus dem Volke stammend, durch Studien und
Lebensbeziehungen vollständig in die gebildete Welt eingegangen sind, Pflegen
wenigstens die Satzmodulation ihres heimatlichen Nestes zu behalten, denn
diese Modulation ist gewissermaßen animalischer, ist unbewußter als der Wort¬
gebrauch und selbst die Lautbildung.

In der Sprache mischt sich der Ausdruck des Gedanken- und Gefühlslebens.
Von dem Gefühlsleben des Volkes soll, natürlich wieder unter Hinblick auf


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[0413] Volk und Jugend verkehrt, da ist es in seiner Sprache durchaus sicher, ähnlich wie die Kinder in der oben abgegrenzten zweiten Periode, wo das Sprechen für sie keine Auf¬ gabe mehr bildet, sondern nur eine natürliche Lebensäußerung neben andern ist, wo ihnen für ihren Bedarf alles nötige zur Verfügung steht und sie sich der Gestaltung ihrer Rede gar nicht bewußt werden, sast so wenig wie die Vögel ihrer natürlichen Singweise. Mit eben solcher Sicherheit tauscht das Volk seine Rede; ein Suchen und Wühlen des Ausdrucks für den einzelnen Fall, wie es den Gebildeten so oft vorkommt und gerade den selbständig Denkenden vielleicht am allermeisten, findet dort kaum statt, es sei denn, daß man sich verstellen, andre überreden oder übervorteilen will, wo also vielmehr die Rolle gewühlt wird als der Gedankenausdruck. Auch sind es keineswegs bloß die einzelnen Worte, auch nicht einmal bloß die Wortverbindungen, sondern die vollständigen Sätze, die man ständig wiederholt, und das Bedürfnis eines gewissen Wechsels darin liegt nicht vor. Die Landleute grüßen sich bei ihrer Feldarbeit oder auf dem Wege dazu jahraus jahrein mit denselben Fragen und Bemerkungen, und ähnlich andre in ihrer Lage; und wie sollten sie davor zurückscheuen, da ihnen diese nur eine Lebensberührung bedeuten, nicht einen Gedankenausdruck, wie sollten sie sich schämen, da sie gar nichts besondres und eignes geben wollen! Aber fest wie sie sind in ihren Redewendungen, so find diese Redewendungen auch nicht Phrasen, nicht die Phrasen der höhern Stände, die dort eine so große Rolle spielen, fast ebenso mechanisch angewandt werden wie die Wendungen der Volksrede, und dabei doch den Anspruch er¬ heben, einen wirklichen und einen eignen und womöglich edeln Gefühlsinhalt auszudrücken. Jene Festigkeit und Gleichmäßigkeit gilt dann weiterhin nament¬ lich auch und vielleicht am allermeisten für die Betonung. Wenn sich bei den Kindern bestimmte Betonung oder Modulation immer wieder von selbst ein¬ stellt, weil sie aus der Natur der kindlichen Seele hervorwächst und in der That auch den Kindern verschiedner Nationen wesentlich gemeinsam ist, so er¬ hält sich beim Volke die Betvnungsweise, die Satzmodnlation — zusammen mit der Aussprache der Laute — innerhalb derselben Landschaft oder doch der¬ selben Stadt durch Übertragung und macht die zur Gegend gehörigen leicht und dauernd kenntlich. In dieser Hinsicht macht sich auch ein Hinausstreben einzelner über die Sphäre der Volksgebundenheit hinaus weit weniger fühlbar als in Beziehung auf die Wortwahl, den Wortschatz und die grammatische Nichtigkeit, und selbst solche, die, aus dem Volke stammend, durch Studien und Lebensbeziehungen vollständig in die gebildete Welt eingegangen sind, Pflegen wenigstens die Satzmodulation ihres heimatlichen Nestes zu behalten, denn diese Modulation ist gewissermaßen animalischer, ist unbewußter als der Wort¬ gebrauch und selbst die Lautbildung. In der Sprache mischt sich der Ausdruck des Gedanken- und Gefühlslebens. Von dem Gefühlsleben des Volkes soll, natürlich wieder unter Hinblick auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/413>, abgerufen am 24.07.2024.