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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

Blicken wir nun gleich auch auf die seelische Beziehung zu dieser letzt¬
genannten Welt. Wohl steht das Tier dem Menschen aus dem Volke, so un¬
endlich sich selbst der Unmündigste darüber erhebt, verhältnismäßig näher, und
man versteht sehr wohl die Schilderung von dem traulichen Zusammenleben
arabischer Familien mit ihrem treuen Pferde und ähnliche Mitteilungen. Dem
Volke in unsern Kulturländern ist das Tier zunächst, wie der Boden und der
Pflanzenwuchs, Gegenstand des Nutzens oder Schadens, dienstbar oder feindlich;
man nutzt es aus oder bekämpft es, beides -- und namentlich das erstere --
oft mit großer Herzlosigkeit. Immerhin schleicht sich auch über der aus¬
nutzenden Verwendung vielfach etwas wie Liebe oder wenigstens Wohlgefallen
und Anhänglichkeit in die Herzen, was dann aber nicht bloß gegenüber dem
stattlichen Pferde oder der ergiebigen Kuh und dem stolzen Hahn gilt, sondern
auch dem unästhetischen Schwein und der prosaischen Ziege. Dem Spiel der
Hunde sieht das Volk gern mit ausdauerndem Interesse und einem innigen
Behagen zu, sodaß man sich darüber wundern müßte, wenn nicht wirklich
viel menschenähnliche Regungen und Situationen dabei zum Vorschein kämen,
und wenn nicht -- die Menschen der vornehmern Klasse bekanntlich dieses
Interesse in noch höherm Maße verrieten.

Kinder und Heranwachsende stehen zur Natur ganz ähnlich wie das Volk.
Wenigstens sofern auch sie nicht das Ganze zu sehen, nicht das Schone im
großen aufzunehmen und namentlich nicht dafür um seiner selbst willen zu
schwärmen vermögen. Dieser Sinn entwickelt sich im allgemeinen erst nach
dem zwanzigsten Lebensjahre. Die Natur hat für sie andre Bedeutung. Ein
sich weit und frei hindehnender Raum weckt die Lust zu freier Bewegung, der
dichte Wald lockt zum Durchwandern oder zum Verstecken, die grüne Wiese zum
spielenden Herumkollern, die Pfütze zum Hineinpatschen, der See zum Baden,
der Abhang zum Ersteigen oder zum Herabspringen, der Baum zum Erklettern
und zum Obstschütteln, auch zum Belauschen der Vögel und Aufspüren der
Nester, der weite Höhenausblick zum Erproben des Auges usw. Anders
ists hier mit der Tierwelt, in der die Jugend oder wenigstens die Kinderwelt
auch die nahe verwandten Wesen fühlt, ihr vielfach näher und verständlicher
als die erwachsenen Menschen, in der sie gute Kameraden findet und für ihre
Sinnenbeobachtung unendlichen Stoff, aber gegen die sie andrerseits auch wieder
den innewohnenden Trieb der Grausamkeit walten läßt, wie hier nicht weiter
ausgeführt zu werden braucht.

Daß Volk und Jugend sehr viel gleichmütiger als die gebildete und er¬
wachsene Gesellschaft gegen die Unbilden der Natur sind, gegen Wechsel und
Tücken des Wetters z. B., soll nur im Vorübergehen angeführt werden. Nur
Extreme empfindet man, das Dazwischenliegende macht keinen Eindruck; die
Jugend braucht nicht erst Sonnenschein, um das Leben lebenswert zu finden,
der Regen verbietet ihr das Spiel im Freien nicht, hausender Wind regt sie


Volk und Jugend

Blicken wir nun gleich auch auf die seelische Beziehung zu dieser letzt¬
genannten Welt. Wohl steht das Tier dem Menschen aus dem Volke, so un¬
endlich sich selbst der Unmündigste darüber erhebt, verhältnismäßig näher, und
man versteht sehr wohl die Schilderung von dem traulichen Zusammenleben
arabischer Familien mit ihrem treuen Pferde und ähnliche Mitteilungen. Dem
Volke in unsern Kulturländern ist das Tier zunächst, wie der Boden und der
Pflanzenwuchs, Gegenstand des Nutzens oder Schadens, dienstbar oder feindlich;
man nutzt es aus oder bekämpft es, beides — und namentlich das erstere —
oft mit großer Herzlosigkeit. Immerhin schleicht sich auch über der aus¬
nutzenden Verwendung vielfach etwas wie Liebe oder wenigstens Wohlgefallen
und Anhänglichkeit in die Herzen, was dann aber nicht bloß gegenüber dem
stattlichen Pferde oder der ergiebigen Kuh und dem stolzen Hahn gilt, sondern
auch dem unästhetischen Schwein und der prosaischen Ziege. Dem Spiel der
Hunde sieht das Volk gern mit ausdauerndem Interesse und einem innigen
Behagen zu, sodaß man sich darüber wundern müßte, wenn nicht wirklich
viel menschenähnliche Regungen und Situationen dabei zum Vorschein kämen,
und wenn nicht — die Menschen der vornehmern Klasse bekanntlich dieses
Interesse in noch höherm Maße verrieten.

Kinder und Heranwachsende stehen zur Natur ganz ähnlich wie das Volk.
Wenigstens sofern auch sie nicht das Ganze zu sehen, nicht das Schone im
großen aufzunehmen und namentlich nicht dafür um seiner selbst willen zu
schwärmen vermögen. Dieser Sinn entwickelt sich im allgemeinen erst nach
dem zwanzigsten Lebensjahre. Die Natur hat für sie andre Bedeutung. Ein
sich weit und frei hindehnender Raum weckt die Lust zu freier Bewegung, der
dichte Wald lockt zum Durchwandern oder zum Verstecken, die grüne Wiese zum
spielenden Herumkollern, die Pfütze zum Hineinpatschen, der See zum Baden,
der Abhang zum Ersteigen oder zum Herabspringen, der Baum zum Erklettern
und zum Obstschütteln, auch zum Belauschen der Vögel und Aufspüren der
Nester, der weite Höhenausblick zum Erproben des Auges usw. Anders
ists hier mit der Tierwelt, in der die Jugend oder wenigstens die Kinderwelt
auch die nahe verwandten Wesen fühlt, ihr vielfach näher und verständlicher
als die erwachsenen Menschen, in der sie gute Kameraden findet und für ihre
Sinnenbeobachtung unendlichen Stoff, aber gegen die sie andrerseits auch wieder
den innewohnenden Trieb der Grausamkeit walten läßt, wie hier nicht weiter
ausgeführt zu werden braucht.

Daß Volk und Jugend sehr viel gleichmütiger als die gebildete und er¬
wachsene Gesellschaft gegen die Unbilden der Natur sind, gegen Wechsel und
Tücken des Wetters z. B., soll nur im Vorübergehen angeführt werden. Nur
Extreme empfindet man, das Dazwischenliegende macht keinen Eindruck; die
Jugend braucht nicht erst Sonnenschein, um das Leben lebenswert zu finden,
der Regen verbietet ihr das Spiel im Freien nicht, hausender Wind regt sie


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[0415] Volk und Jugend Blicken wir nun gleich auch auf die seelische Beziehung zu dieser letzt¬ genannten Welt. Wohl steht das Tier dem Menschen aus dem Volke, so un¬ endlich sich selbst der Unmündigste darüber erhebt, verhältnismäßig näher, und man versteht sehr wohl die Schilderung von dem traulichen Zusammenleben arabischer Familien mit ihrem treuen Pferde und ähnliche Mitteilungen. Dem Volke in unsern Kulturländern ist das Tier zunächst, wie der Boden und der Pflanzenwuchs, Gegenstand des Nutzens oder Schadens, dienstbar oder feindlich; man nutzt es aus oder bekämpft es, beides — und namentlich das erstere — oft mit großer Herzlosigkeit. Immerhin schleicht sich auch über der aus¬ nutzenden Verwendung vielfach etwas wie Liebe oder wenigstens Wohlgefallen und Anhänglichkeit in die Herzen, was dann aber nicht bloß gegenüber dem stattlichen Pferde oder der ergiebigen Kuh und dem stolzen Hahn gilt, sondern auch dem unästhetischen Schwein und der prosaischen Ziege. Dem Spiel der Hunde sieht das Volk gern mit ausdauerndem Interesse und einem innigen Behagen zu, sodaß man sich darüber wundern müßte, wenn nicht wirklich viel menschenähnliche Regungen und Situationen dabei zum Vorschein kämen, und wenn nicht — die Menschen der vornehmern Klasse bekanntlich dieses Interesse in noch höherm Maße verrieten. Kinder und Heranwachsende stehen zur Natur ganz ähnlich wie das Volk. Wenigstens sofern auch sie nicht das Ganze zu sehen, nicht das Schone im großen aufzunehmen und namentlich nicht dafür um seiner selbst willen zu schwärmen vermögen. Dieser Sinn entwickelt sich im allgemeinen erst nach dem zwanzigsten Lebensjahre. Die Natur hat für sie andre Bedeutung. Ein sich weit und frei hindehnender Raum weckt die Lust zu freier Bewegung, der dichte Wald lockt zum Durchwandern oder zum Verstecken, die grüne Wiese zum spielenden Herumkollern, die Pfütze zum Hineinpatschen, der See zum Baden, der Abhang zum Ersteigen oder zum Herabspringen, der Baum zum Erklettern und zum Obstschütteln, auch zum Belauschen der Vögel und Aufspüren der Nester, der weite Höhenausblick zum Erproben des Auges usw. Anders ists hier mit der Tierwelt, in der die Jugend oder wenigstens die Kinderwelt auch die nahe verwandten Wesen fühlt, ihr vielfach näher und verständlicher als die erwachsenen Menschen, in der sie gute Kameraden findet und für ihre Sinnenbeobachtung unendlichen Stoff, aber gegen die sie andrerseits auch wieder den innewohnenden Trieb der Grausamkeit walten läßt, wie hier nicht weiter ausgeführt zu werden braucht. Daß Volk und Jugend sehr viel gleichmütiger als die gebildete und er¬ wachsene Gesellschaft gegen die Unbilden der Natur sind, gegen Wechsel und Tücken des Wetters z. B., soll nur im Vorübergehen angeführt werden. Nur Extreme empfindet man, das Dazwischenliegende macht keinen Eindruck; die Jugend braucht nicht erst Sonnenschein, um das Leben lebenswert zu finden, der Regen verbietet ihr das Spiel im Freien nicht, hausender Wind regt sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/415>, abgerufen am 29.12.2024.