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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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"art Otfried Müller

Müllers Tode zwei neue Auflagen erlebte. Beide sind in sorgfältiger Weise
bearbeitet worden von Friedrich Wieseler, der sein langes Leben hingebungs¬
voll wesentlich in den Dienst dieser Aufgabe stellte; eine dritte Auflage blieb
unvollendet. Jetzt, nachdem auch Wieselers Händen die Feder entsunken ist,
ist eine vierte Ausgabe in Vorbereitung.

Es sind hier nur die Hauptwerke Müllers genannt worden, ohne der
Zahlreichen kleinern, zum Teil schon bedeutenden Einzeluntersuchungen Er¬
wähnung zu thun. Mit einem Worte muß aber doch zum Schluß noch sein
letztes, unvollendet gebliebnes Werk erwähnt werden, seine "Geschichte der
griechische" Litteratur."

Die trockne Aufzählung dieser Werke kann freilich nur wenig dazu bei¬
tragen, das Bild des nun Hundertjährigen wieder lebendig zu machen. Darum
soll auch eine Schilderung seiner Persönlichkeit nicht fehlen, die uns aus zwei
Schriften von Friedrich Lücke und Ferdinand Ranke*) so anziehend entgegen¬
tritt. Sein jugendliches Feuer machte sich in Göttingen bald als belebendes
Element geltend. Begeistert lauschten die Studenten dem jungen Professor,
der in wohltönender Rede zu ihnen sprach und den trockensten Gegenstand mit
der Wärme seiner Persönlichkeit zu erfüllen wußte. Willig öffneten ihm auch
die Amtsgenossen ihre Herzen; besonders die jüngern scharten sich bald um
ihn als ihren Führer und Mittelpunkt. In Göttingen sollte ihm auch das
Glück der eignen Häuslichkeit erblühen; nachdem im Jahre 1823 der Fünf¬
undzwanzigjährige zum ordentlichen Professor ernannt worden war, vermählte
er sich im folgenden Jahre mit einer Tochter des Geheimen Justizrath Hugo,
die von Freunden der Familie als eine überaus liebenswürdige, geistig hoch¬
stehende Frau geschildert wird. Ein erlesener Kreis sammelte sich um den
jungen Professor, und das Glück der persönlichen Mitteilung, des Für- und
Widerredens erschien ihm so unentbehrlich, daß er bald nach seiner Be¬
rufung, sowie er etwas heimisch geworden war, einen für seine Art sehr

ezeichnenden Verein gründete: die "Ungründlichen." Diese übermütig scherzhafte
Bezeichnung erregte in den Kreisen des alten, schulmäßig und wohl auch
etwas pedantisch gründlichen Göttingen manches Kopfschütteln. Zu einem
eigentlichen Anstoß ist es aber offenbar nie gekommen, denn es wurde bald

lar, daß die Maske der Ungründlichkeit hier nur die ernsten Spiele und den
Melenden Ernst verdecken sollte, in dem heitere, lebensfreudige Männer ver-
schiedner Wissenschaften Erholung suchten. Müller war, wie erzählt wird,
euier der Heitersten und Lebhaftesten und immer zu Scherz und Frohsinn auf¬
gelegt. Aber mau konnte sich überhaupt auf die Dauer nicht hinter der Maske
der Ungründlichkeit bergen. Wie der Verein der Ungründlichcn jedenfalls der



') Erinnerungen in, Karl Otfried Müller. Von Dr. Friedrich Lücke. Göttingen, 1841. --
>M Otfried Müller, ein Lebensbild, entworfen von Ferdinand Ranke. Berlin, 1870.
«art Otfried Müller

Müllers Tode zwei neue Auflagen erlebte. Beide sind in sorgfältiger Weise
bearbeitet worden von Friedrich Wieseler, der sein langes Leben hingebungs¬
voll wesentlich in den Dienst dieser Aufgabe stellte; eine dritte Auflage blieb
unvollendet. Jetzt, nachdem auch Wieselers Händen die Feder entsunken ist,
ist eine vierte Ausgabe in Vorbereitung.

Es sind hier nur die Hauptwerke Müllers genannt worden, ohne der
Zahlreichen kleinern, zum Teil schon bedeutenden Einzeluntersuchungen Er¬
wähnung zu thun. Mit einem Worte muß aber doch zum Schluß noch sein
letztes, unvollendet gebliebnes Werk erwähnt werden, seine „Geschichte der
griechische» Litteratur."

Die trockne Aufzählung dieser Werke kann freilich nur wenig dazu bei¬
tragen, das Bild des nun Hundertjährigen wieder lebendig zu machen. Darum
soll auch eine Schilderung seiner Persönlichkeit nicht fehlen, die uns aus zwei
Schriften von Friedrich Lücke und Ferdinand Ranke*) so anziehend entgegen¬
tritt. Sein jugendliches Feuer machte sich in Göttingen bald als belebendes
Element geltend. Begeistert lauschten die Studenten dem jungen Professor,
der in wohltönender Rede zu ihnen sprach und den trockensten Gegenstand mit
der Wärme seiner Persönlichkeit zu erfüllen wußte. Willig öffneten ihm auch
die Amtsgenossen ihre Herzen; besonders die jüngern scharten sich bald um
ihn als ihren Führer und Mittelpunkt. In Göttingen sollte ihm auch das
Glück der eignen Häuslichkeit erblühen; nachdem im Jahre 1823 der Fünf¬
undzwanzigjährige zum ordentlichen Professor ernannt worden war, vermählte
er sich im folgenden Jahre mit einer Tochter des Geheimen Justizrath Hugo,
die von Freunden der Familie als eine überaus liebenswürdige, geistig hoch¬
stehende Frau geschildert wird. Ein erlesener Kreis sammelte sich um den
jungen Professor, und das Glück der persönlichen Mitteilung, des Für- und
Widerredens erschien ihm so unentbehrlich, daß er bald nach seiner Be¬
rufung, sowie er etwas heimisch geworden war, einen für seine Art sehr

ezeichnenden Verein gründete: die „Ungründlichen." Diese übermütig scherzhafte
Bezeichnung erregte in den Kreisen des alten, schulmäßig und wohl auch
etwas pedantisch gründlichen Göttingen manches Kopfschütteln. Zu einem
eigentlichen Anstoß ist es aber offenbar nie gekommen, denn es wurde bald

lar, daß die Maske der Ungründlichkeit hier nur die ernsten Spiele und den
Melenden Ernst verdecken sollte, in dem heitere, lebensfreudige Männer ver-
schiedner Wissenschaften Erholung suchten. Müller war, wie erzählt wird,
euier der Heitersten und Lebhaftesten und immer zu Scherz und Frohsinn auf¬
gelegt. Aber mau konnte sich überhaupt auf die Dauer nicht hinter der Maske
der Ungründlichkeit bergen. Wie der Verein der Ungründlichcn jedenfalls der



') Erinnerungen in, Karl Otfried Müller. Von Dr. Friedrich Lücke. Göttingen, 1841. —
>M Otfried Müller, ein Lebensbild, entworfen von Ferdinand Ranke. Berlin, 1870.
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[0383] «art Otfried Müller Müllers Tode zwei neue Auflagen erlebte. Beide sind in sorgfältiger Weise bearbeitet worden von Friedrich Wieseler, der sein langes Leben hingebungs¬ voll wesentlich in den Dienst dieser Aufgabe stellte; eine dritte Auflage blieb unvollendet. Jetzt, nachdem auch Wieselers Händen die Feder entsunken ist, ist eine vierte Ausgabe in Vorbereitung. Es sind hier nur die Hauptwerke Müllers genannt worden, ohne der Zahlreichen kleinern, zum Teil schon bedeutenden Einzeluntersuchungen Er¬ wähnung zu thun. Mit einem Worte muß aber doch zum Schluß noch sein letztes, unvollendet gebliebnes Werk erwähnt werden, seine „Geschichte der griechische» Litteratur." Die trockne Aufzählung dieser Werke kann freilich nur wenig dazu bei¬ tragen, das Bild des nun Hundertjährigen wieder lebendig zu machen. Darum soll auch eine Schilderung seiner Persönlichkeit nicht fehlen, die uns aus zwei Schriften von Friedrich Lücke und Ferdinand Ranke*) so anziehend entgegen¬ tritt. Sein jugendliches Feuer machte sich in Göttingen bald als belebendes Element geltend. Begeistert lauschten die Studenten dem jungen Professor, der in wohltönender Rede zu ihnen sprach und den trockensten Gegenstand mit der Wärme seiner Persönlichkeit zu erfüllen wußte. Willig öffneten ihm auch die Amtsgenossen ihre Herzen; besonders die jüngern scharten sich bald um ihn als ihren Führer und Mittelpunkt. In Göttingen sollte ihm auch das Glück der eignen Häuslichkeit erblühen; nachdem im Jahre 1823 der Fünf¬ undzwanzigjährige zum ordentlichen Professor ernannt worden war, vermählte er sich im folgenden Jahre mit einer Tochter des Geheimen Justizrath Hugo, die von Freunden der Familie als eine überaus liebenswürdige, geistig hoch¬ stehende Frau geschildert wird. Ein erlesener Kreis sammelte sich um den jungen Professor, und das Glück der persönlichen Mitteilung, des Für- und Widerredens erschien ihm so unentbehrlich, daß er bald nach seiner Be¬ rufung, sowie er etwas heimisch geworden war, einen für seine Art sehr ezeichnenden Verein gründete: die „Ungründlichen." Diese übermütig scherzhafte Bezeichnung erregte in den Kreisen des alten, schulmäßig und wohl auch etwas pedantisch gründlichen Göttingen manches Kopfschütteln. Zu einem eigentlichen Anstoß ist es aber offenbar nie gekommen, denn es wurde bald lar, daß die Maske der Ungründlichkeit hier nur die ernsten Spiele und den Melenden Ernst verdecken sollte, in dem heitere, lebensfreudige Männer ver- schiedner Wissenschaften Erholung suchten. Müller war, wie erzählt wird, euier der Heitersten und Lebhaftesten und immer zu Scherz und Frohsinn auf¬ gelegt. Aber mau konnte sich überhaupt auf die Dauer nicht hinter der Maske der Ungründlichkeit bergen. Wie der Verein der Ungründlichcn jedenfalls der ') Erinnerungen in, Karl Otfried Müller. Von Dr. Friedrich Lücke. Göttingen, 1841. — >M Otfried Müller, ein Lebensbild, entworfen von Ferdinand Ranke. Berlin, 1870.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/383>, abgerufen am 29.12.2024.