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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Karl Gtfried Müller

"Gesetzlosen Gesellschaft" der Berliner Universitätskreise nachgebildet war, so
ging er schon nach wenigen Jahren in eine andre Form über, die "Latina,"
die offenbar nach dem Berliner Muster der "Griechheit" geschaffen war. Man
las in der "Latina" gemeinsam lateinische Schriftsteller und besprach im Anschluß
daran schwierige Stellen oder wichtige Fragen der Altertumswissenschaft. Es
waren nicht Philologen, die diesen Verein bildeten, sondern Männer der ver¬
schiedensten Wissenschaften. So war es natürlich, daß Müller als Philolog
eine Art von ständigen Präsidium ausübte, was er mit Nachdruck und Leb¬
haftigkeit that, sodaß ihn Goschen scherzhaft "unsern Tyrannen" nannte. Die
Art, wie er sich dort unter den Freunden bewegte, wird anziehend von Lücke
geschildert. Besonders wohlthuend empfand man bei seinem lebhaften Tem¬
perament die Geduld, mit der er stets die Meinungen der NichtPhilologen
anhörte, die Freude, mit der er jede treffende Bemerkung andrer in den Pro¬
tokollen verzeichnete, und die Selbstbeherrschung, vermöge deren er in der leb¬
haftesten Disputation nie verletzend wurde.

Bei aller Arbeitsamkeit war er kein Stubenhocker; häufig machte er mit
den Freunden Spaziergänge, "fast Sprünge," in die Umgegend. Seine gesunde
Natur haßte die Krankheit und glaubte nicht an die Ärzte. In der Familie
war er ein guter Sohn und Bruder, ein zärtlicher Gatte und Vater. Auch
den Bestrebungen und Gedanken seiner Zeit stand er nicht teilnahmlos gegen¬
über; die neuere deutsche Litteratur, der alternde Goethe und die Romantiker,
wurden eifrig von ihm gelesen. Nur für politische Dinge scheint er geringe
Teilnahme gehabt zu haben. Er hatte mit der Zeit manche Ehre gewonnen,
war Mitglied mehrerer gelehrten Gesellschaften, Direktor der archäologischen
Universitätssammlungen, Hofrat und Professor der Beredsamkeit geworden. Als
solcher hatte er 1837 beim Universitütsjubilänm die Festrede zu halten. In das
Fest hatten schon die Mißtöne des kommenden Staatsstreichs hincingeklungen, der
in Hannover am 1. November 1837 durch Aufhebung des Staatsgrundgcsetzes
erfolgte. Die Antwort darauf war die berühmte Erklärung der Göttinger
Sieben, die zur Folge hatte, daß die Brüder Grimm sowie Dahlmann und
Gervinus des Landes verwiesen wurden. Müller hatte sich an der Erklärung
nicht beteiligt. Erst die Maßregelung der Kollegen rüttelte ihn aus seiner poli¬
tischen Gleichgiltigkeit auf; er erklärte im Verein mit fünf andern Kollegen
seine Übereinstimmung mit den Gemaßregelten. Aber die Regierung wollte
nicht noch mehr Unzufriedenheit erregen und ließ die Erklärung unbeachtet,
die Unterzeichner blieben im Amte. So ging auch diese politische Welle ziemlich
spurlos an ihm vorüber.

So stand er nun auf der Höhe seines Lebens, im Mittelpunkt eines
großen Wirkens, von den Freunden geliebt und geehrt, die Angriffe der Feinde
siegreich abwehrend, im eignen Hause von einer blühenden Familie umgeben.
Und nun gedachte er die Hauptarbeit seines Lebens auszuführen, eine um-


Karl Gtfried Müller

„Gesetzlosen Gesellschaft" der Berliner Universitätskreise nachgebildet war, so
ging er schon nach wenigen Jahren in eine andre Form über, die „Latina,"
die offenbar nach dem Berliner Muster der „Griechheit" geschaffen war. Man
las in der „Latina" gemeinsam lateinische Schriftsteller und besprach im Anschluß
daran schwierige Stellen oder wichtige Fragen der Altertumswissenschaft. Es
waren nicht Philologen, die diesen Verein bildeten, sondern Männer der ver¬
schiedensten Wissenschaften. So war es natürlich, daß Müller als Philolog
eine Art von ständigen Präsidium ausübte, was er mit Nachdruck und Leb¬
haftigkeit that, sodaß ihn Goschen scherzhaft „unsern Tyrannen" nannte. Die
Art, wie er sich dort unter den Freunden bewegte, wird anziehend von Lücke
geschildert. Besonders wohlthuend empfand man bei seinem lebhaften Tem¬
perament die Geduld, mit der er stets die Meinungen der NichtPhilologen
anhörte, die Freude, mit der er jede treffende Bemerkung andrer in den Pro¬
tokollen verzeichnete, und die Selbstbeherrschung, vermöge deren er in der leb¬
haftesten Disputation nie verletzend wurde.

Bei aller Arbeitsamkeit war er kein Stubenhocker; häufig machte er mit
den Freunden Spaziergänge, „fast Sprünge," in die Umgegend. Seine gesunde
Natur haßte die Krankheit und glaubte nicht an die Ärzte. In der Familie
war er ein guter Sohn und Bruder, ein zärtlicher Gatte und Vater. Auch
den Bestrebungen und Gedanken seiner Zeit stand er nicht teilnahmlos gegen¬
über; die neuere deutsche Litteratur, der alternde Goethe und die Romantiker,
wurden eifrig von ihm gelesen. Nur für politische Dinge scheint er geringe
Teilnahme gehabt zu haben. Er hatte mit der Zeit manche Ehre gewonnen,
war Mitglied mehrerer gelehrten Gesellschaften, Direktor der archäologischen
Universitätssammlungen, Hofrat und Professor der Beredsamkeit geworden. Als
solcher hatte er 1837 beim Universitütsjubilänm die Festrede zu halten. In das
Fest hatten schon die Mißtöne des kommenden Staatsstreichs hincingeklungen, der
in Hannover am 1. November 1837 durch Aufhebung des Staatsgrundgcsetzes
erfolgte. Die Antwort darauf war die berühmte Erklärung der Göttinger
Sieben, die zur Folge hatte, daß die Brüder Grimm sowie Dahlmann und
Gervinus des Landes verwiesen wurden. Müller hatte sich an der Erklärung
nicht beteiligt. Erst die Maßregelung der Kollegen rüttelte ihn aus seiner poli¬
tischen Gleichgiltigkeit auf; er erklärte im Verein mit fünf andern Kollegen
seine Übereinstimmung mit den Gemaßregelten. Aber die Regierung wollte
nicht noch mehr Unzufriedenheit erregen und ließ die Erklärung unbeachtet,
die Unterzeichner blieben im Amte. So ging auch diese politische Welle ziemlich
spurlos an ihm vorüber.

So stand er nun auf der Höhe seines Lebens, im Mittelpunkt eines
großen Wirkens, von den Freunden geliebt und geehrt, die Angriffe der Feinde
siegreich abwehrend, im eignen Hause von einer blühenden Familie umgeben.
Und nun gedachte er die Hauptarbeit seines Lebens auszuführen, eine um-


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[0384] Karl Gtfried Müller „Gesetzlosen Gesellschaft" der Berliner Universitätskreise nachgebildet war, so ging er schon nach wenigen Jahren in eine andre Form über, die „Latina," die offenbar nach dem Berliner Muster der „Griechheit" geschaffen war. Man las in der „Latina" gemeinsam lateinische Schriftsteller und besprach im Anschluß daran schwierige Stellen oder wichtige Fragen der Altertumswissenschaft. Es waren nicht Philologen, die diesen Verein bildeten, sondern Männer der ver¬ schiedensten Wissenschaften. So war es natürlich, daß Müller als Philolog eine Art von ständigen Präsidium ausübte, was er mit Nachdruck und Leb¬ haftigkeit that, sodaß ihn Goschen scherzhaft „unsern Tyrannen" nannte. Die Art, wie er sich dort unter den Freunden bewegte, wird anziehend von Lücke geschildert. Besonders wohlthuend empfand man bei seinem lebhaften Tem¬ perament die Geduld, mit der er stets die Meinungen der NichtPhilologen anhörte, die Freude, mit der er jede treffende Bemerkung andrer in den Pro¬ tokollen verzeichnete, und die Selbstbeherrschung, vermöge deren er in der leb¬ haftesten Disputation nie verletzend wurde. Bei aller Arbeitsamkeit war er kein Stubenhocker; häufig machte er mit den Freunden Spaziergänge, „fast Sprünge," in die Umgegend. Seine gesunde Natur haßte die Krankheit und glaubte nicht an die Ärzte. In der Familie war er ein guter Sohn und Bruder, ein zärtlicher Gatte und Vater. Auch den Bestrebungen und Gedanken seiner Zeit stand er nicht teilnahmlos gegen¬ über; die neuere deutsche Litteratur, der alternde Goethe und die Romantiker, wurden eifrig von ihm gelesen. Nur für politische Dinge scheint er geringe Teilnahme gehabt zu haben. Er hatte mit der Zeit manche Ehre gewonnen, war Mitglied mehrerer gelehrten Gesellschaften, Direktor der archäologischen Universitätssammlungen, Hofrat und Professor der Beredsamkeit geworden. Als solcher hatte er 1837 beim Universitütsjubilänm die Festrede zu halten. In das Fest hatten schon die Mißtöne des kommenden Staatsstreichs hincingeklungen, der in Hannover am 1. November 1837 durch Aufhebung des Staatsgrundgcsetzes erfolgte. Die Antwort darauf war die berühmte Erklärung der Göttinger Sieben, die zur Folge hatte, daß die Brüder Grimm sowie Dahlmann und Gervinus des Landes verwiesen wurden. Müller hatte sich an der Erklärung nicht beteiligt. Erst die Maßregelung der Kollegen rüttelte ihn aus seiner poli¬ tischen Gleichgiltigkeit auf; er erklärte im Verein mit fünf andern Kollegen seine Übereinstimmung mit den Gemaßregelten. Aber die Regierung wollte nicht noch mehr Unzufriedenheit erregen und ließ die Erklärung unbeachtet, die Unterzeichner blieben im Amte. So ging auch diese politische Welle ziemlich spurlos an ihm vorüber. So stand er nun auf der Höhe seines Lebens, im Mittelpunkt eines großen Wirkens, von den Freunden geliebt und geehrt, die Angriffe der Feinde siegreich abwehrend, im eignen Hause von einer blühenden Familie umgeben. Und nun gedachte er die Hauptarbeit seines Lebens auszuführen, eine um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/384>, abgerufen am 29.12.2024.