Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Karl Gtfried Müller

von verschiednen Seiten angefochtnen mythologischen Forschungen die "Prole-
gomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie/' gewissermaßen das Programm
und die Begründung eines wissenschaftlichen Hauptgedankens seines Lebens.
Noch einmal wandte er in der nächsten Zeit seine Forschung der Stammes¬
geschichte zu in einer kleinern Schrift über die Makedonier (1825) und dem
Buche über die Etrusker (1828). Das in seiner Eigenart so merkwürdige
Volk der Etrusker mußte einen Gelehrten besonders anziehen, der in der ge¬
schichtlichen Entwicklung die Stnmmesart so stark betonte. Denn kaum bei
einem andern Volke des Altertums tritt der eigentümliche Nationalcharakter in
den hinterlassenen Denkmälern so stark hervor, wie bei den Etruskern, obwohl
eine so wichtige Seite seines Geisteslebens wie die Sprache noch heute nicht mit
Sicherheit erforscht ist. Das Werk Müllers war das erste wirklich wissen¬
schaftliche Werk über die Etrusker und ist auch jetzt noch, in der neuen Be¬
arbeitung von W. Deecke, das Hauptwerk geblieben.

Eine andre Seite wissenschaftlicher Thätigkeit des rastlosen Forschers, die
für die letzte Zeit seines Lebens maßgebend werden und schließlich den tragischen
Abschluß herbeiführen sollte, begann jetzt auch litterarisch hervorzutreten: die
Archäologie der Kunst. Er hatte in Göttingen auch Archäologie zu lehren;
die ersten Versuche, sich in dieses bisher von ihm selbständig nicht betriebne
Gebiet der Altertumswissenschaft einzuarbeiten, machte er bei dem Dresdner
Aufenthalt vor Antritt seiner Göttinger Professur. Ju Göttingen, wo Lehren
und Lernen Hand in Hand gingen, wuchsen ihm die Schwingen der Forschung,
und als Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit dem Gegenstande erschien
1830 das "Handbuch der Archäologie der Kunst," damals einzig'in seiner
Art und noch heute das einzige nennenswerte deutsche Werk dieser Art.")
Unsre Zeit der großartigen Funde und Entdeckungen auf diesem Gebiete
scheint wenig dazu angethan, die abschließende Behandlung in einem Handbuch
rätlich zu machen. Müllers Handbuch umfaßt nicht nur eine Kunstgeschichte des
Altertums, sondern auch die sogenannte Kunstmythologie, d. h. eine Betrachtung
der Vorstellungen der Griechen von ihrer Götterwelt, wie sie sich aus den
Darstellungen auf Kunstwerken ergiebt. Für beides, Kunstgeschichte wie Kunst¬
mythologie, waren bildliche Beigaben wünschenswert. Diese erschienen 1832
unter dem Titel "Denkmäler der alten Kunst" in Form eines Atlas von Kupfer¬
tafeln, die in Umrißzeichnung eine große Zahl von Kunstwerken wiedergeben,
im ersten Teil nach dem kunstgeschichtlichen, im zweiten nach dem mytho¬
logischen Gesichtspunkt geordnet; dazu ein begleitender Text, der zu jedem
einzelnen Kunstwerk die nötigen Erläuterungen und Nachweise gab. Die
Nützlichkeit des Werkes geht am besten aus der Thatsache hervor, daß es nach



") Eine neuerdings erschienene unwürdige Sudelei ist von der Kritik mit dem gebührenden
Hohn und Spott überschüttet worden.
Karl Gtfried Müller

von verschiednen Seiten angefochtnen mythologischen Forschungen die „Prole-
gomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie/' gewissermaßen das Programm
und die Begründung eines wissenschaftlichen Hauptgedankens seines Lebens.
Noch einmal wandte er in der nächsten Zeit seine Forschung der Stammes¬
geschichte zu in einer kleinern Schrift über die Makedonier (1825) und dem
Buche über die Etrusker (1828). Das in seiner Eigenart so merkwürdige
Volk der Etrusker mußte einen Gelehrten besonders anziehen, der in der ge¬
schichtlichen Entwicklung die Stnmmesart so stark betonte. Denn kaum bei
einem andern Volke des Altertums tritt der eigentümliche Nationalcharakter in
den hinterlassenen Denkmälern so stark hervor, wie bei den Etruskern, obwohl
eine so wichtige Seite seines Geisteslebens wie die Sprache noch heute nicht mit
Sicherheit erforscht ist. Das Werk Müllers war das erste wirklich wissen¬
schaftliche Werk über die Etrusker und ist auch jetzt noch, in der neuen Be¬
arbeitung von W. Deecke, das Hauptwerk geblieben.

Eine andre Seite wissenschaftlicher Thätigkeit des rastlosen Forschers, die
für die letzte Zeit seines Lebens maßgebend werden und schließlich den tragischen
Abschluß herbeiführen sollte, begann jetzt auch litterarisch hervorzutreten: die
Archäologie der Kunst. Er hatte in Göttingen auch Archäologie zu lehren;
die ersten Versuche, sich in dieses bisher von ihm selbständig nicht betriebne
Gebiet der Altertumswissenschaft einzuarbeiten, machte er bei dem Dresdner
Aufenthalt vor Antritt seiner Göttinger Professur. Ju Göttingen, wo Lehren
und Lernen Hand in Hand gingen, wuchsen ihm die Schwingen der Forschung,
und als Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit dem Gegenstande erschien
1830 das „Handbuch der Archäologie der Kunst," damals einzig'in seiner
Art und noch heute das einzige nennenswerte deutsche Werk dieser Art.")
Unsre Zeit der großartigen Funde und Entdeckungen auf diesem Gebiete
scheint wenig dazu angethan, die abschließende Behandlung in einem Handbuch
rätlich zu machen. Müllers Handbuch umfaßt nicht nur eine Kunstgeschichte des
Altertums, sondern auch die sogenannte Kunstmythologie, d. h. eine Betrachtung
der Vorstellungen der Griechen von ihrer Götterwelt, wie sie sich aus den
Darstellungen auf Kunstwerken ergiebt. Für beides, Kunstgeschichte wie Kunst¬
mythologie, waren bildliche Beigaben wünschenswert. Diese erschienen 1832
unter dem Titel „Denkmäler der alten Kunst" in Form eines Atlas von Kupfer¬
tafeln, die in Umrißzeichnung eine große Zahl von Kunstwerken wiedergeben,
im ersten Teil nach dem kunstgeschichtlichen, im zweiten nach dem mytho¬
logischen Gesichtspunkt geordnet; dazu ein begleitender Text, der zu jedem
einzelnen Kunstwerk die nötigen Erläuterungen und Nachweise gab. Die
Nützlichkeit des Werkes geht am besten aus der Thatsache hervor, daß es nach



") Eine neuerdings erschienene unwürdige Sudelei ist von der Kritik mit dem gebührenden
Hohn und Spott überschüttet worden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0382" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225968"/>
          <fw type="header" place="top"> Karl Gtfried Müller</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_952" prev="#ID_951"> von verschiednen Seiten angefochtnen mythologischen Forschungen die &#x201E;Prole-<lb/>
gomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie/' gewissermaßen das Programm<lb/>
und die Begründung eines wissenschaftlichen Hauptgedankens seines Lebens.<lb/>
Noch einmal wandte er in der nächsten Zeit seine Forschung der Stammes¬<lb/>
geschichte zu in einer kleinern Schrift über die Makedonier (1825) und dem<lb/>
Buche über die Etrusker (1828). Das in seiner Eigenart so merkwürdige<lb/>
Volk der Etrusker mußte einen Gelehrten besonders anziehen, der in der ge¬<lb/>
schichtlichen Entwicklung die Stnmmesart so stark betonte. Denn kaum bei<lb/>
einem andern Volke des Altertums tritt der eigentümliche Nationalcharakter in<lb/>
den hinterlassenen Denkmälern so stark hervor, wie bei den Etruskern, obwohl<lb/>
eine so wichtige Seite seines Geisteslebens wie die Sprache noch heute nicht mit<lb/>
Sicherheit erforscht ist. Das Werk Müllers war das erste wirklich wissen¬<lb/>
schaftliche Werk über die Etrusker und ist auch jetzt noch, in der neuen Be¬<lb/>
arbeitung von W. Deecke, das Hauptwerk geblieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_953" next="#ID_954"> Eine andre Seite wissenschaftlicher Thätigkeit des rastlosen Forschers, die<lb/>
für die letzte Zeit seines Lebens maßgebend werden und schließlich den tragischen<lb/>
Abschluß herbeiführen sollte, begann jetzt auch litterarisch hervorzutreten: die<lb/>
Archäologie der Kunst. Er hatte in Göttingen auch Archäologie zu lehren;<lb/>
die ersten Versuche, sich in dieses bisher von ihm selbständig nicht betriebne<lb/>
Gebiet der Altertumswissenschaft einzuarbeiten, machte er bei dem Dresdner<lb/>
Aufenthalt vor Antritt seiner Göttinger Professur. Ju Göttingen, wo Lehren<lb/>
und Lernen Hand in Hand gingen, wuchsen ihm die Schwingen der Forschung,<lb/>
und als Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit dem Gegenstande erschien<lb/>
1830 das &#x201E;Handbuch der Archäologie der Kunst," damals einzig'in seiner<lb/>
Art und noch heute das einzige nennenswerte deutsche Werk dieser Art.")<lb/>
Unsre Zeit der großartigen Funde und Entdeckungen auf diesem Gebiete<lb/>
scheint wenig dazu angethan, die abschließende Behandlung in einem Handbuch<lb/>
rätlich zu machen. Müllers Handbuch umfaßt nicht nur eine Kunstgeschichte des<lb/>
Altertums, sondern auch die sogenannte Kunstmythologie, d. h. eine Betrachtung<lb/>
der Vorstellungen der Griechen von ihrer Götterwelt, wie sie sich aus den<lb/>
Darstellungen auf Kunstwerken ergiebt. Für beides, Kunstgeschichte wie Kunst¬<lb/>
mythologie, waren bildliche Beigaben wünschenswert. Diese erschienen 1832<lb/>
unter dem Titel &#x201E;Denkmäler der alten Kunst" in Form eines Atlas von Kupfer¬<lb/>
tafeln, die in Umrißzeichnung eine große Zahl von Kunstwerken wiedergeben,<lb/>
im ersten Teil nach dem kunstgeschichtlichen, im zweiten nach dem mytho¬<lb/>
logischen Gesichtspunkt geordnet; dazu ein begleitender Text, der zu jedem<lb/>
einzelnen Kunstwerk die nötigen Erläuterungen und Nachweise gab. Die<lb/>
Nützlichkeit des Werkes geht am besten aus der Thatsache hervor, daß es nach</p><lb/>
          <note xml:id="FID_27" place="foot"> ") Eine neuerdings erschienene unwürdige Sudelei ist von der Kritik mit dem gebührenden<lb/>
Hohn und Spott überschüttet worden.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0382] Karl Gtfried Müller von verschiednen Seiten angefochtnen mythologischen Forschungen die „Prole- gomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie/' gewissermaßen das Programm und die Begründung eines wissenschaftlichen Hauptgedankens seines Lebens. Noch einmal wandte er in der nächsten Zeit seine Forschung der Stammes¬ geschichte zu in einer kleinern Schrift über die Makedonier (1825) und dem Buche über die Etrusker (1828). Das in seiner Eigenart so merkwürdige Volk der Etrusker mußte einen Gelehrten besonders anziehen, der in der ge¬ schichtlichen Entwicklung die Stnmmesart so stark betonte. Denn kaum bei einem andern Volke des Altertums tritt der eigentümliche Nationalcharakter in den hinterlassenen Denkmälern so stark hervor, wie bei den Etruskern, obwohl eine so wichtige Seite seines Geisteslebens wie die Sprache noch heute nicht mit Sicherheit erforscht ist. Das Werk Müllers war das erste wirklich wissen¬ schaftliche Werk über die Etrusker und ist auch jetzt noch, in der neuen Be¬ arbeitung von W. Deecke, das Hauptwerk geblieben. Eine andre Seite wissenschaftlicher Thätigkeit des rastlosen Forschers, die für die letzte Zeit seines Lebens maßgebend werden und schließlich den tragischen Abschluß herbeiführen sollte, begann jetzt auch litterarisch hervorzutreten: die Archäologie der Kunst. Er hatte in Göttingen auch Archäologie zu lehren; die ersten Versuche, sich in dieses bisher von ihm selbständig nicht betriebne Gebiet der Altertumswissenschaft einzuarbeiten, machte er bei dem Dresdner Aufenthalt vor Antritt seiner Göttinger Professur. Ju Göttingen, wo Lehren und Lernen Hand in Hand gingen, wuchsen ihm die Schwingen der Forschung, und als Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit dem Gegenstande erschien 1830 das „Handbuch der Archäologie der Kunst," damals einzig'in seiner Art und noch heute das einzige nennenswerte deutsche Werk dieser Art.") Unsre Zeit der großartigen Funde und Entdeckungen auf diesem Gebiete scheint wenig dazu angethan, die abschließende Behandlung in einem Handbuch rätlich zu machen. Müllers Handbuch umfaßt nicht nur eine Kunstgeschichte des Altertums, sondern auch die sogenannte Kunstmythologie, d. h. eine Betrachtung der Vorstellungen der Griechen von ihrer Götterwelt, wie sie sich aus den Darstellungen auf Kunstwerken ergiebt. Für beides, Kunstgeschichte wie Kunst¬ mythologie, waren bildliche Beigaben wünschenswert. Diese erschienen 1832 unter dem Titel „Denkmäler der alten Kunst" in Form eines Atlas von Kupfer¬ tafeln, die in Umrißzeichnung eine große Zahl von Kunstwerken wiedergeben, im ersten Teil nach dem kunstgeschichtlichen, im zweiten nach dem mytho¬ logischen Gesichtspunkt geordnet; dazu ein begleitender Text, der zu jedem einzelnen Kunstwerk die nötigen Erläuterungen und Nachweise gab. Die Nützlichkeit des Werkes geht am besten aus der Thatsache hervor, daß es nach ") Eine neuerdings erschienene unwürdige Sudelei ist von der Kritik mit dem gebührenden Hohn und Spott überschüttet worden.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/382
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/382>, abgerufen am 29.12.2024.