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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

so wäre die Gegenwart in unerträglichem Grade bedrückt. Daß man sie zu
leicht abweist, gehört eben zum Wesen, zur Natur des Volkes. Und so haben
wir denn immer wieder die Hände zu ringen über die Gleichgiltigkeit, womit
die Gelegenheiten zur Sicherung von Hab und Gut gegen die Schädigung der
Elemente versäumt werden, oder über den Mangel an haushälterischer Ein¬
teilung, sobald ein großer Vorrat (von Geld, Früchten, Brennmaterial usw.)
da zu sein scheint, um von andern Beispielen zu schweigen. "In den Tag
hinein leben," weil eben der Tag da ist und die einzelnen Stunden und
Minuten sich öffnen und immer Leben bedeuten, das wird der Kindheit ge¬
gönnt, und auch der erwachsenden Jugend, die sich davon noch nicht recht los¬
machen kann, wird es nicht sehr übel genommen; die Zeit bringt für die meisten
andre Gewöhnung. Und auch dem Volke wird man schließlich gönnen müssen,
einigermaßen in den Tag hinein zu leben, weil hinter dem Tage so viel Nacht
ist; aber freilich, die Aufgabe der Erhebung des Volkes über diese Stufe bleibt
darum eine große und dauernde für die, die an seiner Erziehung zu arbeiten
haben, was nicht etwa nur einzelne Beauftragte sind.

Schwerlich ist es übrigens heute noch nötig, der Anschauung zu gedenken,
als ob das Leben des Volkes im ganzen innerlich heiterer sei als das der
höhern Stände. Diese Anschauung machte sich bekanntlich im vorigen Jahr¬
hundert fühlbar, wo man an das idyllische Dasein der einfachen Leute glaubte,
es gern in Dichtung und Musik verherrlichte und für den Druck seines Daseins
kein Auge hatte. Erwähnt wird das hier anch nur um der Parallele mit der
Jugend willen; denn auch die Anschauung vou deren Sorgenfreiheit ist wenigstens
uicht so begründet, wie man anzunehmen oder einander nachzusprechen Pflegt.
Hat sie uicht die Sorgen der Erwachsenen, die zusammenhängenden, weit¬
blickenden, vom Verstände mit genährten, aus den mannichfachsten Lebens-
beziehungen quellenden Sorgen, so ist desto größer die Sorge des Augenblicks,
die Angst vor einer Schwierigkeit oder Gefahr, die Furcht vor einer Strafe,
der Druck einer Pflicht. Sie wird freilich leichter hinweggewischt durch die
Lust des nächsten Augenblicks, aber sie füllt die Seele auch ganz, wenn sie da
ist, die Kräfte zur Überwindung sind noch nicht erstarkt. Wenn Lachen gleich
Glück wäre und Kichern gleich Glückseligkeit, dann wären freilich die Backfische
die beneidenswertesten Menschen.

Auch das Lernen aus der Vergangenheit ist keineswegs so selbstverständlich,
"ne man meinen möchte. Wenn es heißt, daß ein gebranntes Kind das Feuer
scheue, so ist das zwar richtig für den Fall eines wirklich schmerzhaften Brennens,
aber zahlreiche üble Erfahrungen von geringerer Deutlichkeit und Nachhaltigkeit
hinterlassen keine Wirkung. Kein Fall wird ein gesundes Kind von neuem Laufei,,
Nennen und Gleiten abhalten, und selbst elterliche Schläge treiben die mancherlei
kleinen Teufelchen der Unart nicht aus. Und wenn bei den Gebildeten, also
auch zur Selbstbeherrschung und Selbstbesinnung Gebildeten das zunehmende


Volk und Jugend

so wäre die Gegenwart in unerträglichem Grade bedrückt. Daß man sie zu
leicht abweist, gehört eben zum Wesen, zur Natur des Volkes. Und so haben
wir denn immer wieder die Hände zu ringen über die Gleichgiltigkeit, womit
die Gelegenheiten zur Sicherung von Hab und Gut gegen die Schädigung der
Elemente versäumt werden, oder über den Mangel an haushälterischer Ein¬
teilung, sobald ein großer Vorrat (von Geld, Früchten, Brennmaterial usw.)
da zu sein scheint, um von andern Beispielen zu schweigen. „In den Tag
hinein leben," weil eben der Tag da ist und die einzelnen Stunden und
Minuten sich öffnen und immer Leben bedeuten, das wird der Kindheit ge¬
gönnt, und auch der erwachsenden Jugend, die sich davon noch nicht recht los¬
machen kann, wird es nicht sehr übel genommen; die Zeit bringt für die meisten
andre Gewöhnung. Und auch dem Volke wird man schließlich gönnen müssen,
einigermaßen in den Tag hinein zu leben, weil hinter dem Tage so viel Nacht
ist; aber freilich, die Aufgabe der Erhebung des Volkes über diese Stufe bleibt
darum eine große und dauernde für die, die an seiner Erziehung zu arbeiten
haben, was nicht etwa nur einzelne Beauftragte sind.

Schwerlich ist es übrigens heute noch nötig, der Anschauung zu gedenken,
als ob das Leben des Volkes im ganzen innerlich heiterer sei als das der
höhern Stände. Diese Anschauung machte sich bekanntlich im vorigen Jahr¬
hundert fühlbar, wo man an das idyllische Dasein der einfachen Leute glaubte,
es gern in Dichtung und Musik verherrlichte und für den Druck seines Daseins
kein Auge hatte. Erwähnt wird das hier anch nur um der Parallele mit der
Jugend willen; denn auch die Anschauung vou deren Sorgenfreiheit ist wenigstens
uicht so begründet, wie man anzunehmen oder einander nachzusprechen Pflegt.
Hat sie uicht die Sorgen der Erwachsenen, die zusammenhängenden, weit¬
blickenden, vom Verstände mit genährten, aus den mannichfachsten Lebens-
beziehungen quellenden Sorgen, so ist desto größer die Sorge des Augenblicks,
die Angst vor einer Schwierigkeit oder Gefahr, die Furcht vor einer Strafe,
der Druck einer Pflicht. Sie wird freilich leichter hinweggewischt durch die
Lust des nächsten Augenblicks, aber sie füllt die Seele auch ganz, wenn sie da
ist, die Kräfte zur Überwindung sind noch nicht erstarkt. Wenn Lachen gleich
Glück wäre und Kichern gleich Glückseligkeit, dann wären freilich die Backfische
die beneidenswertesten Menschen.

Auch das Lernen aus der Vergangenheit ist keineswegs so selbstverständlich,
"ne man meinen möchte. Wenn es heißt, daß ein gebranntes Kind das Feuer
scheue, so ist das zwar richtig für den Fall eines wirklich schmerzhaften Brennens,
aber zahlreiche üble Erfahrungen von geringerer Deutlichkeit und Nachhaltigkeit
hinterlassen keine Wirkung. Kein Fall wird ein gesundes Kind von neuem Laufei,,
Nennen und Gleiten abhalten, und selbst elterliche Schläge treiben die mancherlei
kleinen Teufelchen der Unart nicht aus. Und wenn bei den Gebildeten, also
auch zur Selbstbeherrschung und Selbstbesinnung Gebildeten das zunehmende


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[0375] Volk und Jugend so wäre die Gegenwart in unerträglichem Grade bedrückt. Daß man sie zu leicht abweist, gehört eben zum Wesen, zur Natur des Volkes. Und so haben wir denn immer wieder die Hände zu ringen über die Gleichgiltigkeit, womit die Gelegenheiten zur Sicherung von Hab und Gut gegen die Schädigung der Elemente versäumt werden, oder über den Mangel an haushälterischer Ein¬ teilung, sobald ein großer Vorrat (von Geld, Früchten, Brennmaterial usw.) da zu sein scheint, um von andern Beispielen zu schweigen. „In den Tag hinein leben," weil eben der Tag da ist und die einzelnen Stunden und Minuten sich öffnen und immer Leben bedeuten, das wird der Kindheit ge¬ gönnt, und auch der erwachsenden Jugend, die sich davon noch nicht recht los¬ machen kann, wird es nicht sehr übel genommen; die Zeit bringt für die meisten andre Gewöhnung. Und auch dem Volke wird man schließlich gönnen müssen, einigermaßen in den Tag hinein zu leben, weil hinter dem Tage so viel Nacht ist; aber freilich, die Aufgabe der Erhebung des Volkes über diese Stufe bleibt darum eine große und dauernde für die, die an seiner Erziehung zu arbeiten haben, was nicht etwa nur einzelne Beauftragte sind. Schwerlich ist es übrigens heute noch nötig, der Anschauung zu gedenken, als ob das Leben des Volkes im ganzen innerlich heiterer sei als das der höhern Stände. Diese Anschauung machte sich bekanntlich im vorigen Jahr¬ hundert fühlbar, wo man an das idyllische Dasein der einfachen Leute glaubte, es gern in Dichtung und Musik verherrlichte und für den Druck seines Daseins kein Auge hatte. Erwähnt wird das hier anch nur um der Parallele mit der Jugend willen; denn auch die Anschauung vou deren Sorgenfreiheit ist wenigstens uicht so begründet, wie man anzunehmen oder einander nachzusprechen Pflegt. Hat sie uicht die Sorgen der Erwachsenen, die zusammenhängenden, weit¬ blickenden, vom Verstände mit genährten, aus den mannichfachsten Lebens- beziehungen quellenden Sorgen, so ist desto größer die Sorge des Augenblicks, die Angst vor einer Schwierigkeit oder Gefahr, die Furcht vor einer Strafe, der Druck einer Pflicht. Sie wird freilich leichter hinweggewischt durch die Lust des nächsten Augenblicks, aber sie füllt die Seele auch ganz, wenn sie da ist, die Kräfte zur Überwindung sind noch nicht erstarkt. Wenn Lachen gleich Glück wäre und Kichern gleich Glückseligkeit, dann wären freilich die Backfische die beneidenswertesten Menschen. Auch das Lernen aus der Vergangenheit ist keineswegs so selbstverständlich, "ne man meinen möchte. Wenn es heißt, daß ein gebranntes Kind das Feuer scheue, so ist das zwar richtig für den Fall eines wirklich schmerzhaften Brennens, aber zahlreiche üble Erfahrungen von geringerer Deutlichkeit und Nachhaltigkeit hinterlassen keine Wirkung. Kein Fall wird ein gesundes Kind von neuem Laufei,, Nennen und Gleiten abhalten, und selbst elterliche Schläge treiben die mancherlei kleinen Teufelchen der Unart nicht aus. Und wenn bei den Gebildeten, also auch zur Selbstbeherrschung und Selbstbesinnung Gebildeten das zunehmende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/375>, abgerufen am 29.12.2024.