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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

Lebensalter mit all seinen Erfahrungen nicht vor großer Thorheit schützt (man
beobachtet z. B. selten, daß nach einer ersten thörichten Heirat die zweite viel
klüger gewesen wäre), so wird es beim Volke noch ein wenig ärger sein dürfen.
Nur davon, wie schlecht die Mitmenschen seien, erhält man dort meist nach
einigen mißlichen Erfahrungen eine feste Meinung und spricht sie gelegentlich
mit tiefem Abscheu und naivem Pharisäismus aus. Im ganzen aber bildet
sich durch die persönliche Erfahrung keineswegs eine besonders feste begriffliche
Erkenntnis aus. Eher erwächst dergleichen allmählich aus dem Erfahrungs¬
leben der Gesamtheit und findet, als sogenanntes Sprichwort geformt und
von Mund zu Mund überliefert, gelegentlich im Bewußtsein des Einzelnen
Widerhall. Nicht als ob alle die in den Schullesebüchern oder sonst zusammen¬
gestellten Sprichwörter wirklich volkstümliche Weisheit bedeuteten und volks¬
tümliches Gewächs wären, und zumal das Volk von heute wird schwerlich
noch neue Gedanken dieser Art ausprägen, da ihm ja einerseits durch die
Herauslösung der Gebildeten die besten Kräfte entzogen sind oder immer
wieder entzogen werden, und andrerseits die Weisheit der Vorzeit schon fertig
eben durch die Schule und die sonstige Berührung mit den Gebildeten über¬
liefert wird. Aber ein Teil wenigstens pflanzt sich wirklich im Volke selbst
fort oder lebt immer neu darin auf; und dabei ist bezeichnend, daß diese Er¬
kenntnisse nicht als allgemeine Gedanken, als Erfahrungen der Menschheit an
sich selbst genommen werden, sondern daß sie der Einzelne vom Einzelnen be¬
zieht und auf eine weitere Vergangenheit nicht zurückführt. "Mein Vater selig
hat immer gesagt," oder: "Da sag ich. wie meine Eltermutter immer sagte,"
oder: "wie unsre alte Nachbarin meinte" -- so pflegt man im Volke Erb¬
weisheit hervorzuholen, und natürlich, sie bleibt durch diese persönliche Über¬
lieferung viel lebendiger oder vielmehr erst wirklich lebendig, im Unterschied
von der Übermittlung durch Schule und Buch, denn das Wort taucht dort
zugleich mit der Situation auf, aus der es entspringt, nicht in abstrakter
Form, in gedachtem oder gemachtem Zusammenhang.

(Fortsetzung folgt)




Volk und Jugend

Lebensalter mit all seinen Erfahrungen nicht vor großer Thorheit schützt (man
beobachtet z. B. selten, daß nach einer ersten thörichten Heirat die zweite viel
klüger gewesen wäre), so wird es beim Volke noch ein wenig ärger sein dürfen.
Nur davon, wie schlecht die Mitmenschen seien, erhält man dort meist nach
einigen mißlichen Erfahrungen eine feste Meinung und spricht sie gelegentlich
mit tiefem Abscheu und naivem Pharisäismus aus. Im ganzen aber bildet
sich durch die persönliche Erfahrung keineswegs eine besonders feste begriffliche
Erkenntnis aus. Eher erwächst dergleichen allmählich aus dem Erfahrungs¬
leben der Gesamtheit und findet, als sogenanntes Sprichwort geformt und
von Mund zu Mund überliefert, gelegentlich im Bewußtsein des Einzelnen
Widerhall. Nicht als ob alle die in den Schullesebüchern oder sonst zusammen¬
gestellten Sprichwörter wirklich volkstümliche Weisheit bedeuteten und volks¬
tümliches Gewächs wären, und zumal das Volk von heute wird schwerlich
noch neue Gedanken dieser Art ausprägen, da ihm ja einerseits durch die
Herauslösung der Gebildeten die besten Kräfte entzogen sind oder immer
wieder entzogen werden, und andrerseits die Weisheit der Vorzeit schon fertig
eben durch die Schule und die sonstige Berührung mit den Gebildeten über¬
liefert wird. Aber ein Teil wenigstens pflanzt sich wirklich im Volke selbst
fort oder lebt immer neu darin auf; und dabei ist bezeichnend, daß diese Er¬
kenntnisse nicht als allgemeine Gedanken, als Erfahrungen der Menschheit an
sich selbst genommen werden, sondern daß sie der Einzelne vom Einzelnen be¬
zieht und auf eine weitere Vergangenheit nicht zurückführt. „Mein Vater selig
hat immer gesagt," oder: „Da sag ich. wie meine Eltermutter immer sagte,"
oder: „wie unsre alte Nachbarin meinte" — so pflegt man im Volke Erb¬
weisheit hervorzuholen, und natürlich, sie bleibt durch diese persönliche Über¬
lieferung viel lebendiger oder vielmehr erst wirklich lebendig, im Unterschied
von der Übermittlung durch Schule und Buch, denn das Wort taucht dort
zugleich mit der Situation auf, aus der es entspringt, nicht in abstrakter
Form, in gedachtem oder gemachtem Zusammenhang.

(Fortsetzung folgt)




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[0376] Volk und Jugend Lebensalter mit all seinen Erfahrungen nicht vor großer Thorheit schützt (man beobachtet z. B. selten, daß nach einer ersten thörichten Heirat die zweite viel klüger gewesen wäre), so wird es beim Volke noch ein wenig ärger sein dürfen. Nur davon, wie schlecht die Mitmenschen seien, erhält man dort meist nach einigen mißlichen Erfahrungen eine feste Meinung und spricht sie gelegentlich mit tiefem Abscheu und naivem Pharisäismus aus. Im ganzen aber bildet sich durch die persönliche Erfahrung keineswegs eine besonders feste begriffliche Erkenntnis aus. Eher erwächst dergleichen allmählich aus dem Erfahrungs¬ leben der Gesamtheit und findet, als sogenanntes Sprichwort geformt und von Mund zu Mund überliefert, gelegentlich im Bewußtsein des Einzelnen Widerhall. Nicht als ob alle die in den Schullesebüchern oder sonst zusammen¬ gestellten Sprichwörter wirklich volkstümliche Weisheit bedeuteten und volks¬ tümliches Gewächs wären, und zumal das Volk von heute wird schwerlich noch neue Gedanken dieser Art ausprägen, da ihm ja einerseits durch die Herauslösung der Gebildeten die besten Kräfte entzogen sind oder immer wieder entzogen werden, und andrerseits die Weisheit der Vorzeit schon fertig eben durch die Schule und die sonstige Berührung mit den Gebildeten über¬ liefert wird. Aber ein Teil wenigstens pflanzt sich wirklich im Volke selbst fort oder lebt immer neu darin auf; und dabei ist bezeichnend, daß diese Er¬ kenntnisse nicht als allgemeine Gedanken, als Erfahrungen der Menschheit an sich selbst genommen werden, sondern daß sie der Einzelne vom Einzelnen be¬ zieht und auf eine weitere Vergangenheit nicht zurückführt. „Mein Vater selig hat immer gesagt," oder: „Da sag ich. wie meine Eltermutter immer sagte," oder: „wie unsre alte Nachbarin meinte" — so pflegt man im Volke Erb¬ weisheit hervorzuholen, und natürlich, sie bleibt durch diese persönliche Über¬ lieferung viel lebendiger oder vielmehr erst wirklich lebendig, im Unterschied von der Übermittlung durch Schule und Buch, denn das Wort taucht dort zugleich mit der Situation auf, aus der es entspringt, nicht in abstrakter Form, in gedachtem oder gemachtem Zusammenhang. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/376>, abgerufen am 29.12.2024.