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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

reifen, sondern etwas ähnliches wie die Pferdefreundschaften des Stalles, von
denen seinerzeit Matthias Claudius an seinen Freund Andres schrieb, nur daß
die Pferde sich nicht so leicht entzweien.

Das Volk bringt es eben, wie die Jugend, nicht zur innern Unabhängig¬
keit. Bald erliegt der Einzelne der Abhängigkeit von der Gesamtheit, mit der
ihn Lebensgemeinschaft verbindet, bald auch der Abhängigkeit von seinen augen¬
blicklichen Eindrücken, bald erliegen viele der von einem überlegnen Menschen.
Für die Jugend ist es ja das Normale, das Wünschenswerte, daß sie in innerer
Abhängigkeit sei von denen, die ihr wirklich Autorität sein können; aber die
Empfänglichkeit für die Autorität irgend eines dreistem Altersgenossen bleibt
immer viel großer. Und so ist das Volk immer in der Gefahr, daß neben
und über den zu seiner Leitung berufnen sich wilde Autoritäten aufwerfen
und Wirkung thun. Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts weiß davon
ein Lied zu singen. Dabei ist immer die Autorität der zum Volke selbst
Gehörenden viel sicherer und wirkungsvoller als die der Jenseitigen, ganz wie
bei dem dreisten Knaben auf dem Spielhof oder dem frühreifen Schulmädchen
unter seinesgleichen. Der aber, der sich nicht leicht von der Menge mitführen
und ziehen läßt, der dazu neigt, einen eignen Standpunkt zu gewinnen, der
strebt eben damit schon aus dem Volke heraus, wenn er sich dessen auch nicht
bewußt ist.

Mit dem Bedürfnis, sich von außen her bestimmen zu lassen, von der
stumpfen Autorität der bloßen Menge oder der Überlieferung, oder von der
wilden und frechen Einzelner, mit der Unfähigkeit also, sich eigentlich selbst zu
bestimmen, ist nahe verwandt die Unfähigkeit oder wenigstens die geringe
Fähigkeit und Neigung, sein eignes Leben durch Verknüpfung von Vergangenheit
und Zukunft verständig zu regeln. Der Kindheit, der Jugend liegt das ja
ganz und gar fern; auf die Zukunft mag sie der Erziehende immer wieder
hinweisen, ihre Sorge, ihr Interesse gilt ganz wesentlich der Gegenwart, und
für die Übeln Seiten der Vergangenheit hat sie ein glückliches Vergessen. Das
ist das natürliche Recht der Jugend, ist mit ihrer Art von Glück eng ver¬
bunden. Wohl träumt sie gern von der Zukunft, aber sie sorgt sich nicht
gern um sie. Für die Menschen aus dem Volke bedeutete es einen ungeheuern
Gewinn, wenn sie lernen wollten, die Vergangenheit recht im Sinne zu be¬
halten und mit der Zukunft ernstlich zu rechnen; aber die es thun, das sind
nur die vereinzelten Besten, Wertvollsten, und sie wirken damit nicht auf einen
großen Kreis, meist nicht einmal auf ihre nächste Umgebung, in der sich oft
der vollste Leichtsinn doch wieder neben der treuesten Sorge und Aufopferung
findet. Freilich wäre es schon erklärlich genug, daß mau nicht ernstlich an
den übernächsten Tag denken mag, erklärlich aus dem Gewicht der Sorge um
deu nächsten Tag, die doch für den größten Teil des Volkes groß genug bleibt;
wollte man dort alle bösen Möglichkeiten der Zukunft wirklich ins Auge fassen,


Volk und Jugend

reifen, sondern etwas ähnliches wie die Pferdefreundschaften des Stalles, von
denen seinerzeit Matthias Claudius an seinen Freund Andres schrieb, nur daß
die Pferde sich nicht so leicht entzweien.

Das Volk bringt es eben, wie die Jugend, nicht zur innern Unabhängig¬
keit. Bald erliegt der Einzelne der Abhängigkeit von der Gesamtheit, mit der
ihn Lebensgemeinschaft verbindet, bald auch der Abhängigkeit von seinen augen¬
blicklichen Eindrücken, bald erliegen viele der von einem überlegnen Menschen.
Für die Jugend ist es ja das Normale, das Wünschenswerte, daß sie in innerer
Abhängigkeit sei von denen, die ihr wirklich Autorität sein können; aber die
Empfänglichkeit für die Autorität irgend eines dreistem Altersgenossen bleibt
immer viel großer. Und so ist das Volk immer in der Gefahr, daß neben
und über den zu seiner Leitung berufnen sich wilde Autoritäten aufwerfen
und Wirkung thun. Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts weiß davon
ein Lied zu singen. Dabei ist immer die Autorität der zum Volke selbst
Gehörenden viel sicherer und wirkungsvoller als die der Jenseitigen, ganz wie
bei dem dreisten Knaben auf dem Spielhof oder dem frühreifen Schulmädchen
unter seinesgleichen. Der aber, der sich nicht leicht von der Menge mitführen
und ziehen läßt, der dazu neigt, einen eignen Standpunkt zu gewinnen, der
strebt eben damit schon aus dem Volke heraus, wenn er sich dessen auch nicht
bewußt ist.

Mit dem Bedürfnis, sich von außen her bestimmen zu lassen, von der
stumpfen Autorität der bloßen Menge oder der Überlieferung, oder von der
wilden und frechen Einzelner, mit der Unfähigkeit also, sich eigentlich selbst zu
bestimmen, ist nahe verwandt die Unfähigkeit oder wenigstens die geringe
Fähigkeit und Neigung, sein eignes Leben durch Verknüpfung von Vergangenheit
und Zukunft verständig zu regeln. Der Kindheit, der Jugend liegt das ja
ganz und gar fern; auf die Zukunft mag sie der Erziehende immer wieder
hinweisen, ihre Sorge, ihr Interesse gilt ganz wesentlich der Gegenwart, und
für die Übeln Seiten der Vergangenheit hat sie ein glückliches Vergessen. Das
ist das natürliche Recht der Jugend, ist mit ihrer Art von Glück eng ver¬
bunden. Wohl träumt sie gern von der Zukunft, aber sie sorgt sich nicht
gern um sie. Für die Menschen aus dem Volke bedeutete es einen ungeheuern
Gewinn, wenn sie lernen wollten, die Vergangenheit recht im Sinne zu be¬
halten und mit der Zukunft ernstlich zu rechnen; aber die es thun, das sind
nur die vereinzelten Besten, Wertvollsten, und sie wirken damit nicht auf einen
großen Kreis, meist nicht einmal auf ihre nächste Umgebung, in der sich oft
der vollste Leichtsinn doch wieder neben der treuesten Sorge und Aufopferung
findet. Freilich wäre es schon erklärlich genug, daß mau nicht ernstlich an
den übernächsten Tag denken mag, erklärlich aus dem Gewicht der Sorge um
deu nächsten Tag, die doch für den größten Teil des Volkes groß genug bleibt;
wollte man dort alle bösen Möglichkeiten der Zukunft wirklich ins Auge fassen,


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[0374] Volk und Jugend reifen, sondern etwas ähnliches wie die Pferdefreundschaften des Stalles, von denen seinerzeit Matthias Claudius an seinen Freund Andres schrieb, nur daß die Pferde sich nicht so leicht entzweien. Das Volk bringt es eben, wie die Jugend, nicht zur innern Unabhängig¬ keit. Bald erliegt der Einzelne der Abhängigkeit von der Gesamtheit, mit der ihn Lebensgemeinschaft verbindet, bald auch der Abhängigkeit von seinen augen¬ blicklichen Eindrücken, bald erliegen viele der von einem überlegnen Menschen. Für die Jugend ist es ja das Normale, das Wünschenswerte, daß sie in innerer Abhängigkeit sei von denen, die ihr wirklich Autorität sein können; aber die Empfänglichkeit für die Autorität irgend eines dreistem Altersgenossen bleibt immer viel großer. Und so ist das Volk immer in der Gefahr, daß neben und über den zu seiner Leitung berufnen sich wilde Autoritäten aufwerfen und Wirkung thun. Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts weiß davon ein Lied zu singen. Dabei ist immer die Autorität der zum Volke selbst Gehörenden viel sicherer und wirkungsvoller als die der Jenseitigen, ganz wie bei dem dreisten Knaben auf dem Spielhof oder dem frühreifen Schulmädchen unter seinesgleichen. Der aber, der sich nicht leicht von der Menge mitführen und ziehen läßt, der dazu neigt, einen eignen Standpunkt zu gewinnen, der strebt eben damit schon aus dem Volke heraus, wenn er sich dessen auch nicht bewußt ist. Mit dem Bedürfnis, sich von außen her bestimmen zu lassen, von der stumpfen Autorität der bloßen Menge oder der Überlieferung, oder von der wilden und frechen Einzelner, mit der Unfähigkeit also, sich eigentlich selbst zu bestimmen, ist nahe verwandt die Unfähigkeit oder wenigstens die geringe Fähigkeit und Neigung, sein eignes Leben durch Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft verständig zu regeln. Der Kindheit, der Jugend liegt das ja ganz und gar fern; auf die Zukunft mag sie der Erziehende immer wieder hinweisen, ihre Sorge, ihr Interesse gilt ganz wesentlich der Gegenwart, und für die Übeln Seiten der Vergangenheit hat sie ein glückliches Vergessen. Das ist das natürliche Recht der Jugend, ist mit ihrer Art von Glück eng ver¬ bunden. Wohl träumt sie gern von der Zukunft, aber sie sorgt sich nicht gern um sie. Für die Menschen aus dem Volke bedeutete es einen ungeheuern Gewinn, wenn sie lernen wollten, die Vergangenheit recht im Sinne zu be¬ halten und mit der Zukunft ernstlich zu rechnen; aber die es thun, das sind nur die vereinzelten Besten, Wertvollsten, und sie wirken damit nicht auf einen großen Kreis, meist nicht einmal auf ihre nächste Umgebung, in der sich oft der vollste Leichtsinn doch wieder neben der treuesten Sorge und Aufopferung findet. Freilich wäre es schon erklärlich genug, daß mau nicht ernstlich an den übernächsten Tag denken mag, erklärlich aus dem Gewicht der Sorge um deu nächsten Tag, die doch für den größten Teil des Volkes groß genug bleibt; wollte man dort alle bösen Möglichkeiten der Zukunft wirklich ins Auge fassen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/374>, abgerufen am 24.07.2024.