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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

vom Standpunkt nicht einer Köchin, aber einer Dirne betrachten würde, konnte
er freilich nicht ahnen. Dirnen sind freilich "interessanter" als Köchinnen und,
wie alles Extreme, auch leichter zu schildern.

Auf den "Ali" folgte eine Reihe "Bilder und Sagen aus der Schweiz,"
auf die ich später, bei den kleinen Erzählungen kommen will. Zugleich mit
diesen "Sagen" wurde die große Erzählung "Geld und Geist" veröffentlicht,
eigentlich zwei leidlich gut verbundne Erzählungen, von denen die erste einen
späten Ehezwist, der durch einen größern Geldverlust des Mannes entsteht,
die zweite eine Liebesgeschichte behandelt. Das Ganze ist, wie Manuel richtig
sagt, "ein Familiengemälde von tiefster Anlage," jedenfalls das reinste und
"poetischste" von Gotthelfs Büchern, wenn man das Zarte, Liebliche und
Rührende vor allem als Poesie ansehen will. Vor allem zeigt sich hier seine
große psychologische Kunst, seine tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens, aber
auch schon eine gewisse, später noch wachsende Neigung des Schriftstellers,
auf Rührung hinzuarbeiten, die im Bunde mit seiner Lust am Predigen den
künstlerischen Wert seiner Werke manchmal stark beeinträchtigt, ohne die aber
der Mann nun einmal nicht denkbar ist. Dabei bietet aber auch "Geld und
Geist" wieder eine Reihe außerordentlich anziehender, von den frühern bei aller
scheinbaren Ähnlichkeit doch grundverschiedner Charaktere, unter denen ich nur
den Dorngrütbauern, die Verkörperung des bäurischen Eigennutzes, hervor¬
heben will. Der Schluß des Werkes ist ganz kurz abgebrochen, auch eine
jetzt wohlbekannte naturalistische Eigenheit, die aber hier leicht zu ver¬
teidigen ist.

Das künstlerisch schwächste aller Werke Gotthelfs, aber stofflich wieder
sehr reich, ist das 1843 und 1844 in zwei Bänden erschienene Buch "Wie
Anne Bahl Jowäger haushaltet, und wie es ihr mit dem Doktvrn geht," ein
Werk, das dem Wunsch der damaligen bernischen Negierung seinen Ursprung
verdankt, Vitzius möge einmal der Kurpfuscherei und dem medizinischen Volks¬
aberglauben zu Leibe gehen, aber wie alle Werke Gotthelfs nicht tendenziös
geblieben, sondern zu wahrer Menschendarstellung durchgedrungen ist. Anne
Buhl Jowäger selbst ist der Typus des Bauernweibes überhaupt und geradezu
meisterlich durchgeführt. "Sie steht mit ihrem ganzen tiefliegenden Wesen,
mit ihrem Eigensinn, mit der merkwürdigen Mischung von Härte und Gut-,
zuneigten, Verstand und Unverstand nnter seinen Bäuerinnen als einzige Figur
da," sagt Manuel -- sicherlich, litterarisch gesehen, aber wer die Bauern kennt,
wird gerade in dieser Gestalt den Typus (der allerdings in neuerer Zeit ver¬
ändert sein mag) nicht verkennen. Auch Anne Bäbis Mann ist sehr gelungen,
ebenso Jakob der Sohn, Sami der Knecht, Muti die Magd, endlich Meieli,
Jakobs Frau, die sich den lieblichen Frauengestalten Gotthelfs anschließt, in
ihrer Armut und Verschämtheit wahrhaft rührend wirkt. Im zweiten Teil
spielt die Erzählung mehr und mehr vom Bauernhaus ins Pfarrhaus hinüber,


Jeremias Gotthelf

vom Standpunkt nicht einer Köchin, aber einer Dirne betrachten würde, konnte
er freilich nicht ahnen. Dirnen sind freilich „interessanter" als Köchinnen und,
wie alles Extreme, auch leichter zu schildern.

Auf den „Ali" folgte eine Reihe „Bilder und Sagen aus der Schweiz,"
auf die ich später, bei den kleinen Erzählungen kommen will. Zugleich mit
diesen „Sagen" wurde die große Erzählung „Geld und Geist" veröffentlicht,
eigentlich zwei leidlich gut verbundne Erzählungen, von denen die erste einen
späten Ehezwist, der durch einen größern Geldverlust des Mannes entsteht,
die zweite eine Liebesgeschichte behandelt. Das Ganze ist, wie Manuel richtig
sagt, „ein Familiengemälde von tiefster Anlage," jedenfalls das reinste und
„poetischste" von Gotthelfs Büchern, wenn man das Zarte, Liebliche und
Rührende vor allem als Poesie ansehen will. Vor allem zeigt sich hier seine
große psychologische Kunst, seine tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens, aber
auch schon eine gewisse, später noch wachsende Neigung des Schriftstellers,
auf Rührung hinzuarbeiten, die im Bunde mit seiner Lust am Predigen den
künstlerischen Wert seiner Werke manchmal stark beeinträchtigt, ohne die aber
der Mann nun einmal nicht denkbar ist. Dabei bietet aber auch „Geld und
Geist" wieder eine Reihe außerordentlich anziehender, von den frühern bei aller
scheinbaren Ähnlichkeit doch grundverschiedner Charaktere, unter denen ich nur
den Dorngrütbauern, die Verkörperung des bäurischen Eigennutzes, hervor¬
heben will. Der Schluß des Werkes ist ganz kurz abgebrochen, auch eine
jetzt wohlbekannte naturalistische Eigenheit, die aber hier leicht zu ver¬
teidigen ist.

Das künstlerisch schwächste aller Werke Gotthelfs, aber stofflich wieder
sehr reich, ist das 1843 und 1844 in zwei Bänden erschienene Buch „Wie
Anne Bahl Jowäger haushaltet, und wie es ihr mit dem Doktvrn geht," ein
Werk, das dem Wunsch der damaligen bernischen Negierung seinen Ursprung
verdankt, Vitzius möge einmal der Kurpfuscherei und dem medizinischen Volks¬
aberglauben zu Leibe gehen, aber wie alle Werke Gotthelfs nicht tendenziös
geblieben, sondern zu wahrer Menschendarstellung durchgedrungen ist. Anne
Buhl Jowäger selbst ist der Typus des Bauernweibes überhaupt und geradezu
meisterlich durchgeführt. „Sie steht mit ihrem ganzen tiefliegenden Wesen,
mit ihrem Eigensinn, mit der merkwürdigen Mischung von Härte und Gut-,
zuneigten, Verstand und Unverstand nnter seinen Bäuerinnen als einzige Figur
da," sagt Manuel — sicherlich, litterarisch gesehen, aber wer die Bauern kennt,
wird gerade in dieser Gestalt den Typus (der allerdings in neuerer Zeit ver¬
ändert sein mag) nicht verkennen. Auch Anne Bäbis Mann ist sehr gelungen,
ebenso Jakob der Sohn, Sami der Knecht, Muti die Magd, endlich Meieli,
Jakobs Frau, die sich den lieblichen Frauengestalten Gotthelfs anschließt, in
ihrer Armut und Verschämtheit wahrhaft rührend wirkt. Im zweiten Teil
spielt die Erzählung mehr und mehr vom Bauernhaus ins Pfarrhaus hinüber,


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[0332] Jeremias Gotthelf vom Standpunkt nicht einer Köchin, aber einer Dirne betrachten würde, konnte er freilich nicht ahnen. Dirnen sind freilich „interessanter" als Köchinnen und, wie alles Extreme, auch leichter zu schildern. Auf den „Ali" folgte eine Reihe „Bilder und Sagen aus der Schweiz," auf die ich später, bei den kleinen Erzählungen kommen will. Zugleich mit diesen „Sagen" wurde die große Erzählung „Geld und Geist" veröffentlicht, eigentlich zwei leidlich gut verbundne Erzählungen, von denen die erste einen späten Ehezwist, der durch einen größern Geldverlust des Mannes entsteht, die zweite eine Liebesgeschichte behandelt. Das Ganze ist, wie Manuel richtig sagt, „ein Familiengemälde von tiefster Anlage," jedenfalls das reinste und „poetischste" von Gotthelfs Büchern, wenn man das Zarte, Liebliche und Rührende vor allem als Poesie ansehen will. Vor allem zeigt sich hier seine große psychologische Kunst, seine tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens, aber auch schon eine gewisse, später noch wachsende Neigung des Schriftstellers, auf Rührung hinzuarbeiten, die im Bunde mit seiner Lust am Predigen den künstlerischen Wert seiner Werke manchmal stark beeinträchtigt, ohne die aber der Mann nun einmal nicht denkbar ist. Dabei bietet aber auch „Geld und Geist" wieder eine Reihe außerordentlich anziehender, von den frühern bei aller scheinbaren Ähnlichkeit doch grundverschiedner Charaktere, unter denen ich nur den Dorngrütbauern, die Verkörperung des bäurischen Eigennutzes, hervor¬ heben will. Der Schluß des Werkes ist ganz kurz abgebrochen, auch eine jetzt wohlbekannte naturalistische Eigenheit, die aber hier leicht zu ver¬ teidigen ist. Das künstlerisch schwächste aller Werke Gotthelfs, aber stofflich wieder sehr reich, ist das 1843 und 1844 in zwei Bänden erschienene Buch „Wie Anne Bahl Jowäger haushaltet, und wie es ihr mit dem Doktvrn geht," ein Werk, das dem Wunsch der damaligen bernischen Negierung seinen Ursprung verdankt, Vitzius möge einmal der Kurpfuscherei und dem medizinischen Volks¬ aberglauben zu Leibe gehen, aber wie alle Werke Gotthelfs nicht tendenziös geblieben, sondern zu wahrer Menschendarstellung durchgedrungen ist. Anne Buhl Jowäger selbst ist der Typus des Bauernweibes überhaupt und geradezu meisterlich durchgeführt. „Sie steht mit ihrem ganzen tiefliegenden Wesen, mit ihrem Eigensinn, mit der merkwürdigen Mischung von Härte und Gut-, zuneigten, Verstand und Unverstand nnter seinen Bäuerinnen als einzige Figur da," sagt Manuel — sicherlich, litterarisch gesehen, aber wer die Bauern kennt, wird gerade in dieser Gestalt den Typus (der allerdings in neuerer Zeit ver¬ ändert sein mag) nicht verkennen. Auch Anne Bäbis Mann ist sehr gelungen, ebenso Jakob der Sohn, Sami der Knecht, Muti die Magd, endlich Meieli, Jakobs Frau, die sich den lieblichen Frauengestalten Gotthelfs anschließt, in ihrer Armut und Verschämtheit wahrhaft rührend wirkt. Im zweiten Teil spielt die Erzählung mehr und mehr vom Bauernhaus ins Pfarrhaus hinüber,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/332>, abgerufen am 24.07.2024.