Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Jeremias Gotthelf Streben und dem Erfolg her und vergaß anch nicht, daß im Menschenleben Jeremias Gotthelf Streben und dem Erfolg her und vergaß anch nicht, daß im Menschenleben <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0331" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225917"/> <fw type="header" place="top"> Jeremias Gotthelf</fw><lb/> <p xml:id="ID_817" prev="#ID_816" next="#ID_818"> Streben und dem Erfolg her und vergaß anch nicht, daß im Menschenleben<lb/> jederzeit das Glück sein Gewicht in die Wagschale werfen kann, wenn er auch<lb/> dieses Glück Gottes Segen nannte. Im allgemeinen trägt „Mi der Knecht"<lb/> einen durchaus heitern Charakter, was zum Teil auch ein Verdienst der Form<lb/> ist, da zwar das Ganze keineswegs komponirt, aber doch jedes Kapitel leidlich<lb/> abgerundet und als geschlossenes Bild hingestellt ist. Dabei bricht die Er¬<lb/> zählung niemals ab, es führen uur oft wenige Sätze über Jahre hinweg. Es<lb/> fehlt nicht an derben Szenen, wie sie der Naturalist, der den ganzen Umfang<lb/> des menschlichen Lebens, hier des derben Banernlebens, zu entrollen hat, nicht<lb/> vermeiden kann. Besonders über die eine Szene, wo zwei eifersüchtige Mägde<lb/> einen großen Mistpfützenkampf ausfechten, ist oft die Nase gerümpft worden;<lb/> sie ist aber durchaus an ihrem richtigen Platze und sticht aus dem Ganzen<lb/> keineswegs unangenehm hervor. Wie die Derbheit, so fehlt auch die natür¬<lb/> liche Poesie des Banernlebens nicht, und um die Gestalt der Vreneli in diesem<lb/> Romane schlingt sie sogar üppige Zweige, ja von da an, wo sich Ali nach<lb/> manchen Irrungen ganz zu Vreneli wendet, ist fast das ganze Werk lautere<lb/> Poesie, ohne daß man einen Abfall vom Naturalismus merkte. Wo hätte ein<lb/> neuerer naturalistischer Dichter etwas geschildert wie das jungfräulichstolze Mi߬<lb/> trauen und Sträuben Vrenelis gegen die Bewerbung Aus? Was ist Gerhart<lb/> Hauptmanns so gefeierte Liebeserklärungsszene in dem Schauspiel „Vor Sonnen¬<lb/> aufgang" gegen die zwischen Ali und Vreneli? Wo wäre je ein Hochzeitstag<lb/> schöner geschildert worden als der dieses Paares? Die wunderbare Gabe<lb/> Gotthelfs, Natur und Mensch auf eine Saite zu stimmen, zeigt sich in diesem<lb/> Roman zuerst vollständig ausgebildet, vor allem erscheint hier aber auch die<lb/> Charakteristik auf ihrer Höhe, und ein mächtiger, weil aus den Menschen<lb/> und Dingen selbst entspringender, nicht in sie hineingetragner Humor. Nicht<lb/> bloß Ali und Vreneli, auch die weniger sympathischen Gestalten des Romans<lb/> sind Prachtleistungen dichterischer Charakteristik, vor allem Vetter Joggeli, seine<lb/> Tochter Elisi und deren späterer Mann, der Vaumwollenfabrikant, der Wirt<lb/> Johannes und seine Trinette. Freilich die Tendenz fehlt bei diesem Werke so<lb/> wenig wie bei den andern, es soll gezeigt werden, daß Fleiß und Treue noch<lb/> zu etwas führen in der Welt. Doch ist nichts Kleinliches darin, die Gesamt¬<lb/> anschauung nicht beschränkt, wie das auch der bei Gelegenheit dieses Romans<lb/> gethane Ausspruch des Dichters zeigt: „Ali ist eigentlich nur das erste Bild<lb/> einer ganzen Reihe. Es ist ein eignes Feld, Dienstboten durch vieler Meister<lb/> Häuser zu führen. In den Memoiren einer Köchin läßt sich das ganze Leben<lb/> einer Bürgerschaft aufrollen." Seine sozialen Bestrebungen hatten Bitzius<lb/> ^ben dazu geführt, die Welt auch einmal vou unten statt von oben anzusehen,<lb/> und zwar nicht im Dienste niedriger Komik, wie das wohl ehedem schon ge¬<lb/> schehen war, sondern bitter ernsthaft — wer wollte leugnen, daß es einmal nötig<lb/> war? Daß noch eine Zeit kommen würde, wo man die Welt ziemlich allgemein</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0331]
Jeremias Gotthelf
Streben und dem Erfolg her und vergaß anch nicht, daß im Menschenleben
jederzeit das Glück sein Gewicht in die Wagschale werfen kann, wenn er auch
dieses Glück Gottes Segen nannte. Im allgemeinen trägt „Mi der Knecht"
einen durchaus heitern Charakter, was zum Teil auch ein Verdienst der Form
ist, da zwar das Ganze keineswegs komponirt, aber doch jedes Kapitel leidlich
abgerundet und als geschlossenes Bild hingestellt ist. Dabei bricht die Er¬
zählung niemals ab, es führen uur oft wenige Sätze über Jahre hinweg. Es
fehlt nicht an derben Szenen, wie sie der Naturalist, der den ganzen Umfang
des menschlichen Lebens, hier des derben Banernlebens, zu entrollen hat, nicht
vermeiden kann. Besonders über die eine Szene, wo zwei eifersüchtige Mägde
einen großen Mistpfützenkampf ausfechten, ist oft die Nase gerümpft worden;
sie ist aber durchaus an ihrem richtigen Platze und sticht aus dem Ganzen
keineswegs unangenehm hervor. Wie die Derbheit, so fehlt auch die natür¬
liche Poesie des Banernlebens nicht, und um die Gestalt der Vreneli in diesem
Romane schlingt sie sogar üppige Zweige, ja von da an, wo sich Ali nach
manchen Irrungen ganz zu Vreneli wendet, ist fast das ganze Werk lautere
Poesie, ohne daß man einen Abfall vom Naturalismus merkte. Wo hätte ein
neuerer naturalistischer Dichter etwas geschildert wie das jungfräulichstolze Mi߬
trauen und Sträuben Vrenelis gegen die Bewerbung Aus? Was ist Gerhart
Hauptmanns so gefeierte Liebeserklärungsszene in dem Schauspiel „Vor Sonnen¬
aufgang" gegen die zwischen Ali und Vreneli? Wo wäre je ein Hochzeitstag
schöner geschildert worden als der dieses Paares? Die wunderbare Gabe
Gotthelfs, Natur und Mensch auf eine Saite zu stimmen, zeigt sich in diesem
Roman zuerst vollständig ausgebildet, vor allem erscheint hier aber auch die
Charakteristik auf ihrer Höhe, und ein mächtiger, weil aus den Menschen
und Dingen selbst entspringender, nicht in sie hineingetragner Humor. Nicht
bloß Ali und Vreneli, auch die weniger sympathischen Gestalten des Romans
sind Prachtleistungen dichterischer Charakteristik, vor allem Vetter Joggeli, seine
Tochter Elisi und deren späterer Mann, der Vaumwollenfabrikant, der Wirt
Johannes und seine Trinette. Freilich die Tendenz fehlt bei diesem Werke so
wenig wie bei den andern, es soll gezeigt werden, daß Fleiß und Treue noch
zu etwas führen in der Welt. Doch ist nichts Kleinliches darin, die Gesamt¬
anschauung nicht beschränkt, wie das auch der bei Gelegenheit dieses Romans
gethane Ausspruch des Dichters zeigt: „Ali ist eigentlich nur das erste Bild
einer ganzen Reihe. Es ist ein eignes Feld, Dienstboten durch vieler Meister
Häuser zu führen. In den Memoiren einer Köchin läßt sich das ganze Leben
einer Bürgerschaft aufrollen." Seine sozialen Bestrebungen hatten Bitzius
^ben dazu geführt, die Welt auch einmal vou unten statt von oben anzusehen,
und zwar nicht im Dienste niedriger Komik, wie das wohl ehedem schon ge¬
schehen war, sondern bitter ernsthaft — wer wollte leugnen, daß es einmal nötig
war? Daß noch eine Zeit kommen würde, wo man die Welt ziemlich allgemein
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