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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

abgesehen sei, gar nicht aufkommen, sie trägt auch nicht den Charakter des
Willkürlichen, den wir bei der minutiösen modernen Manier, wo zuletzt ein
Zug den andern totschlägt, nicht verkennen können, sie leistet, was sie soll,
giebt, von ihrer Tendenz ganz abgesehen, treffende Bilder zur Naturgeschichte
des Menschen, die freilich durchaus düster wirken, auf die aber doch auch die
Kunst, schon im Interesse ihrer Allseitigkeit, nicht verzichten darf, wenn es
auch bedenklich ist, ihnen einen zu breiten Platz einzuräumen.

Einen ähnlichen Stoff wie in den "Fünf Mädchen" behandelte Bitzius
bald darauf in "Dursli, der Branntweinsäufer," wohl dem ersten europäischen
Buche, worin der Zusammenhang zwischen der niedrigsten demagogischen Politik
und der Branntweinkneipe dargestellt wird. Der Wert des Buches beruht
jedoch namentlich auf den gelungner Familienbildern, und dementsprechend ist
auch ein glücklicher Ausgang gegeben. Er wird durch eine nächtliche Vision
des Säufers herbeigeführt, die von der gewaltigen Phantasie Gotthelfs Zeugnis
ablegt. Wenn man will, hat man hier etwas wie eine naturalistische Traum¬
darstellung in der Art von Hauptmanns "Hcumele," sodaß also auch diese
bei ihrem Auftreten als durchaus neu angepriesene Gattung gewissermaßen von
Gotthelf vorweggenommen ist.

Im Jahre 1341 erschien dann "Ali der Knecht," das Werk, das noch
heute unter Gotthelfs Werken das bekannteste ist und für sein Meisterwerk gilt.
Es ist seine erste große Arbeit (denn die "Fünf Mädchen" und der "Dursli"
sind geringern Umfangs), in der die biographische Form aufgegeben und nur
ein Lebensabschnitt des Helden, der freilich noch immer an fünfzehn Jahre
umfaßt, dargestellt ist. Ali, ein Vauernknecht, arbeitet sich unter der Leitung
eines tüchtige" "Meisters" von einem "Hubel," wie der Schweizer sagt, zu
einem tüchtigen Menschen empor, der es zum Schluß ruhig wagen darf, ein
großes Bauerngut zu pachten. Auch in diesem Roman zeigt sich Gotthelf als
Naturalist. Ali, der Knecht, ist nichts weniger als eine ideale Gestalt; zwar
hat er einen guten Grund, aber er ragt weder durch Klugheit noch durch
Willenskraft besonders hervor; Gotthelf macht es ihm auch keineswegs leicht,
etwas zu Werden, er muß gewaltig arbeiten und viel Lehrgeld zahlen, ehe er
Frau und Pachtung bekommt, wie denn Gotthelf sagt, er könne die Wünsch¬
hütlein nicht leiden, durch die die Romanschreiber ihre Helden glücklich zu
machen pflegen. Das eben ist für den echten Naturalisten bezeichnend, daß er
nichts mehr schent, als dem gewöhnlichen Gange des Lebens, wie er sich durch
Erfahrung nach und uach für ihn feststellt, irgendwie Gewalt anzuthun,
während der bloße Realist noch mit dem wirklichen Leben frei schaltet und
waltet. Aber Gotthelfs Naturalismus ging nun auch wieder nicht so weit,
oder vielmehr er hatte nicht die moderne pessimistische Färbung, daß er vor
allem das Dunkle und Widrige dargestellt hätte, sondern der Dichter stellte,
schon seiner gesunden Tendenz wegen, ein natürliches Verhältnis zwischen dem


Jeremias Gotthelf

abgesehen sei, gar nicht aufkommen, sie trägt auch nicht den Charakter des
Willkürlichen, den wir bei der minutiösen modernen Manier, wo zuletzt ein
Zug den andern totschlägt, nicht verkennen können, sie leistet, was sie soll,
giebt, von ihrer Tendenz ganz abgesehen, treffende Bilder zur Naturgeschichte
des Menschen, die freilich durchaus düster wirken, auf die aber doch auch die
Kunst, schon im Interesse ihrer Allseitigkeit, nicht verzichten darf, wenn es
auch bedenklich ist, ihnen einen zu breiten Platz einzuräumen.

Einen ähnlichen Stoff wie in den „Fünf Mädchen" behandelte Bitzius
bald darauf in „Dursli, der Branntweinsäufer," wohl dem ersten europäischen
Buche, worin der Zusammenhang zwischen der niedrigsten demagogischen Politik
und der Branntweinkneipe dargestellt wird. Der Wert des Buches beruht
jedoch namentlich auf den gelungner Familienbildern, und dementsprechend ist
auch ein glücklicher Ausgang gegeben. Er wird durch eine nächtliche Vision
des Säufers herbeigeführt, die von der gewaltigen Phantasie Gotthelfs Zeugnis
ablegt. Wenn man will, hat man hier etwas wie eine naturalistische Traum¬
darstellung in der Art von Hauptmanns „Hcumele," sodaß also auch diese
bei ihrem Auftreten als durchaus neu angepriesene Gattung gewissermaßen von
Gotthelf vorweggenommen ist.

Im Jahre 1341 erschien dann „Ali der Knecht," das Werk, das noch
heute unter Gotthelfs Werken das bekannteste ist und für sein Meisterwerk gilt.
Es ist seine erste große Arbeit (denn die „Fünf Mädchen" und der „Dursli"
sind geringern Umfangs), in der die biographische Form aufgegeben und nur
ein Lebensabschnitt des Helden, der freilich noch immer an fünfzehn Jahre
umfaßt, dargestellt ist. Ali, ein Vauernknecht, arbeitet sich unter der Leitung
eines tüchtige« „Meisters" von einem „Hubel," wie der Schweizer sagt, zu
einem tüchtigen Menschen empor, der es zum Schluß ruhig wagen darf, ein
großes Bauerngut zu pachten. Auch in diesem Roman zeigt sich Gotthelf als
Naturalist. Ali, der Knecht, ist nichts weniger als eine ideale Gestalt; zwar
hat er einen guten Grund, aber er ragt weder durch Klugheit noch durch
Willenskraft besonders hervor; Gotthelf macht es ihm auch keineswegs leicht,
etwas zu Werden, er muß gewaltig arbeiten und viel Lehrgeld zahlen, ehe er
Frau und Pachtung bekommt, wie denn Gotthelf sagt, er könne die Wünsch¬
hütlein nicht leiden, durch die die Romanschreiber ihre Helden glücklich zu
machen pflegen. Das eben ist für den echten Naturalisten bezeichnend, daß er
nichts mehr schent, als dem gewöhnlichen Gange des Lebens, wie er sich durch
Erfahrung nach und uach für ihn feststellt, irgendwie Gewalt anzuthun,
während der bloße Realist noch mit dem wirklichen Leben frei schaltet und
waltet. Aber Gotthelfs Naturalismus ging nun auch wieder nicht so weit,
oder vielmehr er hatte nicht die moderne pessimistische Färbung, daß er vor
allem das Dunkle und Widrige dargestellt hätte, sondern der Dichter stellte,
schon seiner gesunden Tendenz wegen, ein natürliches Verhältnis zwischen dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/330>, abgerufen am 24.07.2024.