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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

Bestrebungen, die sie ja auch verraten, mischen sich bei ihm nicht mit geheimen
Lustgefühlen, es ist wieder die soziale Tendenz und nnr die Tendenz, der
Kampf gegen den Branntwein, was den Schweizer Schriftsteller zu seiner rück¬
haltlosen Darstellung treibt. Diese Darstellung hat nicht die Breite, die die
Modernen im allgemeinen lieben, die schauerlichen Züge sind nicht in dem
Maße gehäuft und ausgemalt wie bei ihnen, überall ist nur das Notwendige
gegeben, aber in lapidarer Weise, und gerade das vertieft vielleicht den Eindruck,
wir spüren nicht die abstumpfende Wirkung, die die Häufung von Widerlich¬
keiten übt, das Grausen bleibt bis zum Schluß der Geschichte lebendig. Und
auch insofern ist Gotthelfs Darstellung ergreifender als das meiste von den
"Modernen," als er die Geschichte der fünf Mädchen, von denen jedes ganz
eigentümliche Züge trügt, bei aller Kürze doch durch alle Stufen verfolgt, alles
erklärt, nirgends richtet, weder die moderne Übertreibung, die jede Dirne zum
Typus machen möchte, noch die modernen Sentimentalitäten einführt. Überall
sehen wir unbedingte Naturnotwendigkeit, die wir z. B. in Gerhart Hauptmanns
"Vor Sonnenaufgang" nirgends zu sehen brauchen. Um von diesem Natu¬
ralismus wenigstens eine Probe zu geben, teile ich die nachfolgenden
Stellen mit:

Das zweite Mädchen hieß Elisabeth und war eine dicke, eingesteckte Gestalt,
die man zu einem SauerlabiSstümvfel füglich hätte brauchen können, unbeholfen
und schwammig. Die Arme waren wie Mäßb'stryche (Maßabstreicheylinder) im
Leibe eingesteckt und sahen verblüfft van den Schultern in die Luft hinaus. Das
Gesicht war rotbrächt (von düsterm, unreinem Rot), glich aber einer Pflaume, welche
eine Grttmplerin (Hökerin) zum Fingerle (Betasten) zurechtlegt, damit ihre Kunden
ihr an den andern Pflaumen den Tau nicht abwischen. Die gemeinste Sinnlichkeit
guckte sogar aus den Nasenlöchern, und die Auge" sahen so klebrig an jedem Burschen
auf, als wenn sie wie Harz sich ihm anschmieren wollten.

Neben den Mädchen hatten sich einige Bursche aufgepflanzt, auch die begannen
An rauhen, und die dicke Elisabeth ruhte nicht, bis mich sie Karten hatte und mit¬
spielen konnte. Da lag das Mensch nun über den Tisch herein, dick und geil, und
u>an wußte nicht, woran es größeres Wohlgefallen hatte, an den schmutzigen Reden,
den schmutzigen Burschen, deu schmutzigen Karten oder dem stuckenden Branntwein.

Das ist die nackteste Natur, die roheste Wirklichkeit, wie sie drastischer
und gegenständlicher keiner der Modernen schildert, aber Gotthelf, so massen¬
hafte Züge ihm auch zur Verfügung stehen, schwelgt nicht darin, er erzeugt
den charakteristischen Eindruck, und dann hört er auf.

Die Geschichte hat bei ihrem Erscheinen viel Widerspruch erregt, nach
chrer ästhetischen Seite ist sie wohl noch nie gewürdigt worden; heute können
Wir ruhig sogen, Gotthelf hat bewiesen, daß Verhältnisse dieser Art von der
Darstellung nicht auszuschließen sind, daß sie freilich in gedrängter Kürze
anders wirken als in voller Breite. Seine gedrungne Darstellung läßt den
Verdacht, daß es auf Erregung des Wohlgefallens an bedenklichen Dingen


Grenzboten III 1897 41
Jeremias Gotthelf

Bestrebungen, die sie ja auch verraten, mischen sich bei ihm nicht mit geheimen
Lustgefühlen, es ist wieder die soziale Tendenz und nnr die Tendenz, der
Kampf gegen den Branntwein, was den Schweizer Schriftsteller zu seiner rück¬
haltlosen Darstellung treibt. Diese Darstellung hat nicht die Breite, die die
Modernen im allgemeinen lieben, die schauerlichen Züge sind nicht in dem
Maße gehäuft und ausgemalt wie bei ihnen, überall ist nur das Notwendige
gegeben, aber in lapidarer Weise, und gerade das vertieft vielleicht den Eindruck,
wir spüren nicht die abstumpfende Wirkung, die die Häufung von Widerlich¬
keiten übt, das Grausen bleibt bis zum Schluß der Geschichte lebendig. Und
auch insofern ist Gotthelfs Darstellung ergreifender als das meiste von den
„Modernen," als er die Geschichte der fünf Mädchen, von denen jedes ganz
eigentümliche Züge trügt, bei aller Kürze doch durch alle Stufen verfolgt, alles
erklärt, nirgends richtet, weder die moderne Übertreibung, die jede Dirne zum
Typus machen möchte, noch die modernen Sentimentalitäten einführt. Überall
sehen wir unbedingte Naturnotwendigkeit, die wir z. B. in Gerhart Hauptmanns
„Vor Sonnenaufgang" nirgends zu sehen brauchen. Um von diesem Natu¬
ralismus wenigstens eine Probe zu geben, teile ich die nachfolgenden
Stellen mit:

Das zweite Mädchen hieß Elisabeth und war eine dicke, eingesteckte Gestalt,
die man zu einem SauerlabiSstümvfel füglich hätte brauchen können, unbeholfen
und schwammig. Die Arme waren wie Mäßb'stryche (Maßabstreicheylinder) im
Leibe eingesteckt und sahen verblüfft van den Schultern in die Luft hinaus. Das
Gesicht war rotbrächt (von düsterm, unreinem Rot), glich aber einer Pflaume, welche
eine Grttmplerin (Hökerin) zum Fingerle (Betasten) zurechtlegt, damit ihre Kunden
ihr an den andern Pflaumen den Tau nicht abwischen. Die gemeinste Sinnlichkeit
guckte sogar aus den Nasenlöchern, und die Auge» sahen so klebrig an jedem Burschen
auf, als wenn sie wie Harz sich ihm anschmieren wollten.

Neben den Mädchen hatten sich einige Bursche aufgepflanzt, auch die begannen
An rauhen, und die dicke Elisabeth ruhte nicht, bis mich sie Karten hatte und mit¬
spielen konnte. Da lag das Mensch nun über den Tisch herein, dick und geil, und
u>an wußte nicht, woran es größeres Wohlgefallen hatte, an den schmutzigen Reden,
den schmutzigen Burschen, deu schmutzigen Karten oder dem stuckenden Branntwein.

Das ist die nackteste Natur, die roheste Wirklichkeit, wie sie drastischer
und gegenständlicher keiner der Modernen schildert, aber Gotthelf, so massen¬
hafte Züge ihm auch zur Verfügung stehen, schwelgt nicht darin, er erzeugt
den charakteristischen Eindruck, und dann hört er auf.

Die Geschichte hat bei ihrem Erscheinen viel Widerspruch erregt, nach
chrer ästhetischen Seite ist sie wohl noch nie gewürdigt worden; heute können
Wir ruhig sogen, Gotthelf hat bewiesen, daß Verhältnisse dieser Art von der
Darstellung nicht auszuschließen sind, daß sie freilich in gedrängter Kürze
anders wirken als in voller Breite. Seine gedrungne Darstellung läßt den
Verdacht, daß es auf Erregung des Wohlgefallens an bedenklichen Dingen


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[0329] Jeremias Gotthelf Bestrebungen, die sie ja auch verraten, mischen sich bei ihm nicht mit geheimen Lustgefühlen, es ist wieder die soziale Tendenz und nnr die Tendenz, der Kampf gegen den Branntwein, was den Schweizer Schriftsteller zu seiner rück¬ haltlosen Darstellung treibt. Diese Darstellung hat nicht die Breite, die die Modernen im allgemeinen lieben, die schauerlichen Züge sind nicht in dem Maße gehäuft und ausgemalt wie bei ihnen, überall ist nur das Notwendige gegeben, aber in lapidarer Weise, und gerade das vertieft vielleicht den Eindruck, wir spüren nicht die abstumpfende Wirkung, die die Häufung von Widerlich¬ keiten übt, das Grausen bleibt bis zum Schluß der Geschichte lebendig. Und auch insofern ist Gotthelfs Darstellung ergreifender als das meiste von den „Modernen," als er die Geschichte der fünf Mädchen, von denen jedes ganz eigentümliche Züge trügt, bei aller Kürze doch durch alle Stufen verfolgt, alles erklärt, nirgends richtet, weder die moderne Übertreibung, die jede Dirne zum Typus machen möchte, noch die modernen Sentimentalitäten einführt. Überall sehen wir unbedingte Naturnotwendigkeit, die wir z. B. in Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" nirgends zu sehen brauchen. Um von diesem Natu¬ ralismus wenigstens eine Probe zu geben, teile ich die nachfolgenden Stellen mit: Das zweite Mädchen hieß Elisabeth und war eine dicke, eingesteckte Gestalt, die man zu einem SauerlabiSstümvfel füglich hätte brauchen können, unbeholfen und schwammig. Die Arme waren wie Mäßb'stryche (Maßabstreicheylinder) im Leibe eingesteckt und sahen verblüfft van den Schultern in die Luft hinaus. Das Gesicht war rotbrächt (von düsterm, unreinem Rot), glich aber einer Pflaume, welche eine Grttmplerin (Hökerin) zum Fingerle (Betasten) zurechtlegt, damit ihre Kunden ihr an den andern Pflaumen den Tau nicht abwischen. Die gemeinste Sinnlichkeit guckte sogar aus den Nasenlöchern, und die Auge» sahen so klebrig an jedem Burschen auf, als wenn sie wie Harz sich ihm anschmieren wollten. Neben den Mädchen hatten sich einige Bursche aufgepflanzt, auch die begannen An rauhen, und die dicke Elisabeth ruhte nicht, bis mich sie Karten hatte und mit¬ spielen konnte. Da lag das Mensch nun über den Tisch herein, dick und geil, und u>an wußte nicht, woran es größeres Wohlgefallen hatte, an den schmutzigen Reden, den schmutzigen Burschen, deu schmutzigen Karten oder dem stuckenden Branntwein. Das ist die nackteste Natur, die roheste Wirklichkeit, wie sie drastischer und gegenständlicher keiner der Modernen schildert, aber Gotthelf, so massen¬ hafte Züge ihm auch zur Verfügung stehen, schwelgt nicht darin, er erzeugt den charakteristischen Eindruck, und dann hört er auf. Die Geschichte hat bei ihrem Erscheinen viel Widerspruch erregt, nach chrer ästhetischen Seite ist sie wohl noch nie gewürdigt worden; heute können Wir ruhig sogen, Gotthelf hat bewiesen, daß Verhältnisse dieser Art von der Darstellung nicht auszuschließen sind, daß sie freilich in gedrängter Kürze anders wirken als in voller Breite. Seine gedrungne Darstellung läßt den Verdacht, daß es auf Erregung des Wohlgefallens an bedenklichen Dingen Grenzboten III 1897 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/329>, abgerufen am 23.07.2024.