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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

höchst ursprüngliche, daß aber auch da, wo die Schulreformfragen auftauchen, die
damals die Zeit bewegten, das reinmenschliche Interesse nicht oder doch nur
selten in den Hintergrund gedrängt wird. Dafür sorgt schon die Gestalt der
Müdeli, der erste breiter und tiefer ausgeführte weibliche Charakter Gotthelfs,
der sofort seine ungewöhnliche Kenntnis der Frauennatur zeigt. Man kann
ihn hier ohne weiteres mit seinem jüngern Landsmann Gottfried Keller ver¬
gleichen, der ja auch als Meister auf dem Gebiete der Frauenschilderung gilt;
ich glaube kaum, daß Gotthelfs gelungne Frauengestalten denen Kellers an
Zahl, Reiz und Mannichfaltigkeit nachstehen. Es ist wohl eine gemeinschafliche
Ursache anzunehmen, warum den beiden Schweizern die Frauen so gelingen,
und ich finde sie eben in ihrem Schweizertum: weil die Münuer so nüchtern
und berechnend sind, flüchtet sich alles, was Gemüt und Poesie ist, zu den
Frauen (deren Grundzug freilich dennoch eine heitere Verständigkeit bleibt),
und die Dichter empfinden das natürlich und halten es für ihre Aufgabe, es
in ihren Darstellungen stark hervortreten zu lassen.

Die "Leiden und Freuden eines Schulmeisters" wurden nicht so freundlich
aufgenommen wie der "Bauernspiegel," was wohl am Stoff lag, doch machten
sie Gotthelf zuerst in Norddeutschland bekannt, wo vielfach ähnliche Schul-
verhältnisse herrschten wie in der Schweiz. Heute wirkt das Buch namentlich
auch als kulturgeschichtliches Werk, jeder Geschichtschreiber kann ihm ruhig
den Stoff zu einer Charakteristik der Schule der guten alten Zeit entnehmen.
Trotz dieser berufsmüßigen Einzelheiten -- die wieder sehr reich an ewig
giltiger pädagogischer Weisheit sind -- ist der "Schulmeister" aber auch heute
noch menschlich durchweg lebendig, ein Beweis, daß der naturalistische Roman,
wenn er nur wahrhaft gegenständlich gehalten ist, nicht viel früher veraltet
als der idealistische. Ein wenig Anstrengung wird es den Durchschnittsleser
immerhin kosten, sein Interesse die ganzen zwei Bünde hindurch gleichmüßig
aufrecht zu erhalten, aber sicher lange nicht so viel, als etwa beim Lesen gleich¬
zeitiger Werke von Gutzkow oder Laube. Das ist freilich nicht das Verdienst
der naturalistischen Weise Gotthelfs, sondern seines größern Talents.

Dem Naturalismus im modernen Sinne, dem "grellen" Naturalismus,
der eine Vorliebe für verkommne Menschen, sür trostlose, ja grauenhafte Ver¬
hältnisse hat, kommt unter Gotthelfs Werken die kleinere Erzählung "Wie fünf
Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen" (1839) am nächsten; hier ist
man in der That in der Region des Zolaschen "Asfommoir," ja ich möchte
sagen, daß kaum irgend etwas bei Zola von so schrecklicher Wirkung ist wie
diese Gotthelfsche Branntweingeschichte; selbst Tolstois "Macht der Finsternis"
und Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" scheinen mir dahinter zurück¬
zubleiben. Aber so nahe hier auch Gotthelf dem modernen Naturalismus
kommt, er hat doch nicht die krankhafte Neigung, Schauergeschichten aus dem
wirklichen Leben zu erzählen, die unsre Modernen auszeichnet, die lobenswerten


Jeremias Gotthelf

höchst ursprüngliche, daß aber auch da, wo die Schulreformfragen auftauchen, die
damals die Zeit bewegten, das reinmenschliche Interesse nicht oder doch nur
selten in den Hintergrund gedrängt wird. Dafür sorgt schon die Gestalt der
Müdeli, der erste breiter und tiefer ausgeführte weibliche Charakter Gotthelfs,
der sofort seine ungewöhnliche Kenntnis der Frauennatur zeigt. Man kann
ihn hier ohne weiteres mit seinem jüngern Landsmann Gottfried Keller ver¬
gleichen, der ja auch als Meister auf dem Gebiete der Frauenschilderung gilt;
ich glaube kaum, daß Gotthelfs gelungne Frauengestalten denen Kellers an
Zahl, Reiz und Mannichfaltigkeit nachstehen. Es ist wohl eine gemeinschafliche
Ursache anzunehmen, warum den beiden Schweizern die Frauen so gelingen,
und ich finde sie eben in ihrem Schweizertum: weil die Münuer so nüchtern
und berechnend sind, flüchtet sich alles, was Gemüt und Poesie ist, zu den
Frauen (deren Grundzug freilich dennoch eine heitere Verständigkeit bleibt),
und die Dichter empfinden das natürlich und halten es für ihre Aufgabe, es
in ihren Darstellungen stark hervortreten zu lassen.

Die „Leiden und Freuden eines Schulmeisters" wurden nicht so freundlich
aufgenommen wie der „Bauernspiegel," was wohl am Stoff lag, doch machten
sie Gotthelf zuerst in Norddeutschland bekannt, wo vielfach ähnliche Schul-
verhältnisse herrschten wie in der Schweiz. Heute wirkt das Buch namentlich
auch als kulturgeschichtliches Werk, jeder Geschichtschreiber kann ihm ruhig
den Stoff zu einer Charakteristik der Schule der guten alten Zeit entnehmen.
Trotz dieser berufsmüßigen Einzelheiten — die wieder sehr reich an ewig
giltiger pädagogischer Weisheit sind — ist der „Schulmeister" aber auch heute
noch menschlich durchweg lebendig, ein Beweis, daß der naturalistische Roman,
wenn er nur wahrhaft gegenständlich gehalten ist, nicht viel früher veraltet
als der idealistische. Ein wenig Anstrengung wird es den Durchschnittsleser
immerhin kosten, sein Interesse die ganzen zwei Bünde hindurch gleichmüßig
aufrecht zu erhalten, aber sicher lange nicht so viel, als etwa beim Lesen gleich¬
zeitiger Werke von Gutzkow oder Laube. Das ist freilich nicht das Verdienst
der naturalistischen Weise Gotthelfs, sondern seines größern Talents.

Dem Naturalismus im modernen Sinne, dem „grellen" Naturalismus,
der eine Vorliebe für verkommne Menschen, sür trostlose, ja grauenhafte Ver¬
hältnisse hat, kommt unter Gotthelfs Werken die kleinere Erzählung „Wie fünf
Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen" (1839) am nächsten; hier ist
man in der That in der Region des Zolaschen „Asfommoir," ja ich möchte
sagen, daß kaum irgend etwas bei Zola von so schrecklicher Wirkung ist wie
diese Gotthelfsche Branntweingeschichte; selbst Tolstois „Macht der Finsternis"
und Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" scheinen mir dahinter zurück¬
zubleiben. Aber so nahe hier auch Gotthelf dem modernen Naturalismus
kommt, er hat doch nicht die krankhafte Neigung, Schauergeschichten aus dem
wirklichen Leben zu erzählen, die unsre Modernen auszeichnet, die lobenswerten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/328>, abgerufen am 03.07.2024.